Johannes Willms
Der Mythos Napoleon
Verheißung * Verbannung * Verklärung
Klett-Cotta
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Printausgabe: ISBN 978-3-608-96371-7
E-Book: ISBN 978-3-608-12031-8
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Am 5. Mai 2021 jährt sich der Todestag Napoleons zum zweihundertsten Mal. Am Abend dieses Tages wird der französische Militärbischof in der Pariser Kirche St. Louis des Invalides wie jedes Jahr ein Seelenamt für den Verstorbenen lesen. Vermutlich werden die Bänke des Kirchenschiffs, von dessen Decke in dichter Reihung Fahnen der Regimenter herabhängen, die französische Soldaten seit den Kriegen Ludwigs XIV.(1) erbeuteten, bis auf den letzten Platz gefüllt sein. Der große öffentliche Zuspruch wird einmal mehr zeigen, dass das Erbe Napoleons an die Zukunft Frankreichs so weit reicht, wie es umstritten ist.
Das vorliegende Buch, Frucht einer mehr als drei Jahrzehnte währenden Beschäftigung seines Autors mit Napoleon, sucht die Voraussetzungen für die so lang anhaltende Faszination dieses Mannes zu ergründen, die er trotz seines eklatanten Scheiterns behauptet. Mit der Revolution von 1789 hatte Frankreich die große Chance, dank der schieren Modernität ihres Anspruchs zur europäischen Führungsmacht zu werden. Diese Erwartung wurde jedoch rasch enttäuscht, als die Dymamik der Revolution in eine Aporie der Selbstzerfleischung einmündete. Das schuf eine unübersichtliche Konstellation, die Napoleon geschickt dazu nutzte, mit Entschlossenheit und Glück eine Machtstellung zu erobern, die er damit rechtfertigte, die Revolution zu vollenden. Das gelang ihm, allerdings um den Preis eines unauflösbaren Widerspruchs, der darin bestand, dass er das Versprechen der Revolution auf Freiheit und Selbstbestimmung enttäuschte und eine Diktatur errichtete, die von ihm flugs als Kaisertum kostümiert den damals in Europa gängigen dynastischen Herrschaftstechniken anverwandelt wurde. Als unumschränkter Herrscher nutzte Napoleon die von der Revolution entfesselten innovativen Kräfte dazu, Frankreich den Rang einer europäischen Hegemonialmacht zu verschaffen. Der erwies sich jedoch als die Hybris seines imperialen Machtwahns, dessen unvermeidliches Scheitern Folgen hatte, die Frankreich seither nicht mehr verwinden sollte.
Selbstredend ist die Wirkungsgeschichte Napoleons vor dem Hintergrund der Französischen Revolution viel komplexer, wie jede der zahllosen ihm gewidmeten Biographien zeigt. Sie illustrieren aber stets nur, um mit Schiller(1) zu sprechen, wie sehr sein Charakterbild, von der Parteien Gunst und Hass verwirrt, in der Geschichte schwankt.[1] Dieses stete Gegeneinander von Bewunderung und Ablehnung im Urteil von Person und Handeln Napoleons stützt sich jeweils auf Anschauungen und Meinungen, die quellenkritisch zu rechtfertigen sind. Für dieses Verfahren gilt indes die skeptische Maxime Goethes(1): »Die Pflicht des Historikers ist zwiefach: erst gegen sich selbst, dann gegen den Leser. Bei sich selbst muss er genau prüfen, was wohl geschehen sein könnte, und um des Lesers willen muss er festsetzen, was geschehen sei. Wie er mit sich selbst handelt, mag er mit seinen Kollegen ausmachen; das Publikum muss aber nicht ins Geheimnis hineinsehen, wie wenig in der Geschichte als entschieden ausgemacht kann angesprochen werden.«[2]
Im Lichte dieser Maxime unternimmt die vorliegende Darstellung den Versuch, die Bedingungen der Möglichkeit für die unvermindert anhaltende, wenn auch kontroverse Faszination zu ergründen, die dem historischen Phänomen Napoleon eigentümlich ist. Dies geschieht in drei Schritten. Zunächst wird dargestellt, wie es Bonaparte gelang, seinen eigenen Mythos zu entwickeln, der als die Voraussetzung dafür beschrieben wird, die Macht in und über Frankreich an sich zu reißen und diese nach seiner Verpuppung zum Kaiser Napoleon bis zu seinem Untergang zu behaupten. In einem zweiten Schritt wird gezeigt, wie sowohl im Widerspruch zu den Intentionen seiner siegreichen Gegner wie zu seinem eigenen Scheitern die Verbannung Napoleons nach St. Helena seiner Verklärung Vorschub leistete, die, wie in einem dritten Schritt geschildert wird, seine bis heute nimmerwelke Faszination zur Folge hat.
Paris, im September 2019
Johannes Willms
Erstes Buch
Erstes Kapitel
Manches spricht dafür, dass die Revolution für viele Zeitgenossen eine Enttäuschung war: Von den vollmundigen Versprechen der Freiheit, gleichberechtigten Teilhabe aller an den politischen Geschäften, von Wohlstand und Rechtssicherheit, mit denen die Wortführer des Umsturzes seit 1789 miteinander konkurrierten, hatte sich die Entwicklung immer weiter entfernt. Im Juli 1794 war die Revolution längst zum Synonym für Krieg, Hunger und ein politisches Schreckensregime geworden. Das wurde mit der Bedrohung durch eine Koalition der europäischen Mächte gerechtfertigt. Erst der Sieg in der Schlacht von Fleurus am 26. Juni 1794 bannte diese Gefahr. In ganz Frankreich stand kein Feind mehr, und die Revolutionsarmeen eroberten jetzt Belgien und das linke Rheinufer. Das waren Erfolge, die der Diktatur des Wohlfahrtsausschusses ein Datum setzten, dessen Terrorherrschaft Frankreich seit April 1793 stabilisiert, die Revolution aber auch gründlich kompromittiert hatte: Am 9 Thermidor (27. Juli 1794) wurde Robespierre(1), der wie kein anderer die Schrecken der Revolution personifizierte, zusammen mit einigen Getreuen gestürzt und nach kurzem Prozess liquidiert.
Die Beseitigung Robespierres(2) bedeutete nicht das Ende der revolutionären Schreckensherrschaft, denn die neuen Machthaber, die »Thermidorianer«, waren die Konkursverwalter des bisherigen Regimes. Jetzt hatten Männer das Sagen, die wie Robespierre(3) und Konsorten für die Terreur verantwortlich gewesen waren. Ihr Ziel war es, mit der Beseitigung des Schreckensregiments den eigenen Kopf zu retten. Ansonsten sollte alles so bleiben wie bisher. Diese Absicht durchkreuzte der aus seiner Ohnmacht erwachende Konvent, der sich umgehend daranmachte, der Revolutionsregierung durch personelle und institutionelle Änderungen die schärfsten Zähne zu ziehen und einen grundsätzlichen Systemwechsel einzuleiten. Es galt, die Konzentration der exekutiven Gewalt im Wohlfahrtsausschuss zu zerschlagen: Der Comité de salut public sollte bis zur Abschaffung im Oktober 1795 nur noch ein Ausschuss neben anderen sein, dessen Zuständigkeit auf außenpolitische und militärische Belange beschränkt wurde. Das erwies sich jedoch als Wunschdenken, denn zeit seines Bestehens verkörperte der Wohlfahrtsausschuss das Wesen der Revolution.
Die Rückabwicklung der von Robespierre(4) verkörperten Diktatur des Schreckens war ein windungsreicher Prozess, der erst mit der Verfassung des Jahres III im August 1795 seinen vorläufigen Abschluss fand. Aus Furcht vor einer neuerlichen Diktatur wie davor, dass die Macht in die Hände eines Bourbonen gelangen könnte, entschieden sich die »Thermidorianer« dagegen, die Exekutivgewalt einem Präsidenten anzuvertrauen. Stattdessen optierten sie für ein fünfköpfiges »Direktorium«, das an den um sieben Mitglieder verkleinerten Comité de salut public erinnerte.
Diese und andere verfassungsrechtlichen Chinoiserien waren Verzierungen des Paradigmenwechsels, zu dem die »Thermidorianer« um des eigenen Erfolgs willen verdammt waren. Ihr Handeln bestimmte das Ziel, die Überbeanspruchung aller Kräfte der Republik durch die Konflikte im Inneren und Äußeren zu vermindern, die als Rechtfertigung von Robespierres(5) Schreckensherrschaft gedient hatten. Hätte man damit Erfolg, so das Kalkül, könne man die überschäumende Dynamik der Revolution einhegen und deren Potential zur Kräftigung der politischen Stabilität der Republik verwenden. Entscheidende Voraussetzung dafür war jedoch, dass sich die populistischen, radikaldemokratischen Bewegungskräfte erschöpften, die ganz wesentlich dazu beigetragen hatten, die Revolution bis 1794 voranzutreiben. Zum weiteren mussten die im Herbst 1793 von den Revolutionsarmeen binnen kürzester Zeit erzielten spektakulären Erfolge über die europäischen Koalitionsmächte im Frühjahr 1794 in eine Offensive einmünden, mit der sich die Gegner der Revolution zu einem Friedenschluss gezwungen sähen.
Für die Akzeptanz dieses Kalküls sprach die unmittelbar nach dem Sturz Robespierres(6) virulent werdende Sehnsucht nach Frieden, die sich, wie der monarchische Publizist Jacques Mallet du Pan(1) am 1. November 1794 diagnostizierte, in Frankreich derart stark bemerkbar mache, »dass der Konvent dem Untergang geweiht ist, wenn es ihm nicht gelingt, noch vor dem Frühjahr einen Friedensvertrag vorzuweisen. Das ist mehr als eine Leidenschaft, das ist der Durst nach Frieden«.[1] Diese Einsicht wurde auch von den »Thermidorianern« geteilt. Sie schlossen am 9. Februar 1795 einen Friedensvertrag mit dem Großherzogtum Toscana, das aus der Mächtekoalition gegen Frankreich ausschied und seine Neutralität erklärte.[2] Diesem ersten Erfolg folgte am 5. April 1795 der in Basel zwischen Frankreich und Preußen geschlossene Frieden.[3] Für die »Thermidorianer« war der Basler Frieden in zweifacher Hinsicht ein großer Gewinn: Gemeinsam mit Preußen verließen auch die von Berlin dominierten norddeutschen Staaten das Bündnis gegen Frankreich und verpflichteten sich zu strikter Neutralität; zum weiteren erkannte Preußen in den Geheimklauseln des Vertrags den Besitzanspruch Frankreichs auf das gesamte linke Rheinufer an.
Mit dem »Sonderfrieden« von Basel zeichnete sich eine neue Konstellation ab, die mit dem Friedens- und Bündnisvertrag vollendet wurde, den Frankreich am 16. Mai 1795 mit der Batavischen Republik in Den Haag schloss und der die Niederlande zu einem französischen Klientelstaat machte. Es folgte das Friedens- und Allianzabkommen mit Spanien, auf das man sich am 22. Juli ebenfalls in Basel verständigte. Damit war der Ring feindlicher Mächte um Frankreich zerschlagen, und die Republik konnte alle Truppen in Süddeutschland und in den Alpen gegen Habsburg werfen. Das minderte nicht nur den äußeren Druck, der auf dem erschöpften Land lastete, sondern eröffnete der Republik auch Perspektiven, die in den kommenden Jahren genutzt wurden.
Das Verlangen nach Frieden, das sich im revolutionären Frankreich immer stürmischer entwickelte, hatte auch zur Folge, dass die Pariser Sansculotten, von denen die Radikalisierung der Revolutionsbewegung befördert worden war, zum Wohlfahrtsausschuss auf Distanz gingen. Wie groß die Entfremdung geworden war, zeigte sich beim Sturz Robespierres(7), als die revolutionäre Commune de Paris und die von den Radikalen beherrschten Sektionen ihr einstiges Idol einfach im Stich ließen.[4]
Die Abwendung der Sansculotten von der Revolutionsregierung war eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen des Putschs. Außerdem verschafften sie damit den gemäßigten »Thermidorianern« die Möglichkeit, einen eher moderaten Kurs zu steuern. Emblematisch dafür war, dass das den Sansculotten »heilige« System von Höchstpreisen für Güter des täglichen Bedarfs trotz einer sich seit dem Herbst ankündigenden schweren Versorgungskrise Ende Dezember 1794 ersatzlos beseitigt wurde. Damit genügte man der Einsicht, dass Preiskontrollen ein unzulängliches Mittel seien, die Härten einer aus strukturellen Gründen unzureichenden Versorgung zu mildern. Zum weiteren ließ sich die Beachtung der einschlägigen Kontrollbestimmungen nur mit terroristischen Gesetzen erzwingen, die unmittelbar nach dem 9 Thermidor ausgesetzt worden waren. Das jedoch war den Sansculotten nicht zu vermitteln, zumal sich die Preise für Nahrungsmittel bereits Anfang Januar 1795 verdoppelten, was sofort eine soziale Bewegung provozierte, die größere Unruhen ankündigte.[5]
Um drohende Aufstände im Keim zu ersticken, verabschiedete der Konvent Ende März 1795 die Loi de grande police. Das Gesetz definierte jede Empörung, die zu Plünderungen, Gewalt gegen Personen, zur Errichtung der Monarchie oder zum Widerstand gegen die legitimen Autoritäten aufrief, als Verbrechen, das mit Deportation geahndet werden sollte.[6] Es konnte aber nicht verhindern, dass es im April und Mai 1795 in Paris zu großen Aufständen kam, die gleichsam der Schwanengesang der Sansculotten waren, die zum letzten Mal versuchten, den Verlauf der Revolution in ihrem Sinne zu beeinflussen. Von ihrem Scheitern blieb nur ein Häuflein von Radikalrevolutionären zurück, die sich als Abgeordnete der Bergpartei im Konvent oder als mit Argwohn betrachtete Jakobiner geschäftig machten. Als Häuptlinge ohne Indianer stellten sie jedoch keine ernst zu nehmende Gefahr mehr dar. Das zeigte die 1796 aufgedeckte Conjuration des Égaux, eine protokommunistische Verschwörung, die Gracchus Babeuf(1) ausheckte und an der sich nur wenige Mitglieder der revolutionären Pariser Sektionen beteiligten. Andererseits machten die Umtriebe Babeufs(2) aber auch deutlich, dass die Politik einer republikanischen Sammlungsbewegung, zu der sich die seit Herbst 1795 installierte Regierung des Directoire exécutif bekannte, weitgehend gescheitert war. Damit sollten auch Repräsentanten der einstigen Schreckensherrschaft, die dank einer am 4. Oktober 1795 erlassenen Amnestie nicht mehr gerichtlich für ihre Untaten verfolgt wurden, zur Unterstützung des neuen Regimes gewonnen werden. Dem verdankte eine ganze Reihe einst führender Montagnards und Terroristen, wie etwa Joseph Fouché(1), ihre Anstellung im Regierungsapparat. Auch offerierte das Direktorium den heimatlosen Jakobinern mit dem Club du Panthéon, der jetzt Réunion des Amis de la République hieß, ein Asyl.
Der Versuch des Regimes, sich der wohlwollenden Duldung seitens der Radikalrevolutionäre zu versichern, um die eigene Stabilität zu vergrößern, wurde von einer gravierenden Enttäuschung inspiriert, die man mit der neuen, Ende August 1795 verabschiedeten Verfassung erlebte. Damit war die Überzeugung verbunden, den Idealen der Revolution von 1789 dauerhaften und belastbaren Ausdruck geben sowie der revolutionären Dynamik ein Ende machen zu können. Diese Erwartung gründete sich auf Vorstellungen, die François-Antoine Boissy d’Anglas(1) dem Konvent mit den Worten umriss: »Ein Land, das von Eigentümern verwaltet wird, ist innerhalb der sozialen Ordnung; ein Land, über das die Besitzlosen herrschen, befindet sich dagegen im Naturzustand.«[7]
Diesen Prinzipien entsprach der Verfassungstext, den der Konvent am 22. August 1795 verabschiedete. Alle männlichen Steuerzahler über einundzwanzig Jahren erhielten als Citoyens das Wahlrecht. Die Abgeordneten wurden durch zwei Wahlkollegien bestimmt. In sie sollten die Bürger entsandt werden, die Grundbesitz oder einen Pachtvertrag nachweisen konnten, dessen Wert wenigstens dem Betrag der Steuerleistung entsprechen musste, den ein Arbeiter je nach Größe des Wahlbezirks für einen Verdienst von ein- bis zweihundert Arbeitstagen zu entrichten hatte. Diesen Bedingungen genügten rund eine Million Bürger; sie bildeten das erste Wahlkollegium, das jene dreißigtausend Wahlmänner des zweiten Wahlkollegiums bestimmte, die für die Wahl der Abgeordneten zuständig waren. Mit anderen Worten: In jedem Departement besorgten nur einige hundert Notabeln die Wahl der Abgeordneten. Außerdem galt die Bestimmung, dass alljährlich jeweils ein Drittel der Wahlmänner wie auch der von ihnen bestimmten Abgeordneten durch Neuwahlen ausgetauscht werden sollten.
Die Legislative war in zwei Kammern unterteilt: den Conseil des Cinq-Cents, ein Unterhaus mit fünfhundert Mitgliedern, das allein das Recht hatte, Gesetze vorzuschlagen, die vom Oberhaus, dem Conseil des Anciens, dessen zweihundertfünfzig Abgeordnete wenigstens vierzig Jahre alt sein mussten, gebilligt oder abgelehnt wurden. Für die Belange der Exekutive hingegen waren fünf Direktoren vorgesehen, die von den Anciens aus einer Liste von je zehn Kandidaten ausgewählt wurden, die ihnen die Cinq-Cents vorgelegt hatten. Jedes Jahr schied einer der fünf Direktoren durch Losentscheid aus seinem Amt aus. Mit Rücksicht auf das Prinzip der Gewaltenteilung durften aber weder die Direktoren noch die von ihnen ernannten Fachminister einen Sitz in einer der beiden Kammern der Legislative einnehmen. Aus demselben Grund war es ihnen auch untersagt, in das Verfahren der Gesetzgebung einzugreifen oder von sich aus Gesetze anzuregen. Zur Kompensation übten sie eine Fülle von exekutiven Machtbefugnissen aus, für die sie den Kammern keinerlei Rechenschaft schuldig waren. Außerdem konnten sich die Direktoren mit dem Dekorum von konstitutionellen Monarchen schmücken: Sie erhielten den Palais du Luxembourg als Amtssitz, eine Ehrengarde und eine üppige Besoldung zugesprochen.
Zwei weitere Sicherheitsmaßnahmen wurden ergriffen, um dieser vermeintlich besten aller Republiken nach den Erfahrungen der Revolution Dauer zu verleihen. Die erste sah vor, dass die Verfassung auf legalem Weg nur durch eine Prozedur zu ändern war, die im günstigsten Fall neun Jahre beanspruchte. Ausschlaggebend für die zweite waren die Erfahrungen, die man mit dem von Robespierre(8) 1791 durchgesetzten Beschluss gemacht hatte, den Abgeordneten der ersten Assemblée Nationale die Kandidatur für die ihr nachfolgende Assemblée Législative zu untersagen. Das war die Voraussetzung dafür gewesen, dass die Radikalrevolutionäre die Meinungshoheit in der Gesetzgebenden Versammlung eroberten. Deshalb wurde jetzt eine Quotenregelung festgelegt: Zwei Drittel der Abgeordneten in beiden Kammern sollten Männer sein, die, mit Ausnahme der achtundsechzig Montagnards, bereits als Deputierte dem Konvent angehört hatten und damit als zuverlässige »Thermidorianer« gelten konnten. Diese Bestimmung war eine massive Beschränkung der Wahlfreiheit. Entsprechend heftig war die Kritik in der Öffentlichkeit, die sich darum betrogen sah, den Konvent bei der Wahl abzustrafen, weil der sich als unfähig erwiesen hatte, die große Versorgungskrise zu meistern. Das fand seinen Niederschlag im Ergebnis des Referendums, das Anfang September 1795 abgehalten wurde und bei dem über eine Million Wähler zwar die Verfassung billigte, die von rund fünfzigtausend abgelehnt wurde, während die Zwei-Drittel-Regelung nur von etwas mehr als zweihunderttausend Wählern befürwortet wurde, denen fast einhundertzehntausend negative Voten gegenüberstanden. Das enttäuschende Ergebnis war sogar noch geschönt, denn die Stimmen der achtundvierzig Pariser Sektionen, in denen diese Regelung ausnahmslos durchgefallen war, wurden nicht mitgezählt.[8]
Das Abstimmungsergebnis war alarmierend, denn es stellte die Behauptung der »Thermidorianer« infrage, die mit ihrer Republik den Anspruch verknüpften, diese sei die ihren Landsleuten genehmste. Allein, die Aufstandsbewegungen des Germinal und Prairial waren die letzten Zuckungen des in seinem Blute schwimmenden radikalrevolutionären Drachen, vor dem sich die »Thermidorianer« aber aus alter Gewohnheit noch weiter fürchteten und dessen potentielle Gefahr sie deshalb maßlos überschätzten. Wegen dieser Fixierung wurde die tatsächliche Bedrohung der Republik des Thermidor, die sich mit den vielen Funktionsträgern des gestürzten Schreckensregimes identifizieren ließ, die noch immer das Sagen hatten, nicht als legitimer Grund zum Widerspruch anerkannt. Deshalb wurde diese Opposition pauschal als royalistisch abgestempelt und so dem gängigen revolutionären Wahrnehmungsraster eingepasst.
Spätestens seit dem Sturz der Monarchie am 10. August 1792 hatten deren Parteigänger in Paris nur eine sehr marginale Rolle gespielt. Umso mehr verwundert deshalb die Charakterisierung der schichtenübergreifenden und ideologisch diffusen Oppositionsbewegung als »monarchistisch«, von der die allermeisten der achtundvierzig Pariser Sektionen im Laufe des Jahres 1795 erfasst wurden und die sich aus der wachsenden Empörung darüber speiste, dass es die »Thermidorianer« nicht vermochten, die chaotischen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse zu beheben, die eine Erbschaft der Revolution waren.
Damit rächte es sich, dass das neue Regime ausschließlich mit einem gründlichen Exorzismus der alten revolutionären Dämonen beschäftigt war und darüber vernachlässigt wurde, Frankreich von den Vorzügen der Republik zu überzeugen. Das Versäumnis begann den »Thermidorianern« erst zu dämmern, als der im ganzen Land wachsende Widerstand gegen das »Zwei-Drittel-Dekret« auf die Mehrheit der Pariser Sektionen übergriff. Die massive Opposition, die sich damit ankündigte, sorgte für erhebliche Aufregung, denn am 22. September hatte der Konvent die neue Verfassung und das »Zwei-Drittel-Dekret« gebilligt, das für die Legislative gelten würde. Deren Wahl war für die Zeit vom 11. bis 20. Oktober angesetzt; am 5. November sollte die Gesetzgebende Versammlung zu ihrer ersten Sitzung zusammentreten. Diesen Fahrplan drohten jetzt die Pariser Sektionen zu stören, die sich in ihrem Widerstand gegen das »Zwei-Drittel-Dekret« versteiften und schließlich offen gegen dessen Sanktionierung durch den Konvent aufbegehrten. »Die Regierung des Konvents«, bemerkte Marmont(1) in seinen Memoiren dazu, »die nicht mehr durch Folter gestützt wurde, war mit Ablehnung und Verachtung geschlagen. All diejenigen, die auf sich hielten, ersehnten inbrünstig den Fall oder den Sturz dieser Regierung.«[9]
Die Erregung erreichte ihren Siedepunkt, als der Konvent am 4. Oktober zwei Gesetze kassierte: das vom 23. Februar, mit dem die Inhaftierung zahlreicher Personen angeordnet worden war, die man jakobinischer Neigungen oder der Beteiligung an terroristischen Taten verdächtigte, und das Gesetz vom 10. April, das die Teilnehmer am Germinal-Aufstand ihrer Bürgerrechte beraubt hatte. Damit wurde ein Personenkreis rehabilitiert, aus dem sofort drei Bataillone gebildet werden konnten, die als »Patrioten von 1789« den Konvent vor »royalistischen« Anschlägen schützen sollten. Das verstand die Pariser Öffentlichkeit als politische Kehrtwende: Die »Thermidorianer« seien zur Rückkehr zur Terrorherrschaft unseligen Angedenkens entschlossen, um ihre politischen Gegner zu vernichten. Das Schreckbild fand seine Bestätigung darin, dass General Menou(1) angewiesen wurde, mit Linientruppen die Sektion Lepeletier(1) zur Raison zu bringen, die zusammen mit zwei anderen Sektionen zur offenen Revolte aufgerufen hatte. Dem Auftrag genügte Menou(2) aber nur sehr halbherzig, denn allein auf die Versicherung hin, man werde sich zerstreuen, zog der General die Truppen aus der Sektion Lepeletier zurück. Statt des unzuverlässigen Menou(3), der seines Kommandos enthoben wurde, ernannte der Konvent den Regisseur des Putsches vom 9 Thermidor, Paul Barras(1), zum Oberbefehlshaber der um Paris stationierten Streitkräfte und erteilte ihm die Vollmacht, alle zum Schutz der Versammlung notwendigen Maßnahmen zu ergreifen.
Barras(2) war der richtige Mann für diese Aufgabe. Das bewies er allein schon damit, dass er drei Generäle – Bonaparte, Brune(1) und Carteaux(1) – die erst wenige Wochen zuvor wegen ihrer jakobinischen Gesinnung vom aktiven Militärdienst suspendiert worden waren, reaktivierte und in seinen Stab berief, um die rund fünftausend Truppen zu kommandieren, die ihm zur Verfügung standen.[10] Bonaparte will jedoch, wie er gegenüber dem Comte de Las Cases(1) Jahrzehnte später bemerkte, zunächst gezögert haben, dem Ansinnen Barras(3)’ zu entsprechen. Seine Bedenken habe er damals in einem halbstündigen Selbstgespräch erwogen. Für seinen Entschluss hätte schließlich die Überlegung den Ausschlag gegeben, was aus den »großen Wahrheiten unserer Revolution werden würde, sollte der Konvent unterliegen … (…) Der Gegner, den wir so oft besiegt haben, triumphierte und überschüttete uns mit seiner Verachtung. (…) Die Niederlage des Konvents würde die Front des Gegners unüberwindlich machen und Schmach und Versklavung des Vaterlands besiegeln«.[11] Ob Napoleon damals tatsächlich mit derart staatsmännischen Erwägungen umgegangen ist, wie er sie sich über zwanzig Jahre später bescheinigte, kann man getrost dahingestellt sein lassen.
Was Bonaparte damals tatsächlich umtrieb, verrät ein Brief, den er Anfang Oktober 1795 seinem Freund, dem Schauspieler François-Joseph Talma, schrieb: »Barras(4) macht mir schöne Verprechungen, wird er sie aber halten? Ich habe Zweifel. Unterdessen habe ich keinen roten Heller mehr. Könntest Du mir einige écus zur Verfügung stellen? Ich würde sie nicht ablehnen und ich versichere Dich, sie zurückzuzahlen, sobald ich das erste Königreich mit meinem Schwert erobert habe.«[12]
Bei Ausbruch des Aufstands beherrschten die Empörer große Teile von Paris und waren den rund fünftausend Verteidigern des Konvents zahlenmäßig mit über fünfundzwanzigtausend Mann weit überlegen, die am Nachmittag des 5. Oktober in zwei großen Marschsäulen auf dem linken und dem rechten Seineufer auf die Tuilerien vorrückten. Die Regierungstruppen jedoch besaßen zwei Stärken, die entscheidend sein sollten: militärische Disziplin und die Drohung überlegener Feuerkraft. Die verschafften ihnen jene Geschütze, die nach dem Prairial-Aufstand den Nationalgarden abgenommen worden waren und die seither in einem Depot in Les Sablons bei Neuilly verwahrt wurden. Gerade noch rechtzeitig vor dem drohenden Zugriff durch die Aufständischen hatte sich Joachim Murat(1) auf Weisung Bonapartes dieser Kanonen am frühen Morgen bemächtigt. Er brachte diese an Brücken und Straßen in Stellung, von wo aus die beiden auf die Tuilerien vorrückenden Kolonnen der Aufständischen unter Feuer genommen werden konnten. Der Besitz der Artillerie wie die Entschlossenheit, sich ihrer zu bedienen, entschieden den Aufstand, der am Nachmittag des 13 Vendémiaire entbrannte. Vermutlich war es das Erlebnis zweier journées révolutionnaires in Paris, deren Augenzeuge Bonaparte gewesen war, die ihn zu seinem Handeln an diesem Tag inspirierten. Am 20. Juni 1792 war er zugegen gewesen, als eine bewaffnete Menge die Tuilerien stürmte und dem König samt seiner Familie für mehrere Stunden in demütigende Geiselhaft nahm. Die Schilderung, die er zwei Tage später Bruder Joseph(1) gab, eröffnete er mit einem Satz, der aufmerken lässt: »Die Jakobiner sind Narren, denen jeglicher Verstand abgeht:«[13] Bislang gehörte er zu den revolutionären Stürmern und Drängern. Diese Haltung sollte er jetzt preisgeben, wie der Jugendfreund Bourrienne(1) in seinen Erinnerungen schreibt, in denen er Bonaparte mit den Worten zitiert: »Wie hat man diese Kanaille nur einlassen können? Man müsste vier- oder fünfhundert mit Kanonen hinwegfegen, die Übrigen werden schon von selbst weglaufen.«[14]
Knapp zwei Monate später, am 10. August 1792, war er mit Bourrienne(2) zusammen, als ein entfesselter Mob die Tuilerien erneut stürmte, hunderte der Schweizer Garden, die Ludwig XVI.(2) schützen sollten, niedermetzelte und die Toten im Blutrausch grausam verstümmelte. Noch im Exil in St. Helena schilderte er am 3. August 1816 mit einer Lebhaftigkeit, die seine damalige Erschütterung bezeugt, Las Cases(2) das Geschehen: »Das Schloss wurde von der schlimmsten Kanaille angegriffen. Der König verfügte zu seiner Verteidigung sicherlich nicht über weniger Truppen als der Konvent am 13 Vendémiaire, aber dessen Feinde waren viel disziplinierter und schrecklicher. (…) Als der Palast gestürmt war und der König sich in die Versammlung geflüchtet hatte, (…) brachte ich es über mich, den Garten zu betreten. Niemals hat mir seither eines meiner Schlachtfelder den Anblick so vieler Leichname geboten, als hier die Massen der Schweizer, sei es, dass die Beengtheit des Ortes deren Anzahl bedeutender erscheinen ließ, sei es, dass dies die Wirkung des ersten Eindrucks war, den ich von dergleichen empfing.«[15] Jene beiden revolutionären Gewaltausbrüche vom Sommer 1792 waren Bonaparte ein Anstoß, seine bisherige Revolutionsbegeisterung abzukühlen. Gleichzeitig wurde ihm eine tiefe Abscheu vor dem peuple wie aller von dessen Wut getragener Aufstandsbewegungen eingeflößt. Das fand seinen Niederschlag in dem Opportunismus, den er künftig an den Tag legen sollte, wie auch in dem Kalkül, mit dem er sich gewiss war, den Aufstand des 13 Vendémiaire zu bemeistern.
Über das Geschehen hat Napoleon seinem Bruder Joseph(2) in einem Schreiben, das vom frühen Morgen des 14 Vendémiaire datiert ist, nur sehr knapp berichtet: »Der Konvent hat Barras(5) zum Armeebefehlshaber, mich zu seinem Stellvertreter ernannt. Daraufhin haben wir die Aufstellung unserer Truppen veranlasst. Die Gegner haben uns bei den Tuilerien angegriffen. Sie töteten rund dreißig unserer Leute und verwundeten rund sechzig. Wir haben die Sektionen entwaffnet, und alles ist ruhig.«[16]
Keine Rede konnte jedoch davon sein, die Regierung hätte ihn zum Stellvertreter Barras(6)’ ernannt.[17] Diesen Rang erhielt Bonaparte erst nach den Ereignissen des 13 Vendémiaire.[18] Außer Frage steht aber, dass Barras(7) gelegentlich des 13 Vendémiaire in ihm seinen wichtigsten Unterführer sehen musste, zumal er es war, der Weisung gegeben hatte, die Kanonen herbeizuschaffen, die, wie sich dann zeigte, die numerische Unterlegenheit der Regierungstruppen mehr als wettmachten. Umso mehr muss jedoch erstaunen, dass er in diesem Schreiben an den Bruder zwei Umstände mit keiner Silbe erwähnte, die seinen Ruf oder Verruf als Général Vendémiaire rechtfertigen und die ihn seither als den Hauptverantwortlichen für das Scheitern dieses Aufstands gegen den Konvent ausweisen.
Auf die Frage Barry O’Mearas(1), seines irischen Arztes während der Verbannung auf St. Helena, ob denn der Aufstand des 13 Vendémiaire viele Opfer gefordert habe, versetzte Napoleon: »Angesichts der Bedeutung dieser Aufstandsbewegung war die Anzahl der Opfer sehr gering. Auf Seiten des Volkes gab es rund siebzig bis achtzig Tote und drei- bis vierhundert Verletzte; auf Seiten der Leute des Konvents wurden fast dreißig Tote gezählt und zweihundertfünfzig Verletzte. Der Grund, warum es so wenige Tote gab, ist, dass ich nach den ersten beiden Salven der Truppe den Befehl gab, nur blind zu laden. Das genügte, um die Pariser zu erschrecken, und hatte ganz die nämliche Wirkung. Zunächst hatte ich der Truppe die Anweisung gegeben, mit Kugeln zu schießen, weil es bei einer Volksmenge, der die Wirkung von Feuerwaffen unbekannt ist, ein sehr schlechtes Mittel ist, wenn man damit beginnt, nur Pulver zu laden, denn die Menge, die zunächst einen großen Lärm vernimmt, ist natürlich ein wenig verschreckt; aber wenn sie sich dann umschaut und weder Getötete noch Verletzte gewahrt, fasst sie Mut, fängt an, einen verächtlich zu finden, wird immer frecher und fällt schließlich ohne jede Furcht über einen her. Derart ist man schließlich gezwungen, zehnmal mehr zu töten, als wenn man bei den ersten Salven mit Kugeln geschossen hätte Beim Pöbel kommt es auf die ersten Eindrücke an, die man auf ihn macht. Sobald er in seinen Rängen Tote und Verletzte bemerkt, packt ihn der Schrecken, und er stiebt augenblicklich auseinander. Wenn man deshalb gezwungen ist, das Feuer zu eröffnen, dann erweist man den humanitären Rücksichten einen schlechten Dienst, wenn man zunächst bloß Pulver verschießt; damit bezweckt man nur, statt Blut zu sparen, viel mehr zu vergießen, als notwendig ist.«[19]
Ähnlich wie gegenüber O’Meara(2) äußerte sich Napoleon auch in seinen Montholon(1) auf St. Helena diktierten Memoiren: »Es wäre falsch, zu Beginn der Aktion lediglich Pulver zu zünden; das hätte nur den Effekt gehabt, die Aufständischen zu ermutigen und die Truppen zu kompromittieren. Wahr ist aber, dass, sobald die Kämpfe begonnen hatten und der Erfolg nicht mehr in Frage stand, man nur noch Salutschüsse abfeuerte.«[20] Allem Anschein nach scheint es auch Bonaparte gewesen zu sein, der Barras(8) davon überzeugte, den Anweisungen des Direktoriums nicht Folge zu leisten, auf die Aufständischen auf keinen Fall scharf zu schießen.[21] Dafür spricht auch, dass sich Barras(9) am Abend des 13 Vendémiaire vor dem Konvent rechtfertigen musste, sich nicht an diese Anweisung gehalten zu haben, was er so begründete: »Allein es galt, Gewalt gegen Gewalt zu gebrauchen, man musste gegen die vorgehen, die den Konvent liquidieren wollten und von sich behaupteten, sie allein müssten regieren.«[22]
Im Bericht über das Geschehen des 13 Vendémiaire, den Barras(10) in den Memoiren gibt, wird das alles nicht erwähnt.
Stattdessen ist dreimal die Rede davon, er habe Anweisung erteilt, mit der Mitraille lediglich in die Luft zu schießen oder die Kanonenkugeln so abzufeuern, dass sie über die Köpfe der Angreifer hinwegfegten. Das hätte jeweils völlig ausgereicht, so Barras(11), um den Gegner in die Flucht zu schlagen.[23] Lediglich ein einziges Mal, als, wie er schreibt, »die Verteidigung ebenso legitim wie dringend geboten war«, will er befohlen haben, mit einem einzigen Geschütz die bei der Kirche Saint-Roch verschanzten Aufständischen unter gezieltes Feuer zu nehmen.[24] Diese Behauptung scheint der Kern der hartnäckigen Legende zu sein, Bonaparte habe bei der Kirche Saint-Roch auf kurze Distanz ein mörderisches Mitraillefeuer auf die auf den Stufen der Kirche dichtgedrängt stehenden Aufrührer eröffnet. Auf diese allein wegen der vermutlich großen Anzahl von Opfern spektakuläre Kanonade gibt es indes in den zeitgenössischen Quellen keinerlei Hinweis.[25] Auch hätte das damalige enge Gassengewirr um Saint-Roch es kaum erlaubt, hier mehr als ein leichtes Geschütz aufzufahren. Alles spricht also dafür, dass dieses Blutbad von Saint-Roch eine Erfindung zu rein propagandistischen Zwecken ist,[26] die vor allem wegen der Phantasie und des Könnens eines geschickten Künstlers, der dieses vermeintliche Geschehen ins Bild setzte,[27] zu einer unumstößlichen Wahrheit wurde, die seither die einschlägige Legende beglaubigt.[28] Eben darin verbarg sich aber auch eine Lehre, die Bonaparte für sich beherzigte und die er sich schon bald erfolgreich zunutze machen sollte.
Ausweislich der Opferzahlen – auf beiden Seiten waren es zwei- bis dreihundert Tote und Verwundete – erscheint es als nicht sehr wahrscheinlich, dass dichtgedrängte Menschenmassen tatsächlich unter konzentriertes Geschützfeuer genommen wurden. Viel spricht jedoch dafür, dass die meisten Toten und Verwundeten Musketenfeuer geschuldet waren. Deshalb ist zu vermuten, dass die Geschütze, die an einer Reihe strategischer Punkte im Pariser Straßengeflecht aufgestellt waren, vor allem eine abschreckende Wirkung hatten, die tatsächlich durch Salutschüsse, also durch im Grunde harmlosen Blitz und Donner, unterstrichen wurde. Auch fällt die durchwegs defensive Einstellung auf, die von den Insurgenten gezeigt wurde. Die verriet sich etwa in der mangelhaften Koordination der zwei großen Marschkolonnen, die beiderseits der Seine gegen den Konvent vorrückten. Aufschlussreich ist außerdem, dass der Angriff, den die Kolonne auf dem rechten Ufer vortragen sollte, keineswegs konzentriert erfolgte, sondern sich in einer Reihe konfuser Scharmützel an verschiedenen Straßenkreuzungen verzettelte. Schließlich gaben auch die mehrheitlich von der Pariser Bourgeoisie dominierten Sektionen deutlich zu erkennen, dass man nicht gewillt sei, sich nur wegen des verbreiteten Unmuts über die Machenschaften der »Thermidorianer« in ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang zu stürzen und das Geschäft der royalistischen Konterrevolution zu besorgen.
Allein schon diese Überlegungen und Vorbehalte dürften für den Ausgang des 13 Vendémiaire nicht weniger bedeutsam gewesen sein als die Kanonen Bonapartes. Dessen ungeachtet konnte er diesen Tag als großen Gewinn für sich und sein Renommee verbuchen. Diese Wirkung wurde jedoch erst mit einiger Verzögerung offenkundig. Das lässt sich etwa daran ablesen, dass Bonaparte keineswegs als die bête noire, als der Hauptverantwortliche für das Scheitern des Aufstands in den royalistischen Pamphleten figurierte, die sofort den Markt überschwemmten.[29] Durchaus möglich also, dass er sogar schlicht in Vergessenheit geraten wäre. Daran scheint auch Barras(12) interessiert gewesen zu sein, denn als er fünf Tage später außer den »Volontaires de 89« dem Konvent gegenüber auch eine Reihe von Offizieren rühmte, die entscheidenden Anteil am siegreichen Ausgang des 13 Vendémiaire gehabt hätten, verschwieg er ausgerechnet den Namen Bonaparte. Das jedoch ließ Louis-Stanislas Fréron(1) nicht ruhen, der deshalb unmittelbar nach Barras(13) das Wort ergriff: »Vergesst nicht Bürger, dass der General Bonaparte, der erst in der Nacht des 12 (Vendémiaire) ernannt worden ist, um (General) Menou(4) zu ersetzen, und der nur während des Morgens Zeit hatte, um seine klugen Anweisungen zu geben, deren glückliche Wirkungen Sie erlebt haben, zuvor von seiner Waffengattung abberufen wurde, um ihn zum Eintritt in die Infanterie zu zwingen. – Gründer der Republik, wollt Ihr noch länger säumen, das Unrecht wiedergutzumachen, das in Eurem Namen eine große Zahl Eurer Verteidiger erleiden mussten?«[30]
Die Intervention Frérons(2), der Bonaparte gleichsam zum Retter der Republik ausrief, war sehr à propos, denn er war der von der Familie argwöhnisch beäugte Freier von Napoleons erst fünfzehnjähriger Schwester Marie-Paulette gen. Pauline(1). Das erhellt, dass er gute Gründe hatte, dem älteren Bruder zu Gefallen zu sein. Frérons(3) Einwurf nötigte nun seinerseits Barras(14) dazu, erneut das Wort zu ergreifen und sein Versäumnis wettzumachen: »Ich bitte den Nationalkonvent um Aufmerksamkeit für den General Bonaparte: Ihm, seinen ebenso klugen wie zügig erteilten Anordnungen, ist die Verteidigung dieser Versammlung geschuldet, um die herum er mit großer Umsicht Wachen aufgestellt hatte. Ich fordere den Konvent dazu auf, die Ernennung von Bonaparte zum stellvertretenden Befehlshaber der Inlandsarmee zu bestätigen.«[31] Die Versammlung akklamierte die Ernennung Bonapartes, mit dem die allermeisten ihrer Mitglieder keinerlei Vorstellung verbanden, zum Divisionsgeneral. Zehn Tage später, am 4 Brumaire (26. Oktober), als Barras(15) zu einem der fünf Direktoren gewählt worden war und deshalb als Oberbefehlshabers zurücktreten musste, folgte ihm Bonaparte auf diesen Posten nach. Das war die letzte Amtshandlung des Konvents. »Diese große Gunst«, notierte Baron Fain(1), der im Comité militaire des Konvents tätig war, in seinem Tagebuch, »die mit einem Mal einem völlig Unbekanntem zuteil wird, wie insbesondere auch der Kontrast seiner Jugend mit der wichtigen Position, die er einnimmt, lenken alle Aufmerksamkeit auf ihn. (…) Man fragt sich, woher er kommt, was er war und durch welche früheren Verdienste er sich empfohlen hat.«[32]
Die »Armée de l’Intérieur«, deren Oberbefehlshaber Bonaparte jetzt war, wurde im Juli 1795 geschaffen und hatte eine Sollstärke von vierzigtausend Mann. Als wichtigste Aufgabe war ihr vom Wohlfahrtsausschuss der Schutz der Nahrungsmittelversorgung von Paris und die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe in der Hauptstadt und den umliegenden Departements übertragen worden.[33] Paris unterlag damit militärischer Kontrolle, denn die Inlandsarmee musste im Wesentlichen Polizeifunktionen erfüllen. Dies barg das Risiko, dass diese Streitmacht von den politischen Konflikten, die in Paris ausgetragen wurden, in Mitleidenschaft gezogen würde. Außerdem stand eine solche Verwendung im Widerspruch zur revolutionären Tradition, die stets darauf bedacht gewesen war, die Armee aus den politischen Auseinandersetzungen herauszuhalten. Das musste die Armée de l’Intérieur, die keinerlei Aussichten bot, sich Lorbeeren zu erwerben, für Offiziere noch unattraktiver machen. Für Bonaparte war genau das der Grund gewesen, seine Versetzung als Artilleriegeneral der Italienarmee zur Infanterie der West-Armee abzulehnen, die im Kampf mit den royalistischen Aufständischen stand und damit in einem Bürgerkrieg engagiert war. Das erschien ihm eine allzu große Zumutung zu sein, denn zum einen hatte die Infanterie ein geringeres Prestige als die Artillerie, und zum anderen eröffnete ein solcher Konflikt keine berauschenden Karriereaussichten für einen ehrgeizigen Militär, weshalb er es vorzog, den aktiven Dienst zu quittieren.[34]
Der Oberbefehlshaber der Armée de l’Interieur(1)(3)[35]13 Vendémiaire (4)[36]