Kann aus Hass Liebe werden?
Als wäre es nicht schon schlimm genug, dass Eve mit ihrer Familie in die Kleinstadt Minot ziehen muss, scheint es ihr neuer Nachbar Donovan auch noch auf sie abgesehen zu haben. Seine arrogante Art bringt Eve immer wieder zur Weißglut. Niemals würde sie sich auf jemanden wie ihn einlassen. Viel besser gefällt ihr sein charmanter Zwillingsbruder Tristan. Doch Donovan lässt nicht locker und Tristan scheint sich nicht für Eve zu interessieren. Sie beschließt, Donovan eine Chance zu geben. Wenn auch nur, um sich von ihren Gefühlen für Tristan abzulenken. Doch dabei erlebt sie eine Überraschung ...
Donovan & Eve
Forever by Ullstein
forever.ullstein.de
Originalausgabe bei Forever
Forever ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
März 2021 (1)
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020
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Autorenfoto: © Marko Petz Fotografie
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ISBN 978-3-95818-473-2
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»Warum stehst du wie ein Stalker am Fenster? Beobachtest du die neuen Nachbarn?«
Die Stimme, die meiner so glich, kam von irgendwo hinter meinem Rücken. Eine Sekunde später stand Tristan neben mir.
»Ich stalke nicht, ich checke die Lage«, klärte ich ihn auf.
Gemeinsam beobachteten wir, wie nebenan Männer in blauen Arbeitsoveralls aus einem Lkw mit dem Logo eines Umzugsunternehmens unfassbar viel Kram luden. Wo sollte das alles hin? Ich kannte das Nachbarhaus mein Leben lang und verbrachte viel Zeit darin, weil mein bester Freund Tanner dort wohnte. In einem bereits vollständig eingerichteten Haus. Um die ganzen Sachen aus dem Lkw unterzubringen, wären locker weitere zweihundert Quadratmeter Stauraum nötig gewesen.
Aber das war nicht mein Problem. Viel interessanter war, wer dort einzog.
Tanner jammerte seit Wochen, wie anstrengend es sein würde, mit vier – beziehungsweise bald fünf – Frauen zusammenleben zu müssen. Nichts mehr mit reinem Vater-Sohn-Männerhaushalt. Mitleid hatte ich keins, ich musste mich selbst mit zwei Schwestern, einem Bruder, einem Quasi-Schwager und meinem Dad arrangieren. Aber im Gegensatz zu Tanner machte mir das nichts aus. Ohne sie alle wäre es langweilig. Ich war nicht gern allein.
Wieder und wieder liefen die Umzugshelfer ins Haus. Wie bei der Ameisenstraße auf unserer Terrasse. Gerade schleppten zwei Typen ein Klavier. Im Ernst? Ein Klavier? Tanner und sein Dad waren ungefähr so musikalisch wie eine Dose Bier. Genauso seltsam war der Gartenzwerg, ich wiederhole, Gartenzwerg!, der auf der Laderampe herumlungerte und Tristan und mich dämlich grinsend anglotzte. Was waren das für Menschen? Klaviere und Gartenzwerge und dunkle Möbelstücke wie aus einem Südstaatenfilm.
Die neuen Bewohnerinnen entdeckte ich nirgends.
»Bedeutet ›Lage checken‹ nach Tanners neuer Stiefschwester Ausschau zu halten? Gib's zu, du planst jetzt schon, sie flachzulegen.« Tristan gluckste albern und stieß mir mit dem Ellbogen in die Seite. Wie ein Zehnjähriger. In solchen Momenten zweifelte ich an unserer Verwandtschaft. Er konnte nicht über Sex und alles, was dazugehörte, sprechen, ohne rot zu werden. Obwohl er und Rylee oft welchen hatten.
Mit seiner Theorie hatte er nicht ganz unrecht. Er kannte mich eben gut. Tanner hatte nicht viel von Eve, der ältesten der drei Schwestern, erzählt, nur dass sie gerade die Highschool beendet hatte, abnormal schlau und ganz nett war. Seine Worte, nicht meine. Ich kannte sie ja nicht. Noch nicht.
»Vielleicht ist sie ja potthässlich, dann will ich sie nicht«, überlegte ich laut, meinte es aber nicht ernst. Ich wollte damit nur meinen Bruder provozieren. Meine drittliebste Beschäftigung neben Frauen und Party.
»Niemand ist hässlich, das ist alles Geschmackssache. Außerdem besitzt jeder Mensch liebenswerte und damit schöne Eigenschaften. Attraktivität ist nicht alles«, belehrte mich mein Moralapostelbruder wie erwartet.
Ich zuckte die Schultern und grinste in mich hinein. Auf so etwas antwortete ich schon lange nicht mehr. Natürlich hatte er recht, aber das würde ich ihm nicht unter die Nase reiben.
Ich hatte kein bestimmtes Beuteschema. Eine Frau und eigentlich jeder Mensch, mit dem ich mich näher befassen wollte, auch abseits von Sex, musste allerdings etwas ausstrahlen, das mich reizte. Das schloss auch das Verhalten mit ein. So oberflächlich, dass ich nur auf das Aussehen achtete, war ich nicht. Obwohl mir das Leute, die mich nicht kannten, oft unterstellten. Für viele war ich nichts weiter als ein schwanzgesteuerter Prolet. Mit mir konnte man feiern und das Leben genießen. Spaß haben. Wie einer dieser klischeehaften gut aussehenden, aber dummen Kerle in den Sitcoms. Tristan war für Konversation und Tiefe zuständig. Aber ich scherte mich nicht um andere. Meine Freunde und Familie wussten, wie ich tickte und dass ich auch andere Seiten hatte, die ich nur nicht jedem zeigte. Das genügte mir.
»Warum bist du so besessen von dieser Eve? Gibt es am College keine Mädchen mehr, die du nerven kannst?«, fragte Tristan.
»Ich bin nicht besessen. Ich bin neugierig.«
Er verdrehte die Augen und schnaubte. Ein Spucketröpfchen landete dabei auf meiner Scheibe, weswegen ich seinen Arm packte und mit seinem Ärmel das Fenster sauber wischte. Er war so überrumpelt, dass er sich nicht einmal wehrte. Erst nach ein paar Sekunden riss er sich los und funkelte mich mit seinem Genervtblick an, den ich wie üblich ignorierte. Demonstrativ steckte er die Hände unter die Achseln.
»Außerdem hat mir Tanner verboten, sie klarzumachen. Er will keinen Stress, sagt er. Und Stress wäre mein zweiter Vorname.«
»Wohl eher der erste«, murmelte mein Bruder, woraufhin ich lachte. Ich war nicht stolz darauf, ständig wegen irgendwas mit irgendwem Ärger zu bekommen. Aber so wurde es zumindest nie fad. Ich hasste Langweile. Deswegen machte ich auch oft genau das Gegenteil von dem, was man von mir erwartete. Verbote stachelten mich geradezu an, sie zu brechen.
»Vielleicht hast du ohnehin keine Chance. Weil sie lesbisch ist. Oder asexuell. Oder da, wo sie herkommt, einen wahnsinnig tollen Freund hat, gegen den du nicht anstinken kannst. Einen mit Niveau.«
»Hm«, antwortete ich bloß. Tatsächlich kam es mir höchst merkwürdig vor, dass Tanner mir mit seiner umgekehrten Psychologie quasi einen Freifahrtschein bezüglich Eve ausgehändigt hatte. Irgendeinen Haken musste es an der Sache geben. Was mich aber nicht davon abhalten würde, Eve anzubaggern. Schon allein, um Tanner zu nerven.
»Willst du unbedingt deinem Ruf als Frauenheld gerecht werden?«
»Mein Ruf geht mir am Arsch vorbei.«
Tristan nickte.
Eine Weile standen wir am Fenster und sahen den Menschen beim Arbeiten zu. Tristan auf das Fensterbrett gestützt, ich mit den Händen in den Taschen meiner Jogginghose.
Zwei kleine Mädchen im Grundschulalter rannten aus dem Haus. Beide hatten rosa Kleidchen an und ihre blonden Haare zu zwei Zöpfen geflochten, die auf und ab hüpften. Sogar von meinem Platz im ersten Stock aus konnte ich die Sommersprossen auf den Gesichtern erkennen. Sie spielten im Vorgarten und lachten so fröhlich, wie ich es bei meiner eigenen kleinen Schwester seit gefühlt hundert Jahren nicht mehr erlebt hatte. Sie wirkten glücklich. Normal.
In dem Moment betrat Parker mein Zimmer. Ohne hinzusehen, erkannte ich sie an ihrem leicht schlurfenden Gang und der gedämpften Musik. Parker war selten ohne Kopfhörer unterwegs. Nur beim Essen nahm sie sie ab, weil Morgan nicht nur darauf bestand, dass wir mindestens einmal pro Tag gemeinsam am Tisch saßen, sondern dass wir uns dabei auch unterhielten. Freiwillig tat Parker das nicht. Ihr war dieses gezwungene Familiending zu viel.
Mir nicht. Auch wenn ich es nicht zugab, liebte ich die gemeinsame Zeit mit meinen Geschwistern, meinem Dad und Nate. Es erinnerte mich daran, wie nah wir uns alle standen und was für ein Glück ich mit ihnen hatte. Einer der Gründe, warum Tristan und ich zum Studieren in Minot geblieben waren. Wir hingen schlichtweg zu sehr aneinander. Außerdem war es billiger. Man konnte viel über uns behaupten, aber nicht, dass wir reich waren. Zwar verdiente Nate mittlerweile sehr gut an seinen Büchern, hatte dieses Haus gekauft und finanzierte uns das College, aber es war immer noch sein Geld. Irgendwann würde ich ihm alles bis auf den letzten Cent zurückzahlen.
Wortlos stellte sich Parker neben uns. Ich legte meinen Arm um ihre Schultern und erstaunlicherweise schüttelte sie mich nicht ab und gab keinen bissigen Kommentar von sich.
Mit ihrer Coladose zeigte sie nach draußen. »Sind das die Neuen?«
Ich nickte. »Sieht so aus.«
Parker nahm einen Schluck von ihrem Getränk, rülpste leise und wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen. »Wo sind die anderen?«
Bevor ich antworten konnte, ergriff Tristan das Wort. »Verstecken sich wahrscheinlich vor ihm da.« Überheblich grinste er mich an.
Diesmal verdrehte ich die Augen und stieß genervt Luft aus. »Haha«, sagte ich bloß und zeigte ihm den Mittelfinger.
Einen Augenblick später kam Tanner aus dem Haus, gleich hinter ihm eine Frau, die aussah wie die Mädchen, nur in alt und mit Erwachsenenfrisur. Tanners Dad hatte seinen Arm um ihre Mitte geschlungen und grinste breit. Seine Mundwinkel berührten fast seine Ohren. Die zwei Mädchen hüpften synchron im Pferdchensprung zu ihrer Mom und ihrem neuen Dad und Bruder und rannten um die drei herum. Als die Frau etwas sagte, stoppten die Mädchen und setzten sich auf die Eingangsstufen. Ihre Mom lächelte.
Wenn Dad oder Morgan etwas von uns wollten, mussten sie es mindestens zehnmal sagen, bis wir überhaupt reagierten. Heute genauso wie früher. So perfekte Familien wie die nebenan waren mir immer ein wenig suspekt.
»George wirkt glücklich«, meinte Tristan. »Das hat er wirklich verdient.«
Ja, das hatte er. Tanners Mom war vor ein paar Jahren an Krebs gestorben. Seitdem war sein Dad Single gewesen, obwohl jede alleinstehende Frau in Minot gern die Frau von Frauenarzt Dr. George Myers geworden wäre. Doch der hatte sich zwar um ihre Mösen und Brüste, nicht jedoch um ihre Herzen gekümmert. Und Ersteres auch nur rein beruflich. Zumindest, wenn man Tanners Erzählungen glauben konnte, dass sein Dad quasi im Zölibat gelebt hatte. Vermutlich hatte das jetzt ein Ende, denn der Blick, den George seiner Freundin zuwarf, war alles andere als harmlos. So sah Tristan Rylee an. Oder Nate Morgan. Mich hatte noch nie jemand so angeschaut. Außerdem war sie sichtbar schwanger. Und wenn sie nicht die wiederauferstandene Jungfrau Maria war, hatten George und sie also eindeutig Sex.
Für ihr Alter war Georges Freundin ziemlich attraktiv und hätte problemlos in einem Milf-Porno mitspielen können. Wobei ich jüngere Frauen bevorzugte. In Pornos wie im echten Leben.
Wie die, die gerade durch die Eingangstür trat. Vor Schreck gab ich ein ersticktes Geräusch von mir, das ich mit einem vorgetäuschten Hustenanfall zu verbergen versuchte.
Das musste Eve sein.
Und jetzt war mir klar, warum Tanner sie unbedingt vor mir verstecken wollte.
Sie war der Wahnsinn!
Ich wollte sie nicht nur, um Tanner eins auszuwischen.
Ihre leuchtend blonden Haare wogten beim Laufen wie Wellen am Strand. Ebenso wie ihre großen Brüste, die sie jedoch nicht wie so viele Mädchen mit einem engen Shirt oder einem tiefen Ausschnitt betonte.
Mein Mund wurde trocken und ich schluckte krampfhaft.
Fuck! Ich war erledigt. Schockverliebt sozusagen. Oder schockgeil. Was auch immer.
Ihre langen Beine steckten in unfassbar engen Jeans, die ihren unglaublichen Po betonten. Die Füße in flachen Sandalen, ihre kurzärmelige beige Bluse war trotz der Bullenhitze draußen bis oben zugeknöpft. Nur ein winziges Stück ihres Halses blitzte heraus. Soweit ich es von hier aus beurteilen konnte, war sie ungeschminkt oder auf eine Art geschminkt, die man nicht erkennen konnte. Ihre Augenfarbe konnte ich nicht ausmachen, dafür war sie dann doch zu weit weg. Schade. Diese Information erschien mir momentan überlebenswichtig. Dabei war mir so was sonst egal. Sicher roch sie genauso gut, wie sie aussah und sich bewegte. Sie war der Typ Mädchen, dem es nicht bewusst war, wie sexy er war. Trotz ihres Körpers, der jeden heterosexuellen Kerl zum Sabbern bringen musste, wirkte sie irgendwie unschuldig. Woran ich das festmachte, konnte ich nicht sagen. Es war mehr so ein Gefühl. Aber es machte mich nur noch neugieriger auf sie.
»Die wird ab sofort nebenan wohnen?« Parker sah mich an und prustete los. »Dann hast du ein verfluchtes Problem, Bruder.«
Tanner konnte mich mal kreuzweise mit seinem Verbot. Ich konnte Eve unmöglich ignorieren.
»Viel Spaß«, fügte Parker lachend hinzu und verließ immer noch kichernd mein Zimmer. Ich hasste sie.
»Sie sieht nicht so aus, als wäre sie an Typen wie dir interessiert«, sagte Tristan und durchbrach meine Gedanken.
Ich hob die Augenbrauen. »Wie kommst du darauf, Brudi? Bist du seit Neuestem nicht nur ein Klugscheißer, sondern auch ein Hellseher, oder was? Wie sehen denn Frauen aus, die an Typen wie mir interessiert sind?«
Er zuckte die Schultern. »Ich mein ja nur«, brummelte er in seinen nicht vorhandenen Bart.
»Deine Meinung ist mir in dem Fall so egal, wie welche Unterhose du heute trägst.«
»Die gestreiften Retropants«, informierte er mich genauso dämlich lachend wie Parker.
»Ich geh da jetzt rüber. Irgendwann müssen sie mich kennenlernen, dann kann es genauso gut gleich sein.«
Ich stieß mich vom Fensterbrett ab, fuhr mit den Fingern durch meine Haare und lief Richtung Tür.
Aber Tristan hielt mich auf. »Willst du nicht wenigstens ein T-Shirt anziehen? Die Armen bekommen ja sonst einen Schock fürs Leben. Oder denken, sie wohnen neben einem Irren.«
Dass ich kein Oberteil trug, hatte ich spontan ganz vergessen. Ich liebte es, möglichst wenig anzuhaben. Dann fühlte ich mich frei. Nur weil meine Familie darauf bestand und sonst ein Riesentheater veranstaltete, lief ich nicht den ganzen Tag nackt herum.
Seufzend zog ich das oberste Shirt aus der Kommode und schlüpfte hinein. Auf Schuhe verzichtete ich, setzte aber noch meine Sonnenbrille und mein bestes Lächeln auf.
Es war schön, meinen Schwestern beim Herumtollen zuzusehen. Endlich benahmen sie sich wie die zwei kleinen Mädchen, die sie waren. Nach dem Unfalltod meines Dads waren die beiden oft traurig gewesen. Nicht, weil sie um Dad als Person trauerten, beide waren damals zu klein gewesen, um sich wirklich an ihn zu erinnern. Es war vielmehr die Vorstellung eines Daddys, wie andere ihn hatten. Jemand, der mit ihnen spielte, sie bei Schulveranstaltungen beklatschte, sie auf den Schultern trug, die Monster aus dem Schrank verjagte. Ich selbst vermisste Dad schrecklich. Jeden Tag. Aber ich hatte gelernt, mit dem Verlust zu leben. Nach vorn zu blicken und nicht am Schmerz zugrunde zu gehen. Nach all den Jahren tat es immer noch weh, an ihn zu denken. Mich zu erinnern. Aber nicht mehr so sehr, dass ich kaum atmen konnte.
Ich sprach nie darüber. Mit niemandem. Nicht mit meinen Freundinnen, und erst recht nicht mit Mom. Ich konnte die Vergangenheit nicht ändern. Konnte den außer Kontrolle geratenen Van nicht stoppen. Stattdessen schloss ich die Trauer in mir ein und gab ihr keine Chance, mich zu zerstören.
Mom war jahrelang nur ein Schatten ihrer selbst gewesen. Bis sie George traf. Das Witwendasein, die lebenslange Wunde, die ein geliebter Verstorbener hinterließ, verband Mom und ihn auf ganz besondere Weise. Sie hatte mit ihm eine neue große Liebe gefunden und meine Schwestern das, was sie sich wünschten: eine intakte Familie mit Vater, Mutter und uns Kindern und sogar Tanner als Bonusbruder. Auch wenn wir dafür Tausende Kilometer von unserem Zuhause wegziehen mussten.
Die beiden starteten voller Vorfreude in ihr neues Leben. Ich war noch skeptisch. Chicago war mein Zuhause und ich vermisste es schon jetzt. Ich liebte das Großstadtleben und die Möglichkeiten, die sich dort boten. Ganz anders als hier, wo nichts los war. Da änderte auch Tanners Lobgesang auf Minot nichts.
Natürlich hätte ich auch in Chicago bleiben können oder das Ende der Highschool nutzen können, um woanders ans College zu gehen. Mit meinen Noten hätte ich frei wählen können. Aber das hatte ich nicht gewollt. Meine Familie war mein Ein und Alles. Ohne sie zu sein, konnte ich mir nicht vorstellen. Sosehr ich an Chicago hing.
Und Mom brauchte mich. Vor allem jetzt, seit sie wieder schwanger war. Ungeplant übrigens. Dabei waren George und sie beide Frauenärzte, die eigentlich wissen sollten, wie Verhütung funktionierte. Irgendwie absurd. Noch dazu, weil Mom mittlerweile auf die fünfzig zuging. Bereits bei Aurora war sie – medizinisch gesehen – schon nicht mehr ganz jung gewesen. In Minot wollte sie in Georges Praxis einsteigen und mit ihm neben dem normalen Tagesgeschäft das erste Kinderwunschzentrum der Gegend gründen. Wenn das keine Ironie des Schicksals war …
»Grrroooaaarrr!«
Mein neuer sogenannter Bruder rannte mit lautem Löwengebrüll hinter Aurora und Gabriella her, die kreischend versuchten, ihm zu entkommen. Obwohl ich ihn erst wenige Male getroffen hatte, mochte ich ihn und seine unaufgeregte, positive Art und wie selbstverständlich und offen er mit meinen Schwestern umging.
Mom lächelte und schmiegte sich an George, der seine Hand auf ihren gewölbten Bauch legte. Wieder einmal erschien mir der Gedanke, nicht mehr bei dieser wunderbaren Familie zu leben, unvorstellbar.
Der Lkw war immer noch halb voll und mein zukünftiges Zimmer ein einziges Chaos. Ich hasste Unordnung.
Ich ließ meinen Blick durch den Vorgarten schweifen, über meine alte und meine neue Familie, die Arbeiter und die Straße. Alles wirkte gepflegt. Bis auf das Haus nebenan. Es war nicht schmuddelig oder heruntergekommen, aber man erkannte auf den ersten Blick, dass hinter den Mauern echtes Leben existierte. Nicht wie bei so vielen anderen, wo es wirkte wie in einem Immobilienkatalog. Sauber und gestylt, aber irgendwie tot. In der geöffneten Garage der Nachbarn lehnten Fahrräder an der Wand, Regale quollen über vor Dingen, Schuhe unterschiedlicher Größe und Ausführungen lagen kreuz und quer vor und neben der Haustür, Gartengeräte standen herum, ein umgekippter Blumentopf rollte beinahe von der Veranda. Aus dem Augenwinkel nahm ich eine Bewegung in einem der Fenster im ersten Stock wahr und als ich genauer hinsah, winkte mir ein junger Mann zu.
Im nächsten Moment stand er vor mir und grinste mich an. Ich erschrak so sehr, dass ich aufschrie und zurückruckte.
Er lachte. »He, so schrecklich sehe ich doch gar nicht aus!«
Nein, tat er wirklich nicht. Im Gegenteil.
»Warst du nicht eben noch da oben? Kannst du dich wie ein Vampir dematerialisieren oder so?«, fragte ich, während ich meine Hand auf meine Brust presste, wo mein Herz heftig pochte.
Er drehte sich um und blickte zum Fenster, das jetzt leer war. »Das ist zwar mein Zimmer, aber das war mein Bruder«, klärte er mich auf. »Wir sind eineiige Zwillinge.« Grinsend streckte er die Hand aus. »Ich bin Donovan. Dein Nachbar und der beste Freund von deinem nigelnagelneuen Stiefbruder. Willkommen in Minot.«
Weil ich gut erzogen war, schüttelte ich seine Hand. Ohne dabei meine Finger loszulassen, verbeugte Donovan sich leicht. Mit seinen blonden Haaren, seinen tiefblauen Augen und seiner sportlichen Figur konnte man ihn als attraktiv bezeichnen. Falls einem das Äußere wichtig war. Mir auf jeden Fall nicht. Eine schöne Hülle war ohne entsprechende Persönlichkeit nichts wert.
Seine Stimme klang dunkel und hatte einen neckischen Unterton. Und er war eindeutig von sich überzeugt. Er sah mich mit diesem Blick an, den Männer aufsetzten, die dachten, ihnen würde die Welt – vor allem die Frauenwelt – gehören. Deswegen ließ ich mich von Donovans Charme nicht täuschen und erst recht nicht einwickeln. Ich wollte einen kultivierten Mann, der Frauen nicht als Spiel- oder Sexobjekt ansah, sondern der sich ehrlich für sein Gegenüber interessierte. Für den ganzen Menschen, nicht nur für einzelne Körperteile. Was die Sache erschwerte, denn solche Männer waren rar gesät. Oder vielleicht war ich ihnen einfach noch nicht begegnet. Donovan schien mir nicht dazuzugehören. Dafür wirkte er zu selbstgefällig. Männer mit Stil grinsten nicht, sie lächelten. Und sie verbeugten sich nicht so affig.
Ich zwang mich zu einem Lächeln, was mir allerdings schwerfiel, denn Donovan strahlte etwas aus, das mich irgendwie triggerte. Ohne dass er mir einen rational nachvollziehbaren Grund gegeben hätte, erzeugte er eine Abwehrhaltung. Gleichzeitig tat es mir leid, ihn abzustempeln, ohne ihn vorher kennenzulernen.
»Ich habe doch gesagt, du sollst wegbleiben«, motzte Tanner, der plötzlich neben uns aufgetaucht war, und bestätigte damit unbewusst meinen Eindruck. Schnell ließ ich Donovans Hand los. Tanner wirkte genervt und sah Donovan mit zusammengezogenen Augenbrauen an. »Kannst du nicht einmal das machen, worum man dich bittet?«
»Nö«, erwiderte Donovan ungerührt und lachte. Sein Lachen wirkte im Gegensatz zum Rest von ihm nicht aufgesetzt oder übertrieben. Sondern so, als wäre er schlichtweg ein fröhlicher Mensch. »Ich musste mich doch vorstellen. Nachbarschaftspflege nennt man so was.« Er zwinkerte mir zu und schmunzelte, als wären wir Verbündete.
Ich verschränkte die Arme. Was dachte der Kerl eigentlich, wer er war? Zwinkern? Ernsthaft?
»Aufdringlich nennt man so was, nicht Nachbarschaftspflege«, brummte Tanner. Er wandte sich mir zu. »Du musst ihn gleich in seine Schranken weisen, sonst wirst du ihn nicht mehr los.«
Keine Sorge, ich durchschaute Donovan. Ich ließ mir nichts gefallen.
»He, wie redest du über mich?«, beschwerte sich der, schien aber nicht wirklich beleidigt. Vielleicht kannte er solche Bemerkungen schon. Oder ihm waren die Meinungen von anderen egal, was im Grunde ein beneidenswerter Wesenszug war. Das ersparte viel Frust, Selbstzweifel und Traurigkeit.
Aurora hüpfte zu uns, dicht gefolgt von Gabriella, die mit ihren elf Jahren kindlicher wirkte als ihre achtjährige Schwester. Gabriella war als extremes Frühchen auf die Welt gekommen und hatte sich bei der Geburt mit Streptokokken infiziert, die eine Hirnhautentzündung ausgelöst hatten. In ihrer geistigen und sozialen Entwicklung lag sie deutlich hinter Gleichaltrigen zurück, sie entsprach in etwa der eines Kindergartenkinds. Für mich allerdings war sie einfach nur Gabriella.
»Wer bist du?«, fragte Aurora mit ihrer hohen Stimme.
Sie legte den Kopf ein wenig schief und machte große Augen, um möglichst süß auszusehen. Das mit der sozialen Interaktion – und der unterschwelligen Manipulation anderer Menschen – hatte sie eindeutig besser drauf als ich. Und wie üblich funktionierte ihre Masche, denn Donovan lächelte und beugte sich hinunter, bis sein Gesicht auf Höhe ihres war.
»Ich bin Donovan. Ich wohne nebenan.« Mit dem Daumen zeigte er über die Schulter auf sein Haus. »Und zufällig bin ich auch der beste Freund von dem Fettsack hier.« Er nickte in Richtung Tanner, der zwar stämmig, aber alles andere als dick war.
»So was darf man nicht sagen«, verbesserte ihn Aurora und piekste ihn zur Untermauerung in die Brust. »Man darf niemanden beleidigen, weil man damit andere verletzt. Und weil man nie weiß, warum jemand ist, wie er ist. Wenn jemand dick ist, hat er vielleicht eine Krankheit, und sich darüber lustig zu machen, ist niederträchtig und gemein.«
Donovans Mundwinkel zuckten, gleichzeitig schien er verunsichert. Nach kurzem Zögern rappelte er sich auf, ging die paar Schritte zu Tanner und klopfte ihm auf die Schulter. »Er weiß, wie ich das meine. Das ist wie ein Kosename, verstehst du, Kleines?« Er boxte Tanner in die Seite, der leise ächzte, aber nicht widersprach. »Er nennt mich dafür Arschloch.« Er lachte erneut und zwickte Tanner in den Po. Als Ausgleich schubste ihn der, sodass Donovan strauchelte. Er rächte sich, indem er seine Hände gegen Tanner stieß. Innerhalb weniger Sekunden rangelten sie wie zwei Zehnjährige.
Aurora stemmte die Hände in die Hüften. »Auch das ist keine angemessene Ansprache, Donovan. Und klein bin ich auch nicht. Für mein Alter bin ich völlig durchschnittlich groß. Keinerlei Abweichen von den Perzentilen in irgendeine Richtung.«
Gabriella hatte bereits das Interesse verloren und war zu Mom gelaufen, die sie an der Hand ins Haus führte.
Donovan ließ endlich von Tanner ab und sah Aurora schmunzelnd an. »Du drückst dich ja ganz schön geschwollen aus.« Ich meinte, Anerkennung in seiner Stimme zu hören. »Du bist ein schlaues Mädchen, oder?«
Sie nickte und grinste. »Ich wurde getestet. Mein IQ liegt bei 148, wobei der Test erst endgültig aussagekräftig ist, wenn der Schriftspracherwerb abgeschlossen ist.« Sie verzog das Gesicht. »Dabei kann ich schon seit Jahren lesen und schreiben. Trotzdem darf ich erst wieder mit zehn den nächsten Test absolvieren.«
Donovan wirkte beeindruckt, aber auch ein wenig verwirrt. Eigentlich war er hier aufgetaucht, um mich abzuchecken, nicht um Auroras Lebensgeschichte zu erfahren.
»Ich bin also hochbegabt«, redete Aurora weiter. »Wie Mom. Und meine Schwester Eve.«
Donovans Blick ruckte zu mir. Nachdenklich und erstaunt und überfordert. Diesen Gesichtsausdruck kannte ich. Viele konnten mit Hochbegabung nicht umgehen. Oder dachten, man wollte damit angeben oder hatte übermotivierte Eltern. Dabei war es nichts, worauf man stolz sein konnte. Es war nicht mein Verdienst, sondern eine genetische Variante, wie Segelohren oder Musikalität oder Laktoseintoleranz.
»Du musst das nicht jedem erzählen«, erklärte ich Aurora zum hundertsten Mal. »Auf andere Leute wirkt es schnell arrogant, wenn man das betont. Außerdem geht das niemanden etwas an. Wir beurteilen Menschen nicht nach der Höhe ihres IQs. Der sagt nämlich nichts über den Charakter aus.«
Aurora runzelte die Stirn. »Aber es gehört zu mir. Warum darf ich es dann nicht erwähnen?«
»Schon okay«, beschwichtigte Donovan. »Ich verurteile dich nicht, nur weil du schlauer bist als ich.« Er zwinkerte wieder und Aurora lächelte erleichtert. »Mein Bruder ist auch ein Intelligenzbolzen.«
Tanner lachte tonlos. »Komischerweise hat sich beim Teilen des Eis die Intelligenz nur auf Tristans Seite niedergeschlagen.«
Was sehr unwahrscheinlich war. Doch bevor ich einhaken konnte, gab Aurora ein Quieken von sich. Sie klatschte und riss wieder ihre Augen auf. »Du hast einen eineiigen Zwilling? Wie cool ist das? Ich lese gerade ein Buch über Studien an Zwillingen. Manche davon sind moralisch höchst fragwürdig.«
»Du bist erst …« Donovan stockte. »Wie alt? Neun? Und liest solche Sachen? Das ist krass.«
Er dagegen wirkte nicht, als würde er überhaupt jemals lesen, außer die Bedienungsanleitung für seine Spielkonsole oder die Speisekarte vom Pizzaservice. Vererbte Intelligenz hin oder her, man musste sie auch einsetzen.
»Ich bin acht.« Aurora zuckte die Schultern und stieß ein abfälliges Geräusch aus. »Bücher für mein Alter sind Babykram.«
»Willst du nicht reingehen und Mom fragen, ob du ihr etwas helfen kannst?«, schlug ich vor.
Mir war Auroras forsches Auftreten ein wenig unangenehm, obwohl das ihr übliches Verhalten war. Wen sie kennenlernen wollte, der hatte keine Chance, sich ihr zu entziehen. Darin unterschieden wir uns grundlegend. Ich war nicht schüchtern oder introvertiert, ich brauchte nur länger, um mit anderen warm zu werden. Und suchte mir im Vorfeld genau aus, wem ich mich öffnete. Ich war einfach zu oft enttäuscht worden.
»Okay.« Sie winkte Donovan zu und rannte dann mit fliegenden Zöpfen ins Haus.
Grinsend sah Donovan ihr nach. »Ich mag sie.« Er lachte und tätschelte Tanner den Rücken. »Tja, mein Freund, das geruhsame Leben ist wohl vorbei.«
Der stieß in einem langen Atemzug Luft aus, antwortete aber nichts. Sicher war es nicht leicht für ihn, plötzlich vier fremde Frauen im Haus zu haben. Wobei die jüngste pausenlos redete, die mittlere ständig Körperkontakt suchte, die Erwachsene alle mit ihrer Liebe fast erdrückte und ich eigentlich nicht hier sein wollte. Trotzdem hatte er uns vorbehaltlos aufgenommen und behandelte uns, als wären wir schon immer befreundet.
Donovan schob lässig die Hände in die Hosentaschen seiner Jogginghose. Hatte er keine ordentlichen Hosen? »Und du bist also auch hochbegabt?«, fragte er mich.
»Und? Stört dich das etwa? Hast du ein Problem mit intelligenten Frauen?«, fragte ich. Es klang zickiger als beabsichtigt. Dabei war ich eigentlich keine Zicke, sondern ein ausgeglichener, friedfertiger und vorurteilsfreier Mensch. Warum Donovan gegenüber nicht?
Viele Männer hatten tatsächlich ein Problem mit Intelligenz. Vor allem, wenn man wusste, was man wollte, Prinzipien hatte und die auch durchsetzte und sich nicht einfach beschlafen ließ. Deswegen hatte Elliot mich auch verlassen. Weil ich nach vier Monaten Beziehung immer noch keinen Sex mit ihm wollte und mich weigerte, ihm einen zu blasen. Frigide Schlampe war eins der harmlosen Worte, mit denen er mich bezeichnet hatte. Wie so viele andere war er außerdem nicht damit klargekommen, dass ich mich nicht für die seiner Meinung nach typischen Mädchendinge wie Shoppen und Schminken, Geschenke und Jungs interessierte, sondern lieber mein Gehirn anstrengte oder arbeitete. Manchen mieden mich deswegen sogar. Als wären kluge Menschen weniger attraktiv oder begehrenswert. Oder gruslig. Oder hätten eine ansteckende Krankheit.
»Nö, wieso sollte es mich stören?« Das klang tatsächlich glaubwürdig. Meine kurze Sympathieaufwallung relativierte sich jedoch mit dem nächsten Satz sofort wieder. »Ich bin auch hochbegabt. In anderen Bereichen.«
Bitte nicht solche Sprüche. Warum lief bei bestimmten Männern zwangsläufig alles auf das eine Thema hinaus? Gab es wirklich keine, denen Gespräche oder sich menschlich weiterzuentwickeln wichtiger waren? Er wackelte mit den Augenbrauen und zwinkerte wieder. Dann lachte er. Leider sah er dabei nicht so arrogant aus, wie seine Worte klangen. Er war wirklich attraktiv. Das war nicht zu leugnen. Unbestritten war allerdings auch, dass ich Typen wie ihn nicht ausstehen konnte.
Auf seine eindeutig zweideutige Anspielung ging ich trotzdem nicht ein. Das Gespräch war mir zu doof.
»Gehst du mit mir aus?«, fragte Donovan aus heiterem Himmel. Offenbar schien ihn mein Schweigen noch mehr anzustacheln.
»Nö, wieso sollte ich?«, sagte ich und griff damit seine eigene Antwort von vorhin auf.
Er fuhr sich durch die Haare, wobei sein Shirt nach oben rutschte und ein Stück nackten Bauch zeigte, was ihn aber nicht zu stören schien.
»Um deinen neuen Nachbarn kennenzulernen«, sagte er in einem Ton, als gäbe es diesbezüglich keine Zweifel.
»Er will dich flachlegen«, präzisierte Tanner. »Also sag am besten gleich Nein.«
Donovan schüttelte den Kopf, dann nickte er und zuckte mit den Schultern. »Spielt das eine Rolle?«
Natürlich tat es das. Ich war keine Jagdtrophäe. »Ich gehe nicht mit dir aus. Wir kennen uns gerade mal eine halbe Stunde.«
»Na und?«, fragte er.
Wollte er eine ehrliche Antwort?
Tanner beugte sich zu mir. »Er kann auch nett sein. Eigentlich ist er kein Arsch. Trotzdem: Halt ihn dir vom Leib. Er mutiert sonst zum Parasiten. Wie so ein Blutegel.« Zur Verdeutlichung krallte er seine Nägel in meinen Arm. Ein Schaudern durchlief seinen Körper. Allerdings lächelte er auch, weshalb ich davon ausging, dass er Donovan trotz seiner Penetranz mochte. Er richtete sich wieder auf und streckte entschuldigend die Hände von sich. »Nur mein Rat.«
Für diese Erkenntnis brauchte ich keinen Tanner. Bereits nach wenigen Minuten wusste ich, dass Donovan kein Mann war, mit dem ich mich näher beschäftigen wollte. Dazu war er mir zu schön, zu selbstbewusst und selbstbezogen, zu aufdringlich, zu redselig, zu alles eben. Aber vielleicht unterschätzte ich ihn oder steckte ihn in eine völlig falsche Schublade. Nur hatte ich momentan keine Lust, das herauszufinden, weil er mich nur nervte.
»Lass sie einfach in Ruhe und verschwinde. Du siehst doch, dass sie nicht will«, sagte Tanner zu seinem Freund.
Der grinste wieder und wippte auf den Ballen vor und zurück. »Ich gehe erst, wenn sie zustimmt, mit mir auszugehen.« Er schob die Unterlippe vor und sah mich an wie Gabriella, wenn sie noch mehr Eis wollte. Er faltete die Hände wie zum Gebet. »Komm schon. Bitte sag Ja.« Er blinzelte und gab ein Jammergeräusch von sich.
Ich schüttelte den Kopf. Mich beeindruckte sein Schauspiel nicht.
Theatralisch seufzte er und fasste sich an die Brust. »Du brichst mir das Herz.« Wieder klimperte er mit seinen unverschämt langen Wimpern.
Verwirrt und Hilfe suchend sah ich zu Tanner, der genervt die Augen verdrehte.
»Ist der immer so?«, fragte ich ihn.
Mit bedauerndem Gesichtsausdruck nickte Tanner. »Kann man so sagen.« Er seufzte. »Ich liebe ihn trotzdem. Ich kann nichts dafür.«
Was bedeutete, dass Donovan vermutlich öfter bei uns herumhängen würde. Na prima. Gut, dass ich eine abschließbare Zimmertür hatte.
»Ooohh«, säuselte Donovan und legte seinem Freund den Arm um die Schulter. »Ich liebe dich auch, mein Teuerster.« Er küsste Tanner schmatzend auf die Wange und rieb wie eine Katze seinen Kopf an seiner Schulter. Tanner verzog das Gesicht und versteifte sich, wehrte sich aber nicht. »Wenn du richtige Brüste statt deiner Specktitten hättest, wärst du meine große Liebe.« Schnurrend kniff er Tanner in den Bauch.
»Du hattest schon etwas mit Männern, schon vergessen?«, warf der ein und stieß Donovan von sich.
»Natürlich nicht. Ich vergesse niemals eine Person, mit der ich Sex hatte. Und sie mich garantiert auch nicht.«
Wieder lachte er. Seine Fröhlichkeit war zweifellos das Sympathischste an ihm. Eindeutig nahm er das Leben – und Sex – nicht besonders ernst. So eine Haltung konnte ich nicht verstehen. Leben brauchte Sinn. Nicht nur Spaß. Richtigen Sinn, der anderen nützte. Dem Planeten. Oder der Gesellschaft. Oder auch Einzelnen. Nichts so Oberflächliches.
Mit diesem Denken stand ich nicht das erste Mal allein da. Die meisten in meinem Alter – und leider auch später noch – dachten nur an sich und ihren Vorteil. Das gleiche galt für Sex. Ich wollte meinen Körper nicht für ein paar Minuten mit jemandem teilen, nur um ein Bedürfnis zu befriedigen. Es sollte etwas bedeuten. Sich jemandem zu schenken war etwas Großes und Wertvolles, mit dem man nicht so leichtfertig umgehen sollte. Elliot war es nicht wert gewesen, so etwas Wichtiges wie Jungfräulichkeit aufzugeben. Vor allem nicht, damit er endlich Ruhe gab.
»Aber dich würde ich nie anfassen. Das wäre wie Inzest«, ergänzte Donovan an Tanner gerichtet.
Er schüttelte sich. Also wusste ich nun, dass Donovan bi war. Eine Information, auf die ich hätte verzichten können.
Tanner trat einen Schritt zur Seite, um Abstand zwischen sich und Donovan zu bringen. Erstaunlich, wie ruhig er blieb. Das erforderte ja fast unmenschliche Kräfte.
»Tristan«, brüllte er in Richtung Nebenhaus. »Schieb deinen Hintern hier rüber und rette uns vor deinem penetranten Bruder!«
Donovan setzte sich auf die Stufen vor unserer Haustür und stützte seine Ellbogen auf die Knie. Sein Fuß zappelte, als könnte er es nicht aushalten, sich nicht zu bewegen, wie ich es bei Kindern mit ADHS oft beobachtet hatte. Dabei grinste er wie immer, pflückte ein Blatt von dem Strauch neben dem Eingang und spielte damit herum, während er mich ungeniert musterte. Mir war sein Starren unangenehm, aber einfach flüchten war mir dann doch zu unhöflich, und ich hätte ohnehin direkt an ihm vorbeigemusst.
Kurz darauf öffnete sich die Haustür der Nachbarn und ein Donovan-Klon trat heraus und lief über den Rasen zu uns. Das war also der, der mir vorhin zugewinkt hatte. Im Gegensatz zu Donovans Jogginghosen-T-Shirt-Look trug sein Zwillingsbruder eine schwarze Stoffhose und ein Hemd in der Farbe seiner Augen. Blau. Seine Haare standen nicht wie bei Donovan wirr vom Kopf ab, sondern waren akkurat gekämmt. Auf Anhieb war er mir sympathischer als sein Bruder, weil er sich nicht zur Schau stellte, sondern zurückhaltender und nachdenklicher wirkte. Kultivierter und sensibler.
»Hi, ich bin Tristan«, sagte er zu mir und lächelte. Zwar klangen die Stimmen gleich, Tristans war jedoch sanfter, seine Aussprache deutlich und klar, als hätte er eine Sprechausbildung genossen und als wählte er seine Worte sorgfältig aus. Das gefiel mir. »Tut mir leid, wenn mein Bruder dich belästigt hat.«
»Er hat mich nicht belästigt«, antwortete ich spontan, obwohl das nur die halbe Wahrheit war. Aber ich wollte nicht verklemmt erscheinen. Bei Tristan war es mir wichtig, was er von mir dachte. Das kannte ich nicht von mir.
Tanner schüttelte den Kopf. »Doch, hat er schon. Aber zum Glück ist er harmlos. Nur nervig, nicht gefährlich. Und leider versteht er kein Nein.«
»Könnt ihr mal aufhören, über mich in der dritten Person zu reden? Ich bin zwei Meter entfernt. Außerdem weiß ich, was Nein bedeutet. Ich würde zum Beispiel nie mit jemandem schlafen, der nicht will. Nicht einmal ungefragt anfassen. Und ich gebe auch immer brav meine Hausarbeiten an der Uni ab und schreibe die Prüfungen mit. Oder erscheine pünktlich bei der Arbeit. Nur habe ich in den meisten Fällen einfach keine Lust auf Vorschriften. Das ist ein großer Unterschied.«
Niemand beachtete ihn. Stattdessen wandte sich Tanner an Tristan. »Nimmst du ihn jetzt bitte mit?«
»Ich bin doch kein Hund!«, beschwerte sich Donovan von der Treppe aus. Fast tat er mir leid. Aber nur ein kleines bisschen. Das hatte er sich selbst eingebrockt.
Tristan packte seinen Bruder am Arm. »Geh unseren neuen Nachbarn nicht gleich am ersten Tag auf die Nerven. Sie sollen sich hier wohlfühlen.«
Erstaunlicherweise ließ sich Donovan von ihm hochziehen und trottete ihm hinterher. Bevor sie jedoch im Haus verschwanden, drehte er sich noch einmal um und winkte.
Dann fiel die Tür mit einem lauten Knall ins Schloss.
Tief ausatmend drehte ich mich zu Tanner um. »Hat er ADHS? Oder ein psychisches Problem?«
Tanner lachte laut. »Donovan ist einfach Donovan. Er kann furchtbar nervtötend sein. Aber auch wenn es nicht so scheint, ist er einer von den Guten. Nicht umsonst sind wir seit unserer Geburt befreundet.«
Ganz glauben konnte ich das nach Donovans Auftritt nicht. Vom ersten Eindruck wirkte eher Tristan wie jemand, der Best-friend-Potential besaß.
Oder mehr.
Aber ich wollte mich nicht sofort verknallen. Wobei es mir sicher helfen würde, mich einzugewöhnen. Es war schwer genug, neu anfangen zu müssen.
»Und Tristan? Seid ihr auch befreundet?«, fragte ich und bemühte mich dabei um einen neutralen Ton.
Tanner zog sich auf die beinahe leere Ladefläche des Lkws und ließ die Beine baumeln. Ich kletterte zu ihm, setzte mich ebenfalls und lehnte mich an eine Kiste, auf der mein Name stand. Die Arbeiter waren irgendwo im Haus, aus den offenen Fenstern hörte ich es rumpeln, hämmern und fluchen.
»Klar bin ich auch mit Tris befreundet. Aber nicht so eng wie mit Don. Donovan ist …« Seine Wangen röteten sich und verlegen zuckte er die Schultern.
»Bist du verliebt in ihn?«
»Oh Gott, nein!«, rief er. »Früher vielleicht mal. Als ich rausgefunden habe, dass ich auf Männer stehe. Aber nie ernsthaft. Damals fand ich irgendwie alles gut, was einen Penis hatte. Aber mal ehrlich: Kannst du dir romantische Abende mit Donovan vorstellen?«
Entschieden schüttelte ich den Kopf. Bei Tanner konnte ich das allerdings auch nicht.
»Er ist prima zum Partymachen, er braucht immer Action und Leute um sich herum, jemanden, an dem er sich reiben kann. Aber ein Beziehungstyp ist er nicht. Zumindest nicht für lange. Ich will Beständigkeit und Tiefe. Keinen Kerl, der eigentlich ein Kind ist, das zufällig in einem – wenn auch verdammt heißen – Erwachsenenkörper steckt.«
»Wie in diesen Komödien, wenn zwei die Körper tauschen und als der andere aufwachen?«
Er lachte und nickte. »Genau so. Nur ist es bei ihm dauerhaft. Und sein Tauschkumpel ist unauffindbar.« Er rutschte auf der harten Ladefläche hin und her, bis er eine bequemere Position gefunden hatte.
Tanner, der meinen Stimmungswechsel offenbar erkannt hatte, lächelte mich verständnisvoll an, hielt sich aber mit Kommentaren zurück. Dafür beantwortete er meine Frage. »Tris ist im Grunde das genaue Gegenteil von Donovan. Außer im Aussehen natürlich. Er ist eher schüchtern und still und der Intellektuelle der beiden. Donovan ist viel, aber ganz sicher nicht intellektuell oder empathisch. Tristan ist auf der Schauspielakademie, arbeitet im Buchladen seiner Schwester, hilft im Haushalt, kümmert sich um andere und so.«
er
»Ah, hier seid ihr«, begrüßte er uns. »Eve, deine Mom sucht dich. Du sollst ihr in der Küche helfen. Und dich brauche ich drinnen, Tanner. Wir müssen heute noch die Betten aufbauen. Die Mädchen müssen bald schlafen.«
Auf der Veranda hüpfte mir Gabriella entgegen.
Gabriella zeigte alle ihre Gefühle so offen, dass mir immer wieder das Herz aufging. Im Gegensatz zu mir hatte sie sich auf den Umzug gefreut. Ihr war es egal, wo sie wohnte, Hauptsache, sie war bei Mom und Aurora und mir. Quiekend nahm sie ihr Stofftier entgegen und drückte es wie ich vor ein paar Minuten an ihre Brust, steckte ihre Nase in sein zerzaustes Fell und seufzte glücklich.
»Schön, dass du da bist, Schatz«, empfing sie mich lächelnd und fuhr fort, Käsescheiben auf den Broten zu drapieren. »Die sind für die Arbeiter. Kümmerst du dich bitte um unser Abendessen?«
»Ich freue mich so, dass du mitgekommen bist, Eve. Ich weiß, wie schwer es dir fällt, Chicago zu verlassen. Ich hätte dich auch unterstützt, wenn du zum Studieren dortgeblieben wärst. Oder nach Timbuktu hättest ziehen wollen«, flüsterte sie in meine Haare. »Trotzdem bin ich froh, dass du hier bist. Hoffentlich gewöhnst du dich schnell ein.«
In dem Moment kamen George und Tanner zu uns in die Küche. Jeder trug eine von Moms riesigen Zimmerpflanzen. Gabriella löste sich von uns, eilte zu Tanner und umarmte ihn stürmisch. Der stellte die Palme ab, beugte sich zu ihr herunter und erwiderte ihre Zuneigungsbekundung. George blickte Mom fragend an und sie zeigte ans Fenster, wo er die Pflanze parkte. Dann küsste er Mom auf den Mund. Die beiden waren selbst nach einem Jahr immer noch unglaublich verliebt. Ich war Goerge so dankbar, dass er nicht nur Mom, sondern ihre gesamte Familie in sein Herz, sein Leben und sein Haus gelassen hatte.
»Die Tür war offen, deswegen bin ich einfach reingekommen«, sagte sie. Sie lächelte offen und freundlich. »Hi, George. Hi, Tanner.« Dann wandte sie sich an uns. »Willkommen in Minot und der Nachbarschaft.« Sie hielt Mom die Form hin. »Ich dachte, dass Sie heute sicher keine Lust mehr haben zu kochen. Deswegen bringe ich Ihnen etwas.«
»Ihr habt euch verlobt?«, platzte Tanner heraus, als wäre das die Sensation des Tages.
»Cool.« Grinsend streckte er beide Daumen nach oben. »Glückwunsch euch beiden.«
Wie zur Bestätigung polterte es über uns und gleich darauf dröhnte Musik durch die Decke. Aurora hörte am liebsten Taylor Swift, und das in voller Lautstärke.