Ingrid J. Parker hat viele Jahre an verschiedenen Universitäten Literatur unterrichtet, u. a. an der Norfolk State University in Virginia. Für eine ihrer Short Stories um Akitada, den Helden der vorliegenden Serie, erhielt sie 2000 den Shamus Award. Bei Aufbau Digital verfügbar sind die drei Romane »Tod am Rashomon Tor«, »Der Prinz von Sadoshima« und »Der Schatzmeister des Tenno« um den im Japan des 11. Jahrhunderts ermittelnden Justizbeamten Sugawara Akitada vor.
Irmhild und Otto Brandstädter, Jahrgang 1933 bzw. 1927, haben Anglistik an der Humboldt-Universität zu Berlin studiert, waren im Sprachunterricht bzw. im Verlagswesen und kulturpolitischen Bereich tätig. Sie übertrugen Werke von Sean O’Casey, Jack London, John Hersey, Masuji Ibuse, Louisa May Alcott, Charles M. Doughty, John Keane, Joseph Caldwell sowie Historio-Krimis von Amy Myers, Ingrid Parker und Peter Tremayne ins Deutsche.
Ein neuer Fall für Akitada.
Japan im 11. Jahrhundert: Als Sugawara Akitada nach Jahren wieder in die Hauptstadt zurückkehrt, findet er vieles nicht so vor, wie er es sich wünschen würde: Seine Mutter liegt im Sterben, das elterliche Anwesen ist heruntergekommen, seine Familie ist noch nicht eingetroffen. Auch sein Schwager, der Schatzmeister des Tenno, steckt in großen Schwierigkeiten: Man wirft ihm Unterschlagungen vor.
Außerdem ist in dem Kloster, in dem er wegen des schlechten Wetters vor seiner Ankunft in Kyoto übernachtet hat, eine junge Frau grausam ermordet worden. Bald hat Akitada ganz persönliche Gründe, den Mörder zu suchen.
In ihrer erfolgreichen Serie um Akitada, Jurist und ehemaliger Gouverneur einer Nordprovinz, schildert Ingrid J. Parker auf faszinierende Weise das Leben in Heian-Kyo, dem heutigen Kyoto.
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Der Schatzmeister des Tenno
Kriminalroman
Aus dem Amerikanischen von Irmhild und Otto Brandstädter
Inhaltsübersicht
Über Ingrid J. Parker
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Verzeichnis der handelnden Personen
Prolog
Kapitel 1: Der Bergtempel
Kapitel 2: Verwehte Blätter
Kapitel 3: Sorgen und Nöte
Kapitel 4: Ein gesichtsloses Opfer
Kapitel 5: Der Torbogen am Schrein
Kapitel 6: Gemalte Blumen
Kapitel 7: Die Bambus-Klause
Kapitel 8: Tempelgeläut
Kapitel 9: Familienangelegenheiten
Kapitel 10: Der Weg durch die Finsternis
Kapitel 11: Pflaumenblüte
Kapitel 12: Der Gefangene
Kapitel 13: Schauspieler und Akrobaten
Kapitel 14: Bitterer Nachgeschmack
Kapitel 15: Leer gefegt
Kapitel 16: Yin und Yang
Kapitel 17: Die vertauschten Stiefel
Kapitel 18: Zwei Professoren
Kapitel 19: Der Tempel der unerschöpflichen Gnade
Kapitel 20: Eisige Höllenqualen
Kapitel 21: Die wundersam heile Flöte
Kapitel 22: Der Tanz des Dämons
Kapitel 23: Die zweifache Wahrheit
Epilog
Historische Anmerkung
Impressum
(Japanische Familiennamen stehen vor den Vornamen)
DER HELD UND SEIN HAUSHALT
Sugawara Akitada Adliger aus dem 11. Jahrhundert, von einem Regierungsauftrag zurückgekehrt
Tamako Seine Ehefrau
Yorinaga (Yori) Sein kleiner Sohn
Fürstin Sugawara Seine verwitwete Mutter
Akiko Akitadas ältere Schwester, verheiratet mit Toshikage
Toshikage Schatzmeister in der Kunstkammer des Kaisers
Takenori Sein älterer Sohn und Sekretär
Tadamine Sein jüngerer Sohn, Hauptmann im Heeresdienst
Yoshiko Akitadas jüngere Schwester, unverheiratet
Tora Akitadas Gefolgsmann, ehemals Soldat
Genba Akitadas Gefolgsmann, ehemals Sumo-Ringer
Seimei Akitadas betagter Sekretär
Saburo Alter Diener aus Tamakos Familie
IN DEN MORDFÄLLEN VORKOMMENDE PERSONEN
Nagaoka Antiquitätenhändler
Nobuko Seine Ehefrau
Kojiro Sein jüngerer Bruder, Landwirt
Uemon Prinzipal einer Schauspieltruppe
Kobe Amtsrat der Stadtwache
Dr. Masayoshi Leichenbeschauer
Abt Genshin Oberhaupt des Bergtempels der Morgenröte
Eikan und Ancho Zwei Mönche
Noami Maler des Höllenschirms
Yasaburo Professor im Ruhestand, Schwiegervater Nagaokas
Harada Yasaburos betrunkener Buchhalter, ehemals Mathematik-Professor
Danjuro Schauspieler in Uemons Truppe
Gold Akrobatin
Pflaumenblüte Besitzerin einer Übungshalle
Yukiyo Ihr Dienstmädchen
Hayata Ortsteilvorsteher
Das Schnarchen hinter ihr war in unverständliches Gestammel übergegangen. Beunruhigt wandte sie den Kopf. Doch es war nichts weiter, das waren lediglich Geräusche, die ein besinnungslos Betrunkener von sich gab. Sie lauschte, ob etwas von draußen, von dem dunklen, regennassen Hof zu hören war. Nein, und das Schnarchen wurde auch schon wieder regelmäßiger. Was waren doch Männer für schwachsinnige Geschöpfe!
Genügend Zeit war inzwischen vergangen. Es mußte längst geschehen sein. Sie fröstelte und zog sich das Seidengewand enger um die Schultern.
Als sie vor einer Weile in diesen Raum gekommen war – einen Ort, in dem Generationen von Pilgern gebetet und geruht hatten –, hatten sie die Sprüche auf den Wänden erheitert, Kritzeleien von frommen Gästen. Einer war mit einer Zeichnung verziert worden; sie stellte einen sitzenden Buddha dar und den Richter der Toten, König Emma-o. Den lächelnden Buddha umgaben beseelte und betende Gestalten, doch vor dem finster blickenden König spießte ein schauriger Dämon schreiende Menschen auf und stieß sie in einen Kessel mit kochendem Sud, unter dem Feuer loderte. Der unbekannte Künstler hatte ganze Arbeit geleistet und die Szene grausig echt geschildert. Die Inschrift besagte: »Erlöse mich, Amida, von der Begierde! Rette mich aus der ewig währenden Qual!«
Begierde war ihr nicht fremd, doch zum Glück war sie nicht abergläubisch. Für fromme Narreteien hatte sie nichts übrig.
Reglos stand sie da und lauschte noch angespannter. War da nicht eben eine Tür zugefallen? Gerade jetzt war die Gefahr am größten. Eine achtlose Bewegung der Person, auf die sie wartete, irgendein Gast, der seine Notdurft verrichten wollte, oder ein Mönch, der sich noch vor Tagesanbruch Bußübungen auferlegte, und schon wäre alles verloren. Aber auf dem Hof unter den Bäumen blieb es still. Seltsam, nicht einmal die Rufe von Nachtvögeln drangen hierher, keine Geräusche von Fuchs oder Dachs. Vielleicht hatte der Regen ihnen die Jagdlust verdorben.
Da! Diesmal war sie sich ihrer Sache sicher. Schritte auf dem leise knirschenden Kies, ganz in der Nähe. Sie zog die Tür fast ganz zu und spähte durch den engen Spalt.
Der schwächliche Schein der Laterne am Ende des Laubenganges wurde einen Moment lang verdeckt. Irgendeine große Gestalt war daran vorbeigegangen. Das lose Brett auf den Verandastufen knarrte.
Das Herz schlug ihr bis zum Hals, leise fragte sie: »Ist da wer?«
Ein Grunzen. »Ich bin’s. Laß mich rein. Mach schon!«
Sie sprang hoch und riß die Tür auf.
Ein Mann in einer Mönchskutte betrat den Raum. Er hatte sich eine schwere Last aufgebürdet. Sie schloß die Tür hinter ihm und schob den Riegel vor. So im Dunkeln wirkte sein keuchender Atem wie ein Kontrapunkt zum Schnarchen des Schlafenden. Sie tastete nach der Kerze und zündete sie an.
In dem flackernden Licht wurde die einfache Einrichtung der Kammer sichtbar, auch die gebeugte Gestalt des Besuchers war deutlicher zu erkennen. Er warf seine Last von der Schulter. Dumpf schlug sie auf dem Boden auf wie alle toten Gegenstände. Das Mädchen lag auf dem Rücken, ihre Augen starrten ins Leere, und zwischen den geschwollenen Lippen trat leicht die Zunge vor. Um ihren Hals war ein Hanfseil geknotet.
Der Mann setzte sich plötzlich nieder und vergrub das Gesicht in den Händen.
»Hast dir ja reichlich Zeit gelassen«, sagte die Frau gereizt, wandte ihm dann den Rücken zu und begann sich auszuziehen. »Hat sie dir Schwierigkeiten gemacht?« wollte sie wissen.
Er murmelte etwas Unverständliches, stierte sie an und deutete zum Schlafenden. »Was ist mit ihm? Was, wenn er aufwacht?«
»Das passiert nicht. Der hat nie viel vertragen, vor morgen früh wacht der nicht auf. Und dann ist es viel zu spät.« Sie kicherte, ließ ihr Unterkleid fallen und beugte sich über das tote Mädchen. Er verschlang ihren nackten Leib mit lüsternen Augen.
»Hier! Halt sie mal hoch!« Er reagierte nicht gleich, und sie zischte ungeduldig: »Warum seid ihr Männer einfach zu nichts zu gebrauchen?«
Gehorsam stand er auf, wandte den Blick von ihren Brüsten und ihrer Scham. »Mir wäre lieber, du ziehst was an!« murmelte er.
»Wieso?« Sie schaute auf und strahlte ihn an. »Mach ich gleich, mein prächtiger Hengst.«
Mit zitternden Händen half er ihr, und als sie fertig waren, schmiegte sie sich leidenschaftlich an ihn, zerrte ihn auf den Boden, bemächtigte sich seines Körpers mit all ihrem drängenden Verlangen und brachte beide keuchend zum Orgasmus. Als sie sich danach voneinander lösten, stand sie auf, kleidete sich an und verzog angeekelt den Mund. Er dagegen wandte ihr barsch den Rücken zu und fuhr sich mit der Hand verstört über die Stirn.
»Was hast du denn nun schon wieder? Los, komm! Wir haben’s fast geschafft. Mach jetzt bloß nicht schlapp! Du weißt, was hier noch vonnöten ist.« Sie ging zu einem Reisekorb und griff das Schwert, das obenauf lag.
»Ich kann’s nicht«, brachte er mühsam hervor; sein hübsches Gesicht verzerrte sich vor Angst. »Ich kann sie nicht ansehen. Mach du das!«
»Hab dich nicht so. Die spürt doch sowieso nichts mehr. Ein Mann von deiner Sorte wird wohl nicht davor zurückschrecken, ein Schwert zu gebrauchen.« Sie zog es aus der Scheide und hielt es ihm hin.
Ihn überlief es kalt. »Wir hätten es nicht hier tun dürfen. Den Geistern wird das mißfallen.«
Feigling, dachte sie, und fluchte unhörbar. Entschlossen drehte sie sich um und fuhr mit der scharfen Klinge über die Kehle der Toten. Tief drang die Waffe ein, trennte beinahe den Kopf vom Rumpf, aber Blut floß kaum. Mit sanfter Stimme redete sie ihm zu: »Bitte, steh auf!«
Sobald er sich erhoben hatte, trat sie mit dem blutbefleckten Schwert in der Hand vor ihn hin und schaute eindringlich zu ihm auf. Sie wußte, ihrem Blick konnte er nicht widerstehen. »Komm, mein Herz! Den Anfang habe ich gemacht. Du mußt den Rest erledigen, du bist stark und kräftig. Bloß noch dieses letzte bißchen, dann können wir die Vergangenheit hinter uns lassen und wie die Fürsten leben bis ans Ende unserer Tage.«
Unschlüssig wanderten seine Augen hin und her, dann nickte er. Sie drückte ihm den Schwertgriff in die schlaffe rechte Hand und stieß ihn sanft voran. Er ging die wenigen Schritte bis zur Leiche, hob die Klinge hoch und ließ sie niedersausen. Der glänzende Stahl blitzte im Kerzenlicht. Wie ein Besessener schlug er immer wieder zu, bis das Schwert dunkel vor Blut und das Gesicht des Mädchens völlig entstellt war.
Sie gebot ihm Einhalt, trug das bluttriefende Schwert zu dem Schlafenden, wischte die Klinge an seinen Kleidern ab und schob ihm den Griff in die Hand. »Das wär’s«, sagte sie und nickte. »Sieht gut aus! Jetzt aber schnell zurück in deine Zelle! Wenn der Morgen graut, komme ich zu dir.«
Er mußte heftig schlucken, während er noch wie gebannt auf den Kopf des Mädchens starrte, den er so gräßlich verunstaltet hatte.
Vorsichtig öffnete sie die Tür, lauschte und winkte ihm.
Als er draußen war, schaute sie sich noch einmal in der Kammer um, schob mit dem Fuß den blutigen Kopf ein wenig näher an den Leichnam und blies die Kerze aus. Sie huschte zur Tür, hob die Klinke, horchte und schlüpfte hinaus.
Die feuchte, kühle Nacht umfing sie. Ihre Nasenflügel bebten noch vor innerlicher Erregung. Es war vollbracht! Sie war frei. Sie zog die Tür hinter sich zu, vergewisserte sich, ob sie wirklich zu war, stellte fest, daß sie nicht richtig geschlossen war, und zog sie kräftiger an. Jetzt schnappte der Riegel mit einem Klick ein.
Einen Augenblick blieb sie grübelnd stehen. Das Licht von weiter hinten fiel auf ihre ebenmäßigen Züge, die feuchten Lippen lächelten, doch die Augen funkelten hart und hell – die Berglöwin kehrte von einem nächtlichen Beutezug zurück, ihr Blutdurst war gestillt, doch jeder ihrer Sinne blieb gespannt und witterte die Gefahr. Rasch und geschmeidig glitt sie in die Schatten.
Schweigen hing über den ins Dunkel der Nacht gehüllten Dächern; dann rief von einem der entfernteren Höfe die Tempelglocke mit hohem, klarem Ton zum Morgengebet.
Der Weg war steinig, und die Hufe des Pferdes rutschten auf den nassen Felsplatten. Der Regen hing wie eine graue Wand in der Luft. In einer tief eingeschnittenen Rinne hatte sich ein kleiner, lehmiger Wasserfall gebildet, der spritzend und gurgelnd bergab schoß. Zwischen den sich herabbiegenden Zweigen riesiger Zedern schwebten Nebelfetzen wie gewaltige mit Brillanten besetzte Spinnweben.
Der großgewachsene Reiter saß vornüber gebeugt, sein breiter Schilfhut berührte den Umhang aus Reisstroh, mit dem er sich vor der Nässe schützte. An einer Wegbiegung richtete er sich auf und blickte angestrengt umher. Da, endlich! Das geschwungene Dach mit den blauen Ziegeln und die rotlackierten Säulen des Haupttors lagen zum Greifen nahe vor ihm. Hinter den verputzten Mauern erhob sich eine schlanke, fünfstöckige Pagode, und im Grau des Nebels und des Regens verschwammen die vielen Dächer der Tempelhallen und der Nebengebäude des Klosters.
Das ermüdete Roß roch den Stall und schüttelte die Mähne, daß ein Schauer von Wassertropfen umherflog. Sein Reiter war Sugawara Akitada, der aus einer der weit entfernten Nordprovinzen in die Hauptstadt zurückkehrte. Akitada war noch jung, etwa Mitte dreißig, und von kräftiger Statur. Doch tagelange harte Ritte hatten ihn erschöpft, und die heutige Tour über die Berge hatte ihn bei dem stetigen kalten Regen besonders angestrengt. Dazu wurde es früh dunkel, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als die Gastfreundschaft des Tempels in Anspruch zu nehmen: eine einfache Schlafkammer, ein heißes Bad und ein vegetarisches Abendessen.
Zwei andere Reisende hatten vor ihm das Tor erreicht. Der Mann war bereits abgestiegen und half fürsorglich einer Dame von ihrem Pferd. Beide trugen Regenumhänge ähnlich wie Akitada, nur war der breitkrempige Hut der Dame von einem dichten Schleier überdeckt, der vor Nässe triefte. Ungeduldig zupfte sie an ihm herum, während sie die Stufen zum Portal hinaufstieg, den reichbestickten Saum ihres Gewandes aber ließ sie achtlos hinter sich im Schmutz schleifen. Gerade als Akitada anhielt und absteigen wollte, schlug ihr Begleiter die Bronzeglocke am Tor an. Der reine, metallische Klang durchdrang das sanfte Geplätscher des Regens. Sofort öffnete sich das Tor, und ein ältlicher Mönch trat heraus und blickte verunsichert von dem Paar zu dem Reiter hinter ihnen.
Der Begleiter der Frau, der nicht bemerkt hatte, daß Akitada hinter ihm stand, erklärte: »Wir sind unterwegs nach Otsu, können aber heute nicht weiterreisen. Würdet Ihr uns beherbergen?«
Der Mönch zögerte. »Gehört der Herr dort auch zu Euch?«
Überrascht drehten sich beide nach Akitada um, der sie ruhig anschaute. Obwohl er das Gesicht der Fremden hinter ihrer nassen Verschleierung nicht sehen konnte, schloß er aus der Art ihrer Bewegungen und der geübten Grazie, daß sie jung war. Der Mann, vermutlich Ende zwanzig, war von untersetzter, wohlproportionierter Statur. Er hatte Reisekleidung aus gutem Tuch an und trug wie Akitada ein Schwert in seinem Gürtel. War also wohl ein Edelmann, gehörte gewiß zur Klasse der Wohlhabenden. Seine Gesichtszüge waren nicht eben hübsch, wirkten aber offen und freundlich. Er verbeugte sich höflich vor Akitada und sagte dann zu dem Mönch: »O nein. Es geht nur um uns beide. Der Herr ist meiner Schwägerin und mir nicht bekannt.«
Die Frau war ungeduldig, ein makellos weißer Arm schob sich aus dem Regenumhang, und sie wedelte heftig mit der Hand; ihr Gefährte sollte sich beeilen. Mehrere Schichten dünner Seide in Schattierungen von Rostrot bis Lavendel kamen unter dem cremefarbenen Ärmel ihres Satingewandes zum Vorschein. Die Stickerei auf Ärmel und Saum stellte Herbstblätter und Chrysanthemen dar.
Eine von den Reichen, dachte Akitada, während er sein Pferd neben den Reittieren der anderen Gäste anband und dabei nicht umhin konnte, das kostbare Sattelzeug zur Kenntnis zu nehmen. Mit einer tiefen Verbeugung bekundete er seine Ehrerbietung und hoffte, sie würde den Schleier hochschlagen, und er würde ihr Antlitz sehen. Doch sie enttäuschte ihn, drehte sich brüsk um und wandte ihm den Rücken zu. »Bitte, bringt zunächst Eure Gäste unter«, empfahl er dem Mönch. »Ich kann durchaus warten.«
Die Dame überhörte Akitadas höfliche Worte, doch ihr Begleiter deutete seinen Dank mit einer Verneigung an. »Habt Ihr heute nacht viele Gäste?« erkundigte sich die Reisende und ließ ihren nassen Umhang von den Schultern gleiten, damit der junge Mann ihn aufhob.
»Das kann man wohl sagen«, erwiderte der Mönch.
»Und was für Leute sind das?«
»Oh, meist einfache Leute«, erklärte der Alte, wandte sich um und schlurfte barfuß auf den langen, überdachten Gang zur Rechten zu. Sie folgten ihm, und Akitada stellte sich unter das Tor und schaute ihnen nach.
»Einfache Leute?« fragte sie und hob die Stimme ein wenig. »Was meint Ihr damit?«
»Die meisten sind Pilger. Und dann ist da noch eine Truppe Schauspieler. Die haben bugaku-Tänze für die Beweohner aus der Umgebung hier aufgeführt. Aber keine Sorge, die sind woanders untergebracht.«
Offensichtlich stellte sie weitere Fragen, doch Akitada konnte nicht länger verstehen, worüber geredet wurde. Er befreite sich von seinem nassen Umhang und nahm den Schilfhut ab. Die Befürchtung der Verschleierten, unter Umständen mit gewöhnlichem Volk in Berührung zu kommen, amüsierte Akitada. Wehmütig gestand er sich ein, daß sie offenbar auch gegen ihn eine Abneigung hegte, wie er in einfacher Regenbekleidung und mit einem Mietpferd dagestanden hatte. Daß er unter dem Strohzeug einen streng geschnittenen braunen Jagdrock über rehfarbenen Seidenhosen trug, deren Beine in den Lederschäften der Reitstiefel steckten, konnte sie ja nicht wissen. In den breiten Ledergürtel hatte er ein Langschwert geschoben. Das schmale, sonnengebräunte Gesicht mit den dichten Augenbrauen hätte einem Gelehrten oder Krieger gut angestanden, doch er selbst fand, seine Züge seien einfach und gewöhnlich. Auch war er der Ansicht, daß sein gerader Rücken, die schmalen Hüften und breiten Schultern geschmeidiger und muskulöser sein müßten.
Er legte seine Regensachen auf die Balustrade und ließ den Blick über den weiten Hof hinüber zur großen Tempelhalle schweifen. Sogleich kamen ihm Erinnerungen aus Kindheitstagen. Er hatte einst mit seiner herrischen Mutter und den beiden jüngeren Schwestern nebst Kindermädchen und Dienern diese Klosteranlagen besucht. Das war lange her. Was würde er jetzt daheim vorfinden? Ob seine Mutter noch lebte? Vor zwei Wochen hatte ihn die Nachricht erreicht, daß sie schwerkrank sei. Obwohl Akitada mit seiner Familie bereits auf der Heimreise aus dem Norden war, hatte er sich verpflichtet gefühlt, vorauszureiten. Seine Frau sollte mit dem Sohn und den Bediensteten auf den langsameren Gepäckwagen nachkommen.
Jetzt war er nur noch einen kurzen Tagesritt von der Hauptstadt entfernt. Während er fort war, hatte Akiko, die ältere seiner beiden Schwestern, einen Beamten geheiratet und war zu ihm gezogen, doch Yoshiko saß immer noch zu Hause. Er versuchte sich vorzustellen, wie es seiner erkrankten Mutter ging; ihre Härte und Stärke waren dahin, doch die Bitterkeit war ihr geblieben. Bedrückt seufzte er.
An den Ketten, die von den monströsen Schnauzen der Wasserspeier über ihm herabhingen, lief unaufhörlich der Regen ab und plätscherte laut in die mit Kieselsteinen gefüllten Tröge. Die Spitze der Pagode jenseits des Vorplatzes verschwand in den Wolken. Der Duft von Kiefern mischte sich mit dem süßlichen Geruch von nassem Stroh und Schilf. Wenn es nicht die ganze Zeit so erbarmungslos geregnet hätte, wäre er schneller vorangekommen und noch heute abend zu Hause angelangt. Doch er und sein Pferd waren am Ende ihrer Kräfte, denn Stunde um Stunde hatten sie sich durch tiefen Schlamm und reißende Gießbäche kämpfen müssen.
Der Torhüter erschien wieder, seine Sohlen schlurften über die glatten Dielen der Galerie. »Entschuldigt, Herr, daß ich Euch warten ließ«, sagte er und schaute auf Akitadas Kleidung und Schwert. »Kommt Euer Ehren zum Gebet oder zur Übernachtung?«
»Ich fürchte, nur zur Übernachtung.« Akitada zog eine Besuchskarte hervor und reichte sie dem Mönch. Der hielt sie sich dicht vor die Augen und verneigte sich tief.
»Welch große Ehre für uns, mein Fürst«, erwiderte er. »Darf ich Euch zu unserem Abt geleiten?«
Akitada unterdrückte ein Stöhnen. Er war todmüde und keineswegs in der Stimmung, sich bei Obstsaft in höflichen Redensarten zu ergehen. Doch für einen Mann seines Ranges war ein solcher Anstandsbesuch unumgänglich.
Diesmal wandte sich der Mönch nach links zu den Innenhöfen des Tempels und des Klosters. Nach endlosen Laubengängen und Korridoren blieb er vor einer schmucklosen Tür aus prächtig poliertem Holz stehen. Ein Klosterschüler, ein Junge von zehn oder elf Jahren, öffnete ihnen. In dem Raum saß ein sehr alter Mann auf einem niedrigen Podest.
»Seine Ehrwürden Genshin«, murmelte der Mönch.
Genshin wirkte gebrechlich, war nichts als Haut und Knochen. Wie vergilbtes Papier spannte sich die Haut über den kahlen Schädel. Der Abt trug ein dunkles Seidengewand und eine prachtvolle Stola aus bunten Brokatstreifen. Langsam ließ er eine Kette aus Bernsteinperlen durch die Finger gleiten, die dünn wie die Krallen eines Vogels waren. Die Augen mit den fast durchsichtigen Lidern hielt er geschlossen, und die dünnen, geschürzten Lippen bewegten sich lautlos.
»Ehrwürden?« flüsterte der Torhüter. »Fürst Sugawara wünscht, Euch seine Aufwartung zu machen.«
Eine Perle bewegte sich, während sie warteten, dann noch eine. Schließlich hoben sich die dünnen Lider, und matte Augen schauten Akitada an. »Sugawara no Michizane?« Genshins Stimme klang wie das Rascheln trockener Blätter.
Michizane, der seit langem tot und doch nicht vergessen war? »Nein, Euer Ehrwürden«, erwiderte Akitada, trat vor und verneigte sich ehrerbietig. »Mit meinem berühmten Vorfahren habe ich leider nur wenig gemein. Ich heiße Akitada und war bis vor kurzem Gouverneur von Echigo.« Er sagte das mit einer seltsamen Mischung aus Stolz und Bescheidenheit. Es hatte sich erwiesen, daß die Versetzung nach Echigo eher einer Bestrafung gleichkam, und nur er wußte, wie hart er sich seine Erfolge dort hatte erkämpfen müssen.
Verwirrt schüttelte der Abt den Kopf. »Gouverneur? Ich dachte …« Seine Stimme verlor sich, und die Lider schlossen sich wieder.
Allem Anschein nach gestaltete sich der Höflichkeitsbesuch schwieriger, als Akitada angenommen hatte. Er suchte nach Worten, um wenigstens den Anschein eines Gesprächs mit dem Greis zu wahren. »Man hat mich in die Hauptstadt zurückberufen. Vor ein paar Jahren war ich im Ministerium der Justiz in einer weniger exponierten Stellung tätig.«
Die Lider hoben sich nur wenig. »Justiz?« Genshin schürzte nachdenklich die Lippen. »Ja. Justiz. Warum nicht? Eine durchaus angemessene Wahl. Bitte, setzt Euch, Akitada. Ich freue mich, daß Ihr mich besuchen kommt.«
Akitada ließ sich seine Verwunderung nicht anmerken und nahm Platz. Dabei überlegte er, wie er dem altersschwachen Geistlichen deutlich machen sollte, daß ihn nur das gegenwärtige Unwetter in diesen buddhistischen Tempel getrieben hatte. »Ich möchte hier nur für kurze Zeit Ruhe finden, Ehrwürden, um meine Gedanken zu ordnen und meinen Geist zu beleben.« Das kam der Wahrheit ziemlich nahe.
»Ah! Natürlich.« Der Abt nickte eifrig. »Merkt Euch meine Worte: Wer die Wahrheit des Gesetzes sucht, wird sie in den Bergwäldern finden. Denkt stets daran, was in der Welt der Menschen Wirklichkeit zu sein scheint, ist nichts als ein Trugbild und eine Täuschung der Sinne. Auch das Gegenteil mag wahr sein. Mein Sohn, ziehe hin in Frieden!« Er nickte Akitada aufmunternd zu, hob zum Abschied die Hand, schloß wieder die Augen und setzte seine Gebete fort.
Unsicher sah sich Akitada nach dem Torhüter um. Den schien das kaum faßbare Benehmen seines Meisters nicht im mindesten zu beunruhigen.
»Wenn Ihr mir folgen wolltet, mein Fürst«, flüsterte der Mann, »führe ich Euch zu Eurer Unterkunft.« Akitada war froh, daß der Besuch vorbei war, doch unvermutet befahl der Abt: »Zeige ihm den Höllen-Wandschirm!«
Der Mönch ging mit Akitada hinaus. Dem paßte es ganz und gar nicht, sich nun noch einen bemalten Wandschirm ansehen zu müssen, bevor er sich zurückziehen durfte.
Es war schon reichlich spät, und bei dem bedeckten Himmel war das Licht spärlich. Sie gingen durch ein Labyrinth von dunklen, ruhigen Korridoren, tauchten hin und wieder ins trübe Licht der überdachten Laubengänge. Akitada konnte kurze Blicke auf nasse, mit Kieselsteinen ausgelegte Höfe werfen und hörte das Rauschen des Regens, bevor er erneut ins schweigende Dunkel einer weiteren Halle oder eines Korridors geriet.
So kam ihm jeder Richtungssinn abhanden, und er folgte seinem Führer fast wie im Schlaf. Doch als sie dann um eine Ecke bogen, stand er mit einem Mal vor einer unheimlichen Gestalt. Aus ihren hervorquellenden Augen schienen Blitze zu schießen, und die Lippen, von denen Geifer tropfte, gaben scharfe Reißzähne frei. Akitada erkannte eine erhobene Waffe, schreckte zurück und griff mit der Hand nach dem eigenen Schwert. Dann erst begriff er, daß er die lebensgroße Statue eines Tempelwächters in aufwendig verzierter Rüstung vor sich hatte, die drohend ein flammendes Schwert über dem Kopf schwang. Die im Luftzug flackernde Öllampe hatte die meisterlich geschnitzte Figur für einen Augenblick lebendig erscheinen lassen.
Im Raum hinter der Statue sah man Wandborde voller Gegenstände, die bei buddhistischen Zeremonien Verwendung fanden: Vergoldete Bronzeglocken, Donnerkeile, Zepter und Räder der Lehre, dazu Gongs und Gedenktafeln verschiedenster Größe auf Ständern und Schalen.
»Es wird dunkel«, bemerkte sein Führer, nahm eine durchbrochene Bronzelaterne und zündete die Kerze darin mit einem Öllämpchen an.
Sie setzten ihre Wanderung fort. Die Flamme in der Laterne flackerte und warf durch die Muster im Gehäuse die Umrisse riesiger herabstoßender Vögel und windgepeitschter Äste auf die Wände und an die Decke. Die Schlagschatten ließen Säulen wie schwankende Baumstämme wirken und Türöffnungen wie Höhleneingänge. Akitada hatte das Gefühl, er bewege sich in einer anderen Welt. Dabei trugen ihn die Füße kaum noch, so müde und verwirrt war er. Der lange Ritt bergauf und die seltsamen Eindrücke dieses Tempels hatten ihn arg mitgenommen. Er schüttelte den Kopf, um das Gefühl loszuwerden, er irre in einem Alptraum umher, und beim Besinnen auf die Realität fiel ihm ein, daß sein Pferd draußen im Regen am Tempeltor stand.
»Euer Pferd ist schon im Stall, mein Fürst«, bemerkte sein Führer.
Akitada starrte auf den Rücken des alten Klosterbruders. Hatte er selber laut gesprochen, oder konnte dieser Mönch Gedanken lesen? Und wie lange mußte er noch den schleppenden Schritten folgen?
»Wir sind gleich da«, ließ sich sein Begleiter vernehmen und öffnete eine weitere Tür.
Sie betraten eine sehr geräumige, leere Halle. Eine Wand war mit dunklen Stoffbahnen verhängt. In der Luft hing der Geruch von Farbe und Harz. Der Mönch faßte ein Seil und zog die Vorhänge hoch. Akitadas Blick fiel auf das Stück des Wandschirms, vor dem sich die Schleier zuerst geteilt hatten. Er schrie auf und prallte zurück.
Das Licht der Laterne beleuchtete ein greuliches Bild. Da saß ein kleiner Junge, nicht älter als fünf oder sechs. Sein rundliches Gesicht war vor Schmerz und Angst verzerrt, er hielt zwei blutende Armstümpfe hoch, an denen einst seine Hände gewesen waren.
»Es sieht sehr echt aus, ist aber nur ein Gemälde«, versicherte ihm sein Führer beschwichtigend. »Das ist der Höllenschirm, den Euch Seine Ehrwürden zeigen wollte. Er ist sehr stolz darauf. Das Werk ist noch nicht fertig, doch schon jetzt sind wir überzeugt, daß es höchst eindrucksvoll sein wird. Der Künstler ist Noami, ein zutiefst gläubiger Mann; er nimmt seine Arbeit überaus genau und malt schon ein ganzes Jahr an dem Bild.«
Akitada nickte.
Der Mönch richtete den Schein der Laterne auf einen anderen Ausschnitt des Gemäldes. »Hier ist die Hölle der schlitzenden Schwertklingen. Bei Tageslicht oder wenn die Halle von zahlreichen Kerzen erleuchtet ist, kann man die Einzelheiten natürlich genauer sehen.«
Akitada hatte kein Verlangen danach. Die Gestalten waren zwar nicht lebensgroß gemalt, doch in allen Details schaurig qualvoll. Selbst im schwachen Licht einer einzelnen Laterne wirkten die Schreckensszenen schlimm genug. Darstellungen der Hölle auf Wandschirmen waren in buddhistischen Tempeln nichts Ungewöhnliches, sollten sie doch den Leuten vor Augen führen, welche Strafen sie nach einem sündhaften Leben erwarteten. Aber das hier … Das übertraf alles, was ihm jemals vorgekommen war. Nackte Männer und Frauen wanden sich in den Klauen schwarzer teuflischer Wesen, Ströme von Blut ergossen sich aus den gräßlichen Wunden, die sie ihnen mit Schwertern, Spießen und Hellebarden beigebracht hatten. Das verstümmelte Kind war nur eines von vielen Opfern. Daneben umklammerte seine Mutter den Schaft einer Lanze, die ihr in den Bauch gedrungen und auf dem Rücken wieder herausgekommen war, während ihr ein geflügelter Dämon die Kehle aufschlitzte. Wie aus einem Springbrunnen sprudelte ihr Blut empor. Andere Teufel waren dabei, einer schönen Frau das Gesicht mit scharfen Messern zu zerfetzen; der dazugehörende hübsche junge Mann hatte beide Beine verloren, er kroch von ihr fort und hinterließ auf dem Boden eine breite Blutspur.
»Sieht das nicht täuschend echt aus?« fragte, sichtlich beeindruckt, der Mönch. »Und seht nur, wie dort die Flammen der brennenden Hölle gemalt sind. Einem wird richtig heiß, wenn man länger hinschaut.«
Dem konnte man sich nicht entziehen. Rote, orangefarbene und gelbe Flammen füllten einen großen Bereich des Schirms. Und in dem Flammenmeer zuckten und wanden sich Menschen, deren Haut versengt und mit Blasen übersät war. Münder und Augen hatten sie aufgerissen vor Qual und Entsetzen. Auch hier waren schwarzhäutige, langhaarige Dämonen am Werke. Sie trieben widerstrebende nackte Gestalten mit brennenden Fackeln in die Flammen oder schleuderten sie in einen Fluß mit glühender Lava.
Akitada schauderte. Was für ein Glaube war das, der menschliches Leiden geradezu verherrlichte, und was für ein Gehirn, das sich derartige Schreckensbilder ausdachte?
»Noami arbeitet hier unermüdlich Tag und Nacht, nur manchmal geht er nach Hause, um Skizzen für die nächsten Szenen zu entwerfen«, erfuhr Akitada. »Ein paar davon habe ich schon gesehen. Als nächstes wird er den Richter der Toten malen. Emma-o wird genau in der Mitte thronen, umgeben von seinen Begleitern und Dienern. Die Seele eines gerade Verstorbenen wird hier etwa knien, hinter ihm warten Dämonen darauf, ihn in die Feuerhölle oder in die Eishölle zu schleifen. Die letzte Fläche des Schirms ist noch weiß, darauf wird die Eishölle gemalt. Noami meint, er kann damit erst anfangen, wenn es bei uns richtig Winter geworden ist.«
Akitada blinzelte verwundert. »Wieso kann er das nur im Winter malen?«
»Na ja. Noami arbeitet immer nach der Natur. Ich selbst habe erlebt, daß er sich ein Feuer auf dem Hof gemacht hat, um den Rauch zu malen, den Ihr da seht. Respektvoll schaute Akitada auf die blauschwarzen Wolken, die aus der brennenden Hölle aufstiegen. Der Qualm war so wirklichkeitsnah, daß man glaubte, daran ersticken zu müssen. »Gehen wir!« sagte er. »Ich bin sehr müde.«
Der Mönch zog den Vorhang zu. »Es ist gar nicht mehr weit.«
Sie verließen die Halle mit dem Höllenschirm und schritten durch einen weiteren düsteren Korridor. Dann ging es um eine Ecke, und der Mönch schob eine Tür auf. »So, da wären wir. Diese Räume stehen den Ehrengästen zu. Es ist hier auch viel ruhiger als dort, wo die Besucherunterkünfte liegen. Besonders heute dürfte das von Belang sein, denn wir beherbergen gerade eine Truppe Wanderschauspieler. Die haben eine bugaku-Vostellung gegeben und ziehen morgen weiter. Heute nacht dürften die einigen Lärm machen. Zwar dulden wir keinen Reiswein im Tempelbezirk, aber solche Leute halten sich wenig an die Regeln.« Er entzündete eine Öllampe auf einem hohen Ständer.
»Ich sehne mich so nach Schlaf, daß mich das kaum stören wird«, erwiderte Akitada und hoffte, der redselige Mönch würde den Wink verstehen.
»Man wird Euch die Abendmahlzeit bringen und Bettzeug«, erklärte der Alte. »Das Badehaus ist am Ende des Laubengangs rechts. Ich hoffe, Ihr werdet angenehm ruhen. Amidas Segen sei mit Euch!«
Akitada murmelte Dankesworte, der Klosterbruder verneigte sich und schlurfte davon.
Der Raum war längere Zeit nicht benutzt worden, denn die Luft war stickig. Der neue Gast schritt über den kahlen Fußboden und stieß die Fensterläden auf. Davor befand sich ein winziger Innenhof von wenigen Ellen im Quadrat, den eine hohe Mauer umgab. Es war fast dunkel; die beiden kleinen Büsche, die in einer Ecke neben einer Steinlaterne wuchsen, waren eben noch auszumachen. Um einen vor Nässe schwarzen Flecken Moos hatte jemand den hellen Kies in Wellenlinien geharkt. Die feuchten Kiesel schimmerten im Licht aus Akitadas Kammer. Es regnete nur noch wenig, von den Traufen fielen sacht und stetig Tropfen, die das Gemüt beruhigten. Akitada atmete tief die frische, nach Kiefern duftende Bergluft ein und fühlte sich erleichtert. Der Höllenschirm hatte ihn stärker erschüttert, als erwartet. Szenen gewaltsamen Todes hatte er in seinem Leben viele gesehen, ein bloßes Gemälde hätte ihn nicht derart aufwühlen dürfen. Er konnte es sich nicht erklären, vermutlich lag es an seiner Erschöpfung. Die Fenster wollte er lieber auflassen, er brauchte frische Luft. Wenn bloß bald das angekündigte Bettzeug käme, Schlaf war ihm wichtiger als Essen.
An der Wand hing eine Schriftrolle; er schob die Lampe näher heran, um den Spruch zu lesen. Die höhere Wahrheit und die gewöhnliche Wahrheit sind zwei verschiedene Wahrheiten; sie können nicht eins sein, wenngleich man sie auch als die Zweifache Wahrheit benennt. Er runzelte die Stirn. Der Satz machte keinen Sinn. Immer wieder empfand er das abstrakte Philosophieren der Buddhisten als irrational; sie warfen nichts als Rätsel auf und verwirrten damit die Unwissenden. Um wieviel menschenfreundlicher und hilfreicher waren die Lehren des Konfuzius. Da gab es für jede Begebenheit im Leben eine praktische Verhaltensregel und eine zweckdienliche Anleitung.
Er stellte die Lampe zurück und machte sich auf zum Badehaus. Dort, wo der Mönch es ihm beschreiben hatte, fand er es tatsächlich. Erleichtert bemerkte er, daß sich niemand im Umkleideraum und im Bad selbst aufhielt, abgesehen von dem Wärter, einem jungen Mönch. Bis auf ein Lendentuch war er unbekleidet, seine schweißnasse Haut glänzte in der dampfgesättigten Luft.
Akitada empfand es als Wohltat, daß der junge Mann nicht mit ihm schwatzen wollte. Rasch zog er sich aus, hängte seine Sachen an einen Haken über den Holzbänken und ging nackt in den Baderaum. Der Wärter reichte ihm einen Eimer mit heißem Wasser und einen kleinen Beutel mit Reisschrot. Akitada hockte sich neben den Abfluß und schrubbte sich gründlich. Wohlig empfand er die Wärme, die durch das Reiben mit dem Schrotbeutel entstand. Er spülte sich mit dem Wasser aus dem Eimer ab und stieg in den riesigen Holzzuber, der bis zum Rand mit beinahe unerträglich heißem Wasser gefüllt war.
Zunächst verschlug es ihm fast den Atem. Vorsichtig ließ er sich auf den Sitz im Bottich nieder, so daß ihm das Wasser bis zum Hals reichte. Bald wich sein Unbehagen tief empfundener Wonne.
Er entspannte, lehnte den Kopf an den Rand des Zubers und schob alle ihn beschwerenden Gedanken von sich.
Der Badewärter verschwand nach draußen, und Akitada hörte ihn das Feuerungsloch unter dem Bad neu beschicken. Unauffällig kam er mit sachten Bewegungen herein und setzte sich auf die Bank neben der Wand. Das Feuer knisterte leise, und in der dampfgeschwängerten Luft bildeten sich Schweißtropfen auf Akitadas Stirn. Er machte sich nicht die Mühe, sie fortzuwischen, schloß die Augen und nickte ein.
Allmählich, aber unablässig drangen Männerstimmen und Gelächter in seinen Schlummer, so daß er schließlich wieder seine Umgebung wahrnahm. Hinter der Wand schlug jemand rhythmisch auf eine Holzfläche, dazu sang ein Mann. Die Worte waren unverständlich, doch die Weise war angenehm. Zufrieden schloß Akitada wieder die Augen. Er ließ seine Gedanken mit der Melodie des Liedes dahingleiten und dachte unwillkürlich an seine Flöte. Hätte er sie nur mitgenommen, doch die Nachricht von der Erkrankung seiner Mutter hatte jede andere Überlegung beiseite gedrängt. Wie krank mochte sie wirklich sein? Der Brief seiner Schwester hatte so verzweifelt geklungen. Ernsthafte Erkrankung bedeutete gemeinhin Tod, und in der Regel trat der rasch ein. Vielleicht kam er sogar schon zur Bestattung zu spät. Erneut senkte sich die Last seiner Befürchtungen auf ihn.
Nebenan hörte die Musik plötzlich auf. Statt dessen ertönten lautes Stampfen und heisere Schreie und Rufe. Akitada wandte den Kopf und horchte. Wer immer da seine Ruhe störte, das waren weder Mönche noch Pilger.
Dann drang das schrille Gelächter einer Frau zu ihm herüber. Entsetzt richtete sich Akitada auf. Weiber im Badehaus der Mönche?
Er warf dem jungen Badewärter einen Blick zu, der erhob sich schon, hatte die Augen erschreckt aufgerissen, und seine feuchte Haut wurde feuerrot bis hinauf zum kahl geschorenen Schädel. Was würde er tun, wenn nackte Frauenzimmer in seine keuschen, nur Männern vorbehaltenen Gefilde einfielen? Auch Akitada fühlte sich peinlich berührt. Das hätte ihm nach seinem elenden Ritt durch den Regen und nach der nervenaufreibenden Wanderung durch die Klosterbauten gerade noch gefehlt, daß lärmende, schamlose Kerle und Weiber in sein Bad hereinplatzten.
Der Wärter nahm all seinen Mut zusammen, ging in den Umkleideraum und schloß die Tür hinter sich. Sofort hörte der Lärm auf, ein kurzer Wortwechsel folgte, und der junge Mönch kam zurück. »Verzeiht, bitte. Das sind Schauspieler. Die sind aus Versehen hierhergeraten. Ich habe ihnen bedeutet, daß sie sich hier nicht aufhalten dürfen, doch sie wollen nicht fortgehen. Ich glaube nicht, daß sie weiter vordringen, aber ich laufe los und hole Hilfe.«
»Vielen Dank.« Akitada schloß wieder die Augen, wartete und fragte sich, wie lange die Schauspieler bleiben würden. Irgendwie mußte er nachher hinaus, um an seine Sachen zu kommen.
Eine Tür fiel zu. Dann vernahm er erneut Stimmen, man schien sich zu streiten. Ein Mann fragte in einem fort: »Warum?« und eine Frau barmte und jammerte. Andere Männerstimmen mischten sich ein. Aus den Wortfetzen konnte Akitada entnehmen, daß man die Frau – Ohisa hieß sie – aus der Truppe entlassen hatte. Sie schluchzte, und jemand empörte sich: »Das kann er doch nicht machen!« Die Stimmen wurden lauter und zorniger. Mit unmutiger Miene kletterte Akitada aus dem Badezuber.
Er griff sich ein Handtuch vom Ständer und schlang es sich um die Hüften. Dann stieß er die Tür auf und blickte wütend zu den Leuten, die im Umkleideraum herumstanden.
Flüchtig nur konnte er deren erschrockene Gesichter sehen – vier Männer und eine Frau, alle vollständig angekleidet, die Frau jung und sehr hübsch, die Männer unterschiedlichen Alters –, denn schon stürzten sie in wilder Flucht zur Tür und hasteten den Korridor hinunter. Die Szene war derart komisch, daß Akitadas Unmut verflog und er leise lachen mußte. Das Auftauchen von vier oder fünf ältlichen Mönchen und dem Badewart erheiterte ihn zusätzlich. Wortreich machten die betagten Klosterbrüder ihrer Empörung Luft, daß eine Frau es gewagt hatte, in ihren geheiligten Bezirk einzudringen, und betrachteten ihn mißtrauisch. Erst jetzt merkte er, daß er noch völlig naß war, nahm das Handtuch und trocknete sich ab. Entrüstete Blicke trafen ihn, und dann verzog man sich rasch. Nur der Wärter blieb.
Akitada hing das feuchte Handtuch auf ein Trockengestell, zog seine Sachen wieder an und ging, noch immer vor sich hin lachend, zurück in seine Kammer.
Dort hatte inzwischen jemand ein Tischchen mit Essen und Trinken hingestellt und das Bettzeug ausgerollt. Das Mahl war vegetarisch. Es bestand aus Reisküchlein mit gedünsteten Pilzen, gebratenem Bohnenquark, eingelegten Auberginen, Gurken und grünen Sojabohnen, und dazu gab es noch eine Schüssel gerösteter Hirse mit Honig. Bedächtig kostete Akitada von diesem und jenem. Es schmeckte köstlich, und dankbar lobte er die Mönche, die über Generationen hinweg ihren Einfallsreichtum darauf verwendet hatten, die Körner- und Pflanzenkost, die ihnen erlaubt war, schmackhaft anzurichten. Er saß neben der offenen Tür zu dem kleinen Garten, atmete die frische Bergluft und verzehrte alles, was man ihm zugedacht hatte. Dann leerte er durstig die kleine Flasche mit dem Fruchtgetränk. Es schmeckte merkwürdig, jedoch nicht unangenehm. Der Regen ließ nach, und schließlich hörte man nur noch das beruhigende, sanfte Tropfen von den Wasserspeiern.
Er fühlte sich angenehm entspannt und gesättigt. Die Lider wurden ihm schwer; er schlüpfte unter die Bettdecke und schlummerte ein.
Zunächst schlief er tief und fest, doch nicht lange, und ihn quälte ein schrecklicher Traum. Er war nackt und wurde von blauen Dämonen verfolgt, aus deren Reißzähnen Flammen sprühten und die ihn mit ihren gebogenen Krallen zu packen suchten. In panischer Angst wollte er ihnen entkommen und lief dabei an Hunderten anderer nackter Männer und Frauen vorbei, die wie er rannten und kreischten. Er hastete auf einen gigantischen Bottich zu, aus dem Dampfschwaden aufstiegen, wollte sich dahinter vor seinen Verfolgern verstecken, sah aber voller Entsetzen, daß der Kessel mit sich windenden, schreienden Menschen gefüllt war. Zwei ungeheuerliche Dämonen bliesen ihren feurigen Atem gegen die Wände des Kessels und kochten ihre Opfer darin bei lebendigem Leibe. Einer der Teufel schöpfte den Fliehenden mit einer riesigen Kelle auf und hielt sie über den brodelnden Hexenkessel. Akitada klammerte sich an den Rand der Kelle, versuchte abzuschätzen, wie weit er springen müßte, um nicht in den grausigen Zuber zu stürzen, und riskierte in Todesangst einen gewaltigen Sprung ins Leere. Für einen Moment hing er im Dampf über den nach oben gerichteten Gesichtern der Seelen im siedenden Wasser, dann stand er plötzlich in einem Gerichtssaal.
Auf einem hohen Thron saß der Richter in prächtiger Robe und strich sich den Bart. Seine großen Augen blitzten. Akitada fiel auf die Knie und berührte mit der Stirn den Boden. Doch niemand schien ihn zu beachten. Die Wächter, wieder so blaue Teufel, schleppten eine ältere Frau herein, bleich und von aristokratischem Aussehen in ihren Festgewändern, ihr langes weißes Haar schleifte auf der Erde. Zu seinem Schrecken erkannte Akitada seine Mutter. Andere Dämonen traten vor und erhoben Anklage gegen sie, während sie in stoischer Ruhe kniete. Akitada wollte etwas zu ihrer Verteidigung sagen, doch seine Zunge war gelähmt. Der Richter schlug sich mit einem Zepter aufs Knie und verkündete das Urteil. Daraufhin trugen die blauen Teufel seine Mutter hinweg zur Hölle. Als Akitada die Augen zum Richter erhob und um Gnade für sie flehen wollte, wurde er gewahr, daß er in sein eigenes Antlitz schaute.
Er selbst war der höllische Richter, der sich den Bart strich und die Vergehen vortragen ließ, die armen Sündern zur Last gelegt wurden. Akitada hörte sich ein Urteil nach dem anderen verkünden: Die flammende Hölle für die Kaltherzigen, die Eishölle für die Wollüstigen, das Reich der ewig hungrigen Geister für die Prasser und Zecher, und die Qualen der Schwerter und Messer für die Gewalttätigen. Er fällte Urteil um Urteil, seine Zepterschläge dröhnten durch den Raum, und ungerührt sah er zu, wie die blauen Teufel in schimmernder Rüstung die jammernden Seelen davonzerrten, folgte ihnen mit den Augen bis zu einer Richtstatt, wo die Dämonen ihnen mit gewandten Hieben ihrer flammenden Schwerter Gliedmaßen und Köpfe abschlugen. Die zerstückelten Leichen türmten sich zu Bergen, zwischen denen Blut wie ein Strom floß. Dann begannen die Berge zu wanken, und der Fluß aus Blut stieg an. Akitada wurde von einer Lawine der Toten erdrückt und ertrank in einem Sturzbach aus Blut.
Mit einem heiseren Schrei schoß er hoch. Es war dunkel um ihn her, er rang nach Luft und schlug mit den Armen um sich, wollte sich des Alptraums erwehren. Nur allmählich begriff er, wo er war. Er wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht und schob das Bettzeug zurück. Die Nachtluft kühlte ihm den verschwitzten Leib. Er war überzeugt, noch nie zuvor von so heftigen Schreckensvorstellungen geplagt worden zu sein. Dieser Traum konnte nur von seiner körperlichen Verfassung herrühren und von den Befürchtungen um seine Mutter. Die ungewöhnlichen Bilder, die ihn am Abend zuvor entsetzt hatten, mußten die Wahnvorstellungen heraufbeschworen haben, die ihn immer noch nicht losließen und deren Schreckenslaute lebhaft in seiner Erinnerung nachklangen. Er lauschte.
In seinem Raum war alles ruhig und reglos, und draußen unterbrach nur ein fallender Wassertropfen dann und wann die Stille.
Plötzlich ein kurzer Aufschrei, der sofort verstummte.
Akitada stürzte in den Korridor und weiter in den nächsten Innenhof. Niemand. Er hatte keine Ahnung, wo genau er sich im Klostergelände befand oder von wo der Schrei gekommen war, so stand er still und lauschte minutenlang. Die Nacht blieb dunkel und schwieg. Um ihn herum erhoben sich die Gebetshallen des Tempels, geheimnisvolle Gebilde, die sich gegen den Nachthimmel abzeichneten. Laubengänge führten zu weiteren Innenhöfen und Tempelhallen. Akitada ging ein Stück in eine Richtung und dann in eine andere und gab schließlich auf. Vielleicht hatte er auch nur den Schrei einer Eule gehört. Oder war es ein Liebespaar gewesen? Konnte ja sein, ein Mädchen hatte einen zudringlichen Verehrer gehänselt, und beide waren längst verschwunden, aus Angst, ertappt zu werden.
Mit einiger Mühe tastete er sich in sein Zimmer zurück und kroch in sein Bettzeug. Es dauerte lange, bis er wieder einschlief, diesmal ohne Träume. Noch vor Sonnenaufgang weckte ihn der schwache Klang entfernter Glokken, die zur Morgenandacht riefen.