Für Kay, meinen Luca/Romeo …
… und Bryan Adams, dessen »Everything I do« nicht nur unser Hochzeitslied ist, sondern auch in Lucas und Allegras Geschichte eine wichtige Rolle spielt.
Der alte Mann schlug wütend auf den Altar aus roséfarbenem Granit ein. Soeben war er von dem Treffen zurückgekehrt. Ein Treffen, wie es vor vielen tausend Jahren bereits einmal stattgefunden hatte, ehe Jupiter Amors Geliebter den Becher mit Ambrosia gereicht und sie zur Göttin erhoben hatte. Eine scheinbar kleine Geste, die den Zorn der Venus jedoch noch mehr entfacht hatte. Sie hatte die Nachfahren von Amor und Psyche verflucht, nachdem sich ihr Sohn Amor ihrer Anweisung widersetzt hatte. Denn anstatt den Pfeil der Liebe eines ›schlechten Mannes‹ auf die Frau zu schießen, die aufgrund ihrer Schönheit den Zorn der Göttin auf sich gezogen hatte, hatte er sich in sie verliebt.
Letztendlich hatte ihre Liebe gesiegt – doch zu welchem Preis? Ihre Nachfahren trugen seither die Bürde der Liebe. Die letzten beiden Familien ihres Stammbaumes waren die Häuser Montague und Capulet, die sich seither erbittert bekämpft hatten. Nur einem einzigen Paar wäre es beinahe gelungen, den Fluch der Venus zu brechen. Sie endeten als das tragischste Liebespaar der Literaturgeschichte.
So viele Jahrhunderte hatte der alte Mann warten müssen, ehe er eine neue Chance kommen sah – aber der Dunkle war ihm stets einen Schritt voraus. Venus' Statthalter hatte erneut das Glück zweier Liebenden zerstört. Luca und Allegra hatten es geschafft, den Fluch zu bannen, und sie hatten mit dem Leben dafür bezahlt.
Die Granatapfelkerne, die einst Proserpina an Plutos Unterwelt gefesselt hatten, hatten auch das Schicksal dieser beiden Liebenden besiegelt.
Doch der alte Mann hatte Einspruch erhoben. Der Fluch war gebrochen, Pluto hatte kein Recht auf ihre Seelen. Dem stimmte auch Göttervater Jupiter zu, der Pluto überzeugte, einen der beiden Liebenden freizugeben. Doch wie könnte einer ohne den anderen überleben? Der Dunkle und der Padre hatten gekämpft und Jupiter letztendlich überzeugt, eine erneute Prüfung der Liebe zuzulassen. Bei Bestehen sollte Pluto beide Seelen aus der Unterwelt entlassen.
Den Kuss der wahren Liebe hatte Proserpina sie genannt. Allegra hatte bereits bewiesen, dass sie die wahre Liebe erkannte, ganz gleich, in welcher Gestalt sie ihr gegenübertrat. Also war es dieses Mal an Luca Montague, sich der Prüfung zu stellen und Allegra, der alles Wissen an die vergangenen Wochen genommen wurde, zu küssen, ehe sie ihr zwanzigstes Lebensjahr vollendete.
Zwei Wochen Zeit für den Allegra unbekannten Jungen, ihr Herz zu erobern.
Some say love, it is a razor, that leaves your soul to bleed. Allegra standen Tränen in den Augen, während Bette Midlers Song durch ihr Zimmer hallte. Wie Recht die Frau doch hatte. Zumindest mit dem ersten Teil des Liedes, das vom Schmerz der Liebe erzählt und davon, was Liebe bedeutet. Bei den letzten Zeilen bekam Allegra wie immer eine Gänsehaut.
Wie sehr wünschte sie sich, endlich die wahre Liebe zu finden. Etwas Echtes, Tiefergehendes. Das Gegenteil von dem, was sie jetzt wieder erlebt hatte.
Max hieß der Junge, der genau so war wie all die anderen Typen vor ihm. Oberflächlich, lediglich an Allegras gutem Aussehen interessiert. Einer von Hunderten, der ihr mit Blicken gefolgt war, dessen Kampfgeist und Drang, Allegra für sich zu gewinnen, gesiegt hatte. Wieder einer, der sie nur als schmuckes Beiwerk, als Trophäe gesehen hatte. Bei dem Allegra nur ein einziges Treffen gereicht hatte, um ihn einschätzen zu können.
Allegra glaubte nicht mehr an die Liebe. In zwei Wochen würde sie zwanzig werden. Bis dahin sollte man sich doch einmal wirklich verliebt haben, oder nicht? Doch mehr als Neugierde hatte sie gegenüber den zahlreichen Jungs, die sich für sie interessiert hatten, nie empfunden. Nicht jenes Bauchkribbeln, das quer durch die Jahrhunderte zu Schmetterlingen oder gar Flugzeugen im Bauch stilisiert worden war. Das Gefühl, für das man durch die Hölle und wieder zurückgehen, lügen und sogar sterben würde – über das so viele Lieder zu berichten wissen. Allegra selbst kannte das, was andere Liebe nannten, lediglich als Enttäuschung. Wenn es überhaupt zu einem ersten Date kam, endete es niemals so, wie sie es aus Büchern und Filmen kannte.
Die Sonnenstrahlen, die wie im Zeitraffer über den Garten krochen, schienen ihre Welt aufhellen zu wollen. Allegra blickte aus dem Fenster und schüttelte nur den Kopf. Eher war es eine Ermahnung, endlich runterzugehen, bevor das Mittagsgeschäft begann und die vielen kleinen Tischgruppen dort unten von Gästen belagert sein würden. Doch Max und ihre Enttäuschung ließen sich nicht so leicht abschütteln.
Ihre beste Freundin Jen ermahnte sie immer wieder, nicht zu hohe Erwartungen zu haben, ihre Ansprüche zu senken. Aber war es wirklich zu viel verlangt, nicht nach seinem Äußeren beurteilt zu werden, sondern nach Intelligenz, Humor, Charme? Schon lange empfand Allegra ihr gutes Aussehen als Fluch, nicht als Segen.
Nach dem ersten Ärger war sie froh über das Verbot ihrer Mutter Maria gewesen. Sie wollte gar nicht mehr als Model arbeiten wie Jen, die mit ihren weißblonden Haaren und den hellen blauen Augen das perfekte Gegenteil zu Allegras schwarzbraunen Wellen und den beinahe schwarzen Augen bildete. Maria war kurz nach Allegras Geburt mit ihr von Italien nach Deutschland gezogen. Vor Jahren hatte sie sich hier in dem kleinen süddeutschen Städtchen ihren Traum von einem eigenen Restaurant erfüllt. Allegra stockte sich ihr Taschengeld mit Bedienen auf – weit weniger lukrativ als Jens Nebenjob, der sie in dieser Woche nach London geführt hatte.
Allegra seufzte, als sie daran dachte, wie sehr sie ihre Freundin jetzt brauchen könnte. Ganze drei Mal hatte sie sich mit Max getroffen, ehe sie ihre Wunschvorstellung aufgegeben hatte, endlich den Richtigen gefunden zu haben. Jen zuliebe hatte sie versucht, ihn näher kennenzulernen. Ihre Freundin war sich sicher gewesen, dass Max mehr zu bieten hatte und weniger oberflächlich war als andere. Sie hatte sich getäuscht.
Allegra stoppte die Endlosschleife von »The Rose« und die plötzliche Stille im Raum drückte ihr schwer auf die Brust. Sie ging zum Schreibtisch und schickte Jen eine SMS.
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten: Ein kurzer Bericht über das gestrige Shooting, dann unzählige Screenshots von Liebeserklärungen des ›heißesten Italieners der Welt‹. Den hatte Jen erst neulich bei ihrem Kurztrip an den Gardasee kennengelernt. Maria hatte Allegra eindringlich gebeten, nicht mit nach Italien zu fahren. Natürlich war Allegra alt genug und hätte auch ohne Erlaubnis fahren können, doch die Beziehung zu ihrer Mutter war eine ganz besondere und sie wollte Maria nicht an den stressigen Sommerwochenenden allein lassen. Daher war Jen ohne sie gefahren.
Allegra lächelte. Ihre beste Freundin verliebte sich wöchentlich neu, glaubte jedes Mal wieder an die Liebe ihres Lebens und immer endete es in Kummer und Mädelsabenden mit sehr viel Eis und Schokolade. Auch für Jen war ihr Aussehen ein Fluch. Doch im Gegensatz zu Allegra ging sie anders damit um und suchte immer weiter. Dieser Alessandro musste es ihr wirklich angetan haben. Sobald Jen aus London zurück sein würde, sollte Allegra ihn kennenlernen. So war es abgemacht. Und mit einem zwinkernden Smiley hatte Jen hinzugefügt, dass sie noch genügend hübsche Italiener für Allegra übriggelassen hatte. Allegra hoffte nur, dass nicht auch ihre Freundin wieder enttäuscht werden würde. Sie gönnte ihr alles Glück der Welt, und sollte sie es tatsächlich finden, wäre dies auch ein Zeichen für Allegra, nicht aufzugeben.
Sie steckte sich gerade die Haare mit einer Klammer zusammen, als ihre Mutter nach oben rief. Allegra schob das Handy in die Gesäßtasche ihrer Jeans und verließ das Zimmer. Im Treppenhaus roch es bereits nach Essen. Sie lief schnell die Stufen nach unten zum Restaurant.
Ihre Mutter war bereits in der Küche und werkelte herum. »Könntest du draußen alles vorbereiten?«, bat sie ihre Tochter.
Allegra sah sie fragend an. Es war erst kurz vor zehn Uhr, die ersten Gäste würden frühestens in einer Stunde kommen. »Warum die Eile?«
»Gleich kommt noch ein junger Mann vorbei«, antwortete Maria gedankenverloren und rührte in einem dampfenden Topf. Daher sah sie auch nicht, wie Allegra argwöhnisch die Augen zusammenkniff. Erst als Allegra nicht reagierte, sah Maria auf. »Die Anzeige in der Zeitung«, half sie ihrer Tochter auf die Sprünge.
Erleichtert atmete Allegra aus. Sie hatte befürchtet, ihre Mutter würde wieder mal versuchen, sie zu verkuppeln – mit dem ›wundervollen Sohn‹ eines Gastes oder von Bekannten. Allegra schüttelte den Kopf, als sie an die jüngste dieser Verkupplungsaktionen dachte: Der arme Junge war so eingeschüchtert von Allegra gewesen, dass er den ganzen Nachmittag kein vernünftiges Wort herausgebracht hatte. Allegra fühlte sich bei diesen Aktionen wie eine billige Sklavin, die man verramschen musste. Was das anging, war Maria einfach noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen. Heutzutage konnte man auch als Frau ganz gut allein bleiben und Karriere machen. »Hat sich nur ein Einziger gemeldet?«, fragte sie.
Der Koch, der ansonsten hier in der Küche half, hatte vergangene Woche gekündigt und Maria war jetzt schon überfordert. Einkäufe, Service, Planung, Buchhaltung und tägliches Kochen waren ein Ding der Unmöglichkeit. Glücklicherweise hatte Allegra gerade Ferien, ehe im Herbst ihr Studium beginnen sollte. Sie war ein Jahr später eingeschult worden, weil Maria ihr noch ein Jahr im Kindergarten hatte gönnen wollen, ehe der Ernst des Lebens begann. Daher war Allegra erst jetzt, mit neunzehn, mit der Schule fertig geworden – gemeinsam mit der anderthalb Jahre jüngeren Jen.
Maria sah Allegra an und schüttelte traurig den Kopf. »Um die Jahreszeit werden überall Saisonkräfte gebraucht. Im Herbst werden wir vermutlich mehr Glück haben. Ich hoffe aber«, sie schwenkte den großen Kochlöffel vor dem Gesicht herum, »dass dieser Fabio uns trotzdem unterstützen kann. Selbst wenn er nur den Service übernimmt … Ich kann hier hinten arbeiten. Und ich vertraue dir, dass du für Ordnung sorgst.« Sie lächelte Allegra so strahlend an, ihre Augen so voller Hoffnung, dass alles gut werden würde, dass Allegra selbst ebenfalls nur zuversichtlich in die Zukunft schauen konnte.
»Wann kommt er denn?«, fragte sie, nachdem sie einen Löffel in einen der Töpfe gesteckt und von der Soße probiert hatte.
Maria sah hoch zu der Uhr über der Tür und ließ beinahe den Deckel des Topfes fallen, den sie gerade hochhielt. »Jetzt!«, rief sie auf. »Könntest du nach vorne gehen und ihn reinlassen?«
Allegra nickte, griff den Schlüssel neben der Tür und verließ die Küche durch den Zugang zum Gastraum. Mit schnellen Schritten durchquerte sie den Raum mit seinen wenigen Tischgruppen. Das ›Da Casari‹ war ein kleines Restaurant, aber der ganze Stolz ihrer Mutter.
Sie drehte den Schlüssel im Schloss der schweren Restauranttür und zog sie nach innen auf. Als sie den Blick nach draußen richtete, sah sie in die Augen eines jungen Mannes. In Augen, wie Allegra sie noch nie zuvor gesehen hatte. Das strahlende Blau der Iris war beinahe Violett, ihm wohnte ein Glanz inne, den sie nur von Babys kannte. Sie wäre am liebsten darin versunken. Etwas regte sich in ihrem Inneren, beinahe ein Gefühl von Déjà-vu, doch sie bekam die vermeintliche Erinnerung nicht zu fassen.
Ein Räuspern ließ sie hochfahren und Röte schoss ihr in die Wangen. Wie lange hatte sie in diese Augen gestarrt? Dabei war der Rest des Gesichts auch nicht zu verachten. Der junge Mann vor ihr sah nicht überdurchschnittlich gut aus, aber doch alles andere als gewöhnlich. Seine braunen Haare waren kurz geschnitten, vermutlich um die Locken im Zaum zu halten, die sich an den Schläfen andeuteten. Er war ein Stück größer als Allegra mit ihren eins achtundsiebzig, hatte glattrasierte Haut, war nicht gerade muskulös, aber gut gebaut. Die Augen waren es, die aus ihm eine beinahe übernatürliche Erscheinung machten.
Sie erkannte jedoch einen Zug in seiner Mimik, der dem Lächeln widersprach, das er aufgelegt hatte. War es Melancholie? Trauer? Allegra war immer sehr gut darin gewesen, in Gesichtern zu lesen. Jen behauptete, dass Allegra die Mikroexpressionen, diese kleinsten Anzeichen für Gefühlsregungen, die Menschen nicht wissentlich beeinflussen konnten, lesen konnte und daher immer zu wissen schien, was andere Leute fühlten. Für Allegra hingegen war es so normal, dass sie sich nie darüber Gedanken machte. Sie fand es eher seltsam, dass Jen oder andere diese Gefühle nicht spüren konnten.
Der junge Mann räusperte sich erneut und holte Allegra ein weiteres Mal in die Gegenwart. Um die peinliche Stille zu überbrücken, hielt er ihr die Hand hin. »Fabio Speranza.«
Es dauerte etwas, bis Allegra ihre Hand ebenfalls hinhielt. »Allegra Casari«, sagte sie dann schnell. Sein Händedruck war sanft und Allegra registrierte, dass sie ihre Hand nicht so schnell zurückzog, wie es sich gehörte.
»Ich nehme an, das ist nicht dein Restaurant?«, fragte er und lächelte Allegra vorsichtig an.
Doch ehe sie antworten konnte, trat Maria zu ihnen. Sie hatte ihre Schürze ausgezogen und das dekorativ drapierte Kopftuch, das sie in der Küche immer trug, um ihre Haare zu bändigen, war neu gebunden.
»Signore Speranza?«, fragte Maria mit zusammengekniffenen Augen. Allegra sah, wie ihr Blick ebenfalls an Fabios Augen hängen blieb.
»Sì.«
»Ich hatte Sie für etwas älter gehalten«, wechselte ihre Mutter nun ins Deutsche.
»Wenn das ein Problem ist, Signora Casari …«, setzte Fabio an und hob mit einer entschuldigenden Geste die Hände.
Maria schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Kommen Sie doch rein.« Sie trat zur Seite und ließ den Gast passieren. Mit einer Hand deutete sie auf die Theke und die Barhocker davor. Fabio ging voraus und Allegra folgte ihm. Hinter sich hörte sie das Klirren der Schlüssel, als Maria abschloss. Maria bot ihrem Gast einen Kaffee an, ehe sie ihn nahezu ausfragte, was Allegra irgendwann fast peinlich wurde. Sie fragte ihn nach seiner Ausbildung, seinen Plänen und warf immer wieder einen bedeutsamen Blick zu Allegra. Ganz besonders, als sie auf seinen Beziehungsstand zu sprechen kam.
Allegra an Fabios Stelle hätte das ›Bewerbungsgespräch‹ an dieser Stelle abgebrochen. Fabio jedoch schien amüsiert und beantwortete freundlich alle Fragen.
»Bei den Frauen habe ich nicht allzu viel Glück«, sagte er beschämt und sah auf die leere Tasse vor sich. »Aber ich glaube fest daran, dass sich das eines Tages ändern wird. Mit zwanzig ist man doch noch jung, oder?« Er zwinkerte Maria zu, die sofort noch strahlender lächelte, einen weiteren vielsagenden Blick zu Allegra warf und nickte.
»Bei Ihrem Namen werden Sie die Hoffnung nie verlieren.«
Fabio zog die Augenbrauen zusammen, so dass sich eine leichte Falte über seiner Nase bildete.
»Speranza«, half Maria ihm auf die Sprünge. Speranza war das italienische Wort für Hoffnung.
Nun entspannte sich Fabio wieder. »Bisher hat mir dieser Name auch nicht geholfen. Hoffnung ist das Einzige, das mir bleibt.« Ein Schatten fiel über sein Gesicht. Es wirkte plötzlich so verändert, dass Allegra ein Ziehen in ihrem Inneren verspürte. Den Drang, ihn zu trösten – einen Fremden!
»Wann können Sie anfangen?«, fragte Maria und der Schatten auf Fabios Gesicht verschwand.
»Das heißt, ich habe den Job?«
»Natürlich. Wir könnten uns keinen besseren jungen Mann wünschen, nicht wahr?« Maria zwinkerte Allegra zu.
»Grazie, Signora. Sie werden es nicht bereuen. Wenn Sie wollen, kann ich gleich hierbleiben.«
»Das wäre wunderbar. Aber bitte nenn mich nicht mehr Signora. Ich bin Maria.« Sie reichte ihm die Hand.
Fabio nahm dankend an. »Fabio.«
Seine Augen strahlten, als hätte er soeben im Lotto gewonnen und etwas in Allegras Inneren flüsterte ihr zu, dass sich doch niemand so sehr über einen Aushilfsjob in einem kleinen italienischen Restaurant freuen konnte. Ihre Skepsis war geweckt – gemeinsam mit der Neugierde. Fabio schien ein interessanter Mensch zu sein und Allegra freute sich irgendwie auf die gemeinsame Arbeit. Vielleicht würde sie dann herausfinden können, woher dieses Gefühl kam, Fabio bereits zu kennen.
Diese Augen! Wie immer, wenn Allegra von jenen eisblauen Augen träumte, blieb sie noch ein wenig länger in dieser Phase zwischen Schlafen und Wachen und versuchte, den Moment auszudehnen, der sonst nur den Bruchteil einer Sekunde andauerte.
Schon seit einer ganzen Weile sah sie diese Augen im Traum. Sie kannte kein Gesicht dazu, konnte nicht einmal mit Bestimmtheit sagen, ob sie zu einem Mann oder einer Frau gehörten – aber sie mussten etwas zu bedeuten haben, da war sich Allegra sicher. Vielleicht war sie deshalb so fixiert auf Augen und hatte Fabio so lange angestarrt? Mit noch geschlossenen Lidern schüttelte sie den Kopf und ihre Wangen wurden schon beim Gedanken daran heiß. Wie peinlich sie sich benommen hatte! Dabei waren es nicht die Augen, die sie suchte.
Es hatte lange gedauert, bis sie sich eingestanden hatte, was ihr Unterbewusstsein schon lange zuvor gewusst hatte. Seitdem suchte sie nicht mehr nur instinktiv, sondern ganz absichtlich nach diesen eisblauen Augen. In der Stadt, im Bus, in Cafés … einfach ständig.
Im Traum wechselten sie sich mit ihren eigenen Augen ab – oder zumindest mit Augen in derselben Farbe. Erst dieses Eisblau, dann wieder ein so dunkles Braun, dass es fast schwarz wirkte, ihren eigenen Augen ganz ähnlich, aber doch anders. Etwas tief in Allegras Inneren sagte ihr, dass das alles etwas zu bedeuten hatte, dass sie nach diesen Augen suchen musste, um Antworten zu finden. Worauf, wusste sie jedoch selbst nicht einmal.
Sie hielt das Bild der eisblauen Augen noch für einen kleinen Moment fest, ehe es davonglitt und der Dunkelheit in ihrem Zimmer Platz machte. Allegra seufzte, tastete nach der kleinen Lampe auf ihrem Nachttisch und schaltete das Licht an. Für einen Moment war sie wie geblendet und glaubte, die Augen aus ihrem Traum inmitten des Raumes schweben zu sehen. Mit einem Zwinkern war das Bild verschwunden.
Aus Gewohnheit nahm sie ihr Handy in die Hand. Jen schrieb immer mitten in der Nacht noch Nachrichten, meist, wenn sie von einer der zahlreichen Partys heimkam, zu denen sie und ihre Model-Kolleginnen eingeladen wurden. Mit einem Lächeln ließ Allegra sich zurück auf den Rücken fallen und öffnete den Nachrichteneingang. Sie hätte wetten können, dass sie wieder Lobeshymnen auf Jens neuen Freund vorfinden würde – doch im Posteingang befand sich keine SMS von Jen, sondern die von einer unbekannten Nummer.
Allegra vermutete eine dieser unzähligen Werbenachrichten und wollte sie schon automatisch löschen, aber irgendetwas hielt sie zurück. Sie starrte noch eine ganze Weile auf die Nummer, ehe sie kopfschüttelnd das Lösch-Symbol drückte. Anschließend schrieb sie Jen und wünschte ihr einen guten Morgen. Mit einem Blick auf die Uhrzeit wusste sie, dass es noch mindestens zwei Stunden dauern würde, ehe ihre beste Freundin ausgeschlafen hatte und antworten würde. Bis dahin würde Allegra schon längst wieder unten im Ristorante sein und Maria helfen, alles für die Gäste vorzubereiten. Vor allem musste Fabio heute in die tägliche Routine eingearbeitet werden. Am vergangenen Tag hatte er eher im Weg gestanden, als dass er hilfreich gewesen wäre, auch wenn er sich sehr bemüht hatte.
Mit seinem Charme kam er aber insbesondere bei den weiblichen Gästen so gut an, dass sich niemand über die kleinen Verzögerungen beschwerte. Heute hingegen war Markttag und das hieß, dass mindestens doppelt so viele Gäste ins ›Da Casari‹ kommen würden wie an den anderen Wochentagen. Daher musste Allegra Fabio vorher in ein paar feste Abläufe einweisen.
Sie stand gerade auf, als sie im Augenwinkel das Display ihres iPhones aufleuchten sah. War Jen tatsächlich schon wach? Noch während Allegra mit ihrem Kopf in den Pullover schlüpfte, griff sie nach dem Handy. Erneut die Nummer von vorhin. Allegra hatte sie so lange angestarrt, dass sie sich ganz sicher war, dass es sich um dieselbe Nummer handelte. Nun wurde sie doch neugierig und öffnete die Nachricht.
Agnosce amorem.
Das war Latein und bedeutete so viel wie ›Erkenne die Liebe‹. Irritiert starrte Allegra auf das Display. Warum schickte ihr jemand so etwas? Woher hatte diese Person ihre Handynummer? Vermutlich würde bald eine Werbebotschaft folgen und diese Nachricht sollte nur neugierig machen.
Als würde sie die Liebe nicht erkennen, wenn sie vor ihr stünde! War das nicht dieses Kribbeln, das sie sich immer erhofft hatte? Ein Blick und die Welt um einen herum rückte in den Hintergrund? Sie lachte auf. Allegra glaubte nicht an die Liebe auf den ersten Blick. Sie war sich sicher, dass sich ein so starkes Gefühl entwickeln musste. Aber sie hoffte doch sehr, dass sich eine potenzielle Liebe bemerkbar machen würde – irgendwie zumindest. Ein Gefühl der Schwerelosigkeit im Magen vielleicht? Vergleichbar mit einer Achterbahnfahrt, ehe es von der höchsten Stelle an abwärtsging? Dieser Moment der Erwartung und des Wissens, dass gleich etwas passieren würde. Dasselbe Gefühl, das sie hatte, wenn sie von den eisblauen Augen träumte … Kopfschüttelnd löschte Allegra auch diese Nachricht, dann steckte sie das Handy in die Gesäßtasche ihrer Jeans und ging nach unten.
Maria war schon in der Küche und der Duft nach Kräutern und Soßen lag in der Luft. Als Allegra nähertrat, hörte sie ihre Mutter reden.
»Wir sind so froh, dass du so kurzfristig anfangen konntest. Die Gäste scheinen dich zu mögen, wie Allegra mir erzählt hat.«
Allegra blieb hinter der angelehnten Tür stehen und lauschte. Maria erhielt jedoch keine Antwort. Oder Allegra konnte sie unter all dem Lärm der Küche nicht hören.
»Sie scheint dich auch zu mögen«, fuhr Maria unbeirrt fort. »Sie hat so wenig Glück mit Männern, dass es mich ganz traurig macht.«
Das war der Moment, in dem Allegra die Küche stürmte. Sie ahnte bereits, dass Maria wieder einmal Amor spielen wollte – ein Job, für den sie definitiv nicht geeignet war.
Mit einem Blick auf ihre Tochter wurde Maria dann auch prompt rot im Gesicht. Sie sah unglaublich jung aus und blickte wie ein in flagranti erwischter Teenager zur Seite. Ihrem Gegenüber schien die Situation nicht minder peinlich zu sein: Auch Fabio hatte knallrote Wangen. Mehr konnte Allegra nicht sehen, denn er hatte das Gesicht ebenfalls abgewandt. Allegras Bauch erwärmte sich bei dem Anblick, auch wenn sie es sich nicht erklären konnte. Fabio schien eindeutig überfordert und hatte plötzlich ganz geschäftig irgendetwas mit seinen Händen zu tun. Allegra musste unwillkürlich lächeln.
»Guten Morgen, Kleines«, sagte ihre Mutter, als sie sah, dass Allegra ihr nicht böse war. »Du solltest gleich mit Fabio nach vorne gehen und alles vorbereiten.«
»Mach ich«, antwortete Allegra nur, trat zum Durchgang zum Restaurant und schnappte sich den Schlüssel. Als Fabio keine Anstalten machte, ihr zu folgen, weil er immer noch auf seine Hände starrte, rief sie ihn. »Kommst du, Fabio?«
»Sì«, antwortete er mit nach wie vor geröteten Wangen. Er konnte ihr immer noch nicht in die Augen sehen und umrundete die Kochinsel in der Mitte der Küche mit gesenktem Kopf.
Allegra unterdrückte ein Schmunzeln. Jemand wie Fabio war ihr bislang wirklich nicht untergekommen. Sie kannte nur die anderen Extreme: die Möchtegern-Machos oder diejenigen, die sie mit offenem Mund anstarrten, aber kein Wort herausbrachten. Fabio hingegen wirkte so herrlich normal, dass es sich einfach gut anfühlte, in seiner Nähe zu sein.
Dieses Gefühl hielt den gesamten Vormittag an, während sie mit ihm alles für den Restaurant-Betrieb vorbereitete. Er folgte bereitwillig ihren Anweisungen, lächelte sie zwischendurch immer wieder an und steckte Allegra irgendwann mit seiner guten Laune an. Nachdem sie auch Maria bei den letzten Vorbereitungen für die Salate geholfen hatten – wobei Allegra konsequent Marias bedeutsame Blicke und das Kopfnicken in Richtung Fabio ignorierte –, setzten sie sich noch gemeinsam in den Garten des Restaurants und tranken einen Caffè Latte.
Allegra zog ihr Handy hervor. Die wahre Flut an Nachrichten war normal, sobald Jen aufgewacht war. Allegra wollte gerade anfangen zu lesen, spürte dann jedoch Fabios Blick auf sich und sah auf. Fabios Augen leuchteten im Sonnenlicht, was sie noch übernatürlicher wirken ließ. Das Blauviolett seiner Iris wirkte so … bekannt. Da war es wieder, dieses Gefühl von Déjà-vu. Allegra stolperte über diesen Gedanken. War sie sich nicht sicher gewesen, dass sie solche Augen nie zuvor gesehen hatte? Wären es die eisblauen Augen aus ihren Träumen gewesen, hätte sie den Gedanken verstanden, den ihr Unterbewusstsein ihr anscheinend hatte signalisieren wollen. Fabios Augen hingegen waren ihr unbekannt.
»Lies ruhig weiter«, sagte Fabio und riss Allegra damit aus ihren Überlegungen.
»Hm?«, fragte sie nur.
»Dein Handy. Ich finde es nicht unhöflich oder so. Ich lese inzwischen einfach.« Fabio zog eine zerfledderte Ausgabe von ›Romeo und Julia‹ hervor.
»Das ist nicht dein Ernst«, sagte Allegra kopfschüttelnd.
»Wieso?«, fragte Fabio ernst, ehe er aus dem Buch zitierte: »›Vor ihnen hüllt mich Nacht in ihren Mantel. Liebst du mich nicht, so lass sie nur mich finden; durch ihren Hass zu sterben wär mir besser als ohne deine Liebe Lebensfrist.‹«
Er hatte nahezu seine komplette Mimik verändert und sah plötzlich aus wie ein völlig anderer Mensch. Seine Worte, voller Inbrunst, berührten Allegra an einer Stelle in ihrem Herzen, von der sie bislang nicht gewusst hatte. Natürlich kannte sie ›Romeo und Julia‹, hatte es sogar im Original sowie auf Italienisch gelesen und wie so viele andere in der Schule durchgekaut. Nie jedoch hatte sie dieses Gefühl verspürt. Mehrere Minuten vergingen, in denen sie das Gesprochene auf sich wirken ließ.
Irgendwann räusperte sich Fabio verlegen. »Ich weiß, es ist kitschig. Aber in der Theatergruppe ist bald das Vorsprechen für Romeo und ich …« Er gestikulierte wild mit den Händen.
»Es ist nicht kitschig«, unterbrach ihn Allegra. »Ich glaube, ich habe diese Sätze noch nie zuvor so authentisch gesprochen gehört.«
Fabio strahlte bis über beide Ohren. Die zarte Melancholie, die ansonsten über seinem Gesicht lag, sobald das Wort Liebe auch nur erwähnt wurde, war wie ausgelöscht. Vor Allegra saß nun ein junger Mann, der wirklich überzeugt war, dass er seine große Liebe noch finden würde – ganz gleich in welcher Gestalt sie zu ihm kommen würde. Diese Überzeugung war ansteckend und in Allegras Inneren keimte in diesem Moment ebenfalls Hoffnung.
»Also wenn du nicht der perfekte Romeo bist, dann hat der Regisseur keine Ahnung«, sagte sie voller Überzeugung.
»Und du wärst die perfekte Julia«, nuschelte er mit auf den Text gerichtetem Gesicht.
Allegra war sich nicht sicher, ob sie richtig verstanden hatte, wollte jedoch nicht nachfragen, sondern das Thema auf sich beruhen lassen. Sie konnte sich nicht vorstellen, so überzeugt von der Liebe zu einer bestimmten Person zu sein, dass sie sich deshalb umbringen würde. In ihren Augen nahm das eher krankhafte Züge an und hatte nichts mehr mit Liebe zu tun, roch eher nach so etwas wie Abhängigkeit. Etwas, das sie niemals für sich wollte.
Fabio sah sie wieder mit festem Blick an und nun war es an Allegra, den Kopf zu senken. Sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte, und öffnete daher den Nachrichteneingang ihres Handys. Sie hoffte, nicht zu gefühlskalt oder abweisend zu wirken, fand für sich in dieser Situation jedoch keinen besseren Ausweg. Und schließlich hatte Fabio ja behauptet, dass es ihn nicht stören würde. Oder war das gelogen gewesen? Hatte er sie mit seiner romantischen Ader nur beeindrucken wollen? Mit einem leichten Kopfschütteln beantwortete sie die Frage für sich. Sie durfte nicht jedem Mann, der in ihr Leben kam, das Schlimmste unterstellen. Fabio hatte bislang keine Anstalten gemacht mit ihr zu flirten. Der Spruch mit Julia konnte ganz harmlos gewesen sein. Vielleicht stellte sich Fabio Julia Capulet einfach so vor wie Allegra? Schließlich war sie Italienerin und würde perfekt ins Bild passen.
Hastig vertrieb sie die Gedanken und las sich durch Jens Nachrichtenflut. Wie erwartet bestand mindestens die Hälfte aus Schwärmereien über ihren neuen Liebsten. Ihr Alessandro war ebenfalls achtzehn und den Beschreibungen nach zu urteilen sah er aus wie die junge Version von Orlando Bloom alias Will Turner in Fluch der Karibik. Die Bilder, die Jen ihr geschickt hatte, kamen dieser Beschreibung sogar ziemlich nahe. Allegra seufzte, als sie daran dachte, wie enthusiastisch Jen auf jede neue Liebe einging und auf Wolke Sieben schwebte – und wie sie immer und immer wieder hart auf dem Boden der Realität aufschlug. Doch all die zahlreichen Rückschläge hatten sie nur stärker gemacht und sie hatte den Glauben an die Liebe nie verloren. Vielleicht war dieser Alessandro ja all die früheren Enttäuschungen wert. Allegra hoffte es sehr.
Nachdem sie gewissenhaft alle Nachrichten von Jen beantwortet hatte – und betete, dass sie nichts übersehen hatte –, sah sie, dass erneut eine Nachricht von der unbekannten Nummer eingegangen war. Kein Latein, sondern auf Deutsch:
Erkenne die Liebe.
Allegra war nahe dran etwas zu antworten wie ›Lass mich in Ruhe‹, wollte dem Absender jedoch nicht bestätigen, dass seine dubiosen Nachrichten gelesen wurden. Schnell drückte sie auf das Mülleimer-Symbol und nahm sich vor, weitere Nachrichten gar nicht erst zu öffnen.
Maria trat eben mit einer Espressotasse in den Garten, als Allegra das Display ausschaltete und das Handy zurück auf den Tisch legte.
»Ist euch beiden der Gesprächsstoff schon ausgegangen?«, sagte sie beinahe niedergeschlagen und die kleine Falte zwischen ihren Augenbrauen zeigte sich.
»No, Signora«, antwortete Fabio, klappte ›Romeo und Julia‹ zu und legte es neben seine Kaffee-Tasse.
Maria war ganz entzückt, als sie den Titel las. »›O Romeo! Warum denn Romeo? Verleugne deinen Vater, deinen Namen! Willst du das nicht, schwör dich zu meinem Liebsten, und ich bin länger keine Capulet.‹« Sie presste sich die Hand an die Brust, eine so übertrieben theatralische Geste, die Allegra zum Lachen brachte.
»Allegra!«, sagte Maria – empört darüber, dass ihre schauspielerische Leistung nicht anerkannt wurde.
»Hast du irgendwann einmal die Julia gespielt oder kennst du nur dieses eine Zitat?«, fragte Allegra noch immer schmunzelnd und sofort verschwand der Enthusiasmus aus Marias Gesicht.
»Dort, wo ich herkomme, kennt jeder die Geschichte auswendig. Nirgendwo sind die Montagues und die Capulets noch immer so präsent.« Sie runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf.
Allegra wartete auf weitere Erklärungen, die jedoch nicht kamen. Maria sprach nie über die Zeit vor Deutschland. Die Zeit, bevor sie mit dem Säugling Allegra Italien verlassen hatte. Allegra vermutete, dass es die Liebe war, die das zu verantworten hatte. Eine enttäuschte Liebe, vielleicht zahlreiche Spekulationen über das Neugeborene … Allegra malte sich die schlimmsten Szenarien aus, weil Maria ihr nie auf ihre Fragen antwortete und sie nur mit Halbwahrheiten abspeiste.
Fabios Blick lag fragend auf Maria. Vielleicht hätte auch er gerne eine Erklärung gehabt. Auf die würde er jedoch lange warten müssen.
»Lasst uns aufschließen. Gleich werden die ersten Gäste kommen«, beendete Maria das Thema, trank im Gehen ihren Espresso aus und trat ins Restaurant. Fabio stand hastig auf, steckte das zerfledderte Buch in die Tasche und sammelte seine und Allegras Tasse ein, ehe er Maria nach drinnen folgte.
Allegra erhob sich gemächlicher, eine neue Frage brannte in ihrem Inneren. Warum hatte sich ihr Herzschlag so stark beschleunigt, als Maria die Capulets erwähnte?
***
Während des Mittagsgeschäfts hatte Allegra keine freie Sekunde, um sich weitere Gedanken über Romeo und Julia zu machen. Sie bediente die Gäste, lächelte freundlich, aber abwesend, servierte und räumte die Tische anschließend ab, um neue Kundschaft zu empfangen. Sie bemerkte selbst, dass sie nicht ganz bei der Sache war, ihr Unterbewusstsein war zu beschäftigt mit der Frage, warum etwas in ihrem Inneren bei der Erwähnung des Namens Capulet angeschlagen hatte.
Erst als sie und Fabio die letzten Gäste verabschiedet und alles für die Abendgäste vorbereitet hatten und Maria noch mit dem Aufräumen der Küche beschäftigt war, bekam sie endlich die von ihrem Hirn gewünschte Erklärung. In Form von weiteren Lobeshymnen auf Alessandro.
Wie beiläufig erwähnte Jen, dass ein Bote ihr einen großen Strauß roter Rosen gebracht hatte – das Symbol der Capulets. Was Jen zum Dahinschmelzen gebracht hatte, fand Allegra eher kitschig. Doch die Geste selbst interessierte sie weniger. Sie blieb an der Bezeichnung ›Symbol der Capulets‹ hängen und hakte nach, wie dies in Zusammenhang mit Alessandro stand. Kurz darauf klingelte das Telefon.
»Hatte ich dir nicht erzählt, dass Alessandro mit Nachnamen Capulet heißt?«, fragte ihre Freundin ohne Begrüßung.
»Ich glaube nicht«, antwortete Allegra zögernd, klemmte sich das Handy zwischen Schulter und Ohr und sammelte die letzten Gläser und Tassen vom Tresen auf ihrem Tablett. »Das hätte ich mir gemerkt. Ganz alltäglich ist der Name Capulet ja nicht.«
In diesem Moment ging hinter Allegra ein Glas zu Bruch. Sie fuhr herum und sah Fabio zwei Tische weiter in der Hocke Scherben einsammeln. Sie wollte zu ihm, doch er hob abwehrend die Hände. Ihm schien es schon peinlich zu sein, dass er ein Glas hatte fallen lassen. Dabei würde es nicht bei einem bleiben, da war sich Allegra sicher. Sie hatte in all der Zeit sicher schon eine ganze Palette zerstört. Das gehörte wohl zur Jobbeschreibung. Nach ihrem Telefonat würde sie ihm das erklären.
»Merda«, fluchte Fabio plötzlich lautstark und Allegra sah, wie Blut seine Handfläche rot färbte.
»Jen, wir müssen später weiterreden«, sagte sie hastig ins Handy.
»Was ist passiert?« Jen ließ sich nicht beirren.
»Unsere neue Aushilfe hat sich gerade an Glasscherben geschnitten.« Allegra wollte schon auflegen, doch ihre Freundin ließ sich nicht abschütteln.
»Männlich oder weiblich?«
Allegra seufzte. »Männlich. Fabio. Wir telefonieren später, okay?«
»Dann eile ihm schnell zu Hilfe. Das Krankenschwester-Ding zieht bei Jungs doch immer.«
Allegra konnte regelrecht vor sich sehen, wie Jen verheißungsvoll mit den Augenbrauen zuckte. Sie selbst hingegen schüttelte den Kopf. Nach einem kurzen »Ciao« legte sie auf und ging mit schnellen Schritten zu Fabio.
Vor ihm lag das zerbrochene Glas. Wenn Allegra es nicht besser gewusst hätte, hätte sie vermutet, dass noch ein Rest Kirschsaft oder etwas in der Art im Glas gewesen war. Zu viel der dunkelroten Flüssigkeit breitete sich um die Scherben herum auf dem hellen Boden aus, als dass es von einem kleinen Schnitt hätte stammen können. Allegra wurde flau im Magen. Instinktiv hob sie die Hände zum Mund und ging neben Fabio in die Knie.
»Schnell, zeig her«, forderte sie streng.
Fabio hatte die Lippen zusammengepresst und schüttelte den Kopf. Er hatte die linke Hand zur Faust geballt. Noch mehr Blut quoll daraus hervor. »Es ist nichts«, sagte er.
»Nichts?« Allegras Stimme überschlug sich beinahe, als sie auf das viele Blut zwischen ihnen deutete. Ohne weitere Aufforderung zog sie Fabios Hand vorsichtig zu sich und bat ihn in einer stummen Geste, ihr die Handfläche zu zeigen. Fabio reagierte wie vermutlich die meisten Männer: Er weigerte sich. Dieses Helden-Gebaren nervte Allegra tierisch und ihr Blick wechselte von mitleidig zu genervt. Sie ließ jedoch nicht locker und bettete Fabios Hand auf ihre. Behutsam bog sie Fabios Daumen zur Seite, ehe er seufzend aufgab und auch die anderen Finger öffnete.
Allegra sog scharf die Luft ein. Allerdings nicht wegen des vielen Blutes, das die gesamte Handfläche rot gefärbt hatte, sondern wegen des Fehlens der Ursache. Stirnrunzelnd suchte Allegra nach der tiefen Schnittwunde, die sie sich im Kopf ausgemalt hatte. Eine so tiefe Wunde, dass das Blut nur so daraus hervorquoll, im Rhythmus des Herzschlages. Sie stand auf und zerrte Fabio nach oben, um mehr Licht zu haben. Doch ganz gleich, von welcher Seite sie seine Hand betrachtete –sie fand nur das mittlerweile angetrocknete Blut, das seiner Hand einen roten Glanz gab.
»Was …«, stammelte sie und sah von seiner Hand zu ihm auf. Erst jetzt registrierte sie, wie dicht sie voreinander standen. Fabios Gesicht war keine dreißig Zentimeter von ihr entfernt, seine Augen waren größer und eindrucksvoller als jemals zuvor. Allegras Puls beschleunigte sich, ihr Herz klopfte so schnell wie nach einer Stunde Joggen.
»Es war nichts«, versuchte sich Fabio an einer Erklärung. Die Worte kamen stockend, er hatte Mühe seine Atmung zu kontrollieren.
»Aber all das Blut«, setzte Allegra an, doch mit diesem Flattern, das in ihrem Magen Einzug gehalten hatte, war sie nicht in der Lage, ihren Satz zu vollenden.
»Es ist nichts«, wiederholte Fabio und sah sie dabei so eindringlich an, dass sie Gefahr lief, sich in seinen Augen zu verlieren.
War er noch näher gekommen? Sie spürte seinen warmen Atem im Gesicht. Ein sanfter Lufthauch, der zärtlich über ihre Wange strich.
»Ein kleiner Schnitt, der sich bereits wieder geschlossen hat?« Seine Worte kamen stockend, waren mehr Frage als Erklärung, als probiere er selbst, wie sie sich anhörten.
Allegra konnte sie über ihren donnernden Herzschlag hinweg kaum hören. Das Restaurant, ja die gesamte Umgebung, war in weite Ferne gerückt. Im Gegensatz zu Fabio, dessen Lippen nun so nah waren, dass sie nicht wagte, sich zu bewegen. Ihre Hände hielten nach wie vor die Verbindung, waren mittlerweile zwischen ihren Körpern eingekeilt.
»Ich …«, stammelte Fabio. »Es tut mir leid.«
Allegra suchte vergeblich nach dem Sinn in seinen Worten. Plötzlich spürte sie, wie die Wärme, die sie eben noch an ihrer Hand gespürt hatte, verschwand. Doch sie konnte den Blick nicht von Fabios Gesicht abwenden. Die verschwundene Wärme sammelte sich nun an ihrer Taille; Hände, die sie behutsam festhielten und näherzogen. Fabios Gesicht kam wie in Zeitlupe auf sie zu, sein Atem wärmte und liebkoste Allegras Gesicht. Nun versank sie regelrecht in den violetten Augen, tauchte tief hinein, während sie näher und näher kamen.
Wie aus dem Nichts veränderten sie sich jedoch, wurden zu den Augen aus ihren Träumen. Das kühle Eisblau vertrieb die Wärme und das behagliche Gefühl. Der Bann war gebrochen und Allegra zuckte erschrocken zurück. Hatte sie gerade beinahe Fabio geküsst? Einen Jungen, den sie kaum kannte? War ihr nicht erst gestern wieder die Oberflächlichkeit aller Männer eindrucksvoll demonstriert worden?
Hastig wich sie nach hinten und stieß dabei einen der Stühle um. Sie fühlte sich wie im falschen Film. Das schwebende Gefühl in ihrem Magen verwandelte sich binnen eines Wimpernschlags in einen harten Aufprall. Der Zusammenstoß mit der Realität.
»Scusa.« Fabio hob die Hände, wagte es nicht mehr, ihr in die Augen zu sehen.
Noch immer benommen versuchte Allegra, den Stuhl wieder aufzustellen. Ihre Hände zitterten, der Stuhl rutschte ihr wieder aus der Hand und fiel erneut polternd zu Boden.
»Was ist denn hier los?« Maria betrat das Restaurant.
Von der Tür aus konnte sie nicht sehen, dass Fabio geblutet hatte. So sehr geblutet hatte, dass sich um die Scherben herum eine kleine Lache gebildet hatte, die das Licht der Decke reflektierte. Das Blut war bereits geronnen. Wie viel Zeit war vergangen? Allegra hatte jegliches Gefühl dafür verloren.
»Nur ein kleines Missgeschick mit einem Glas, Mamma«, sagte Allegra schnell und hoffte, dass Maria das Zittern in ihrer Stimme nicht bemerkte. »Kein Problem.«
Maria lächelte Fabio an. »Das musst du dir von Allegra nicht abschauen. Sie hat ein wahres Talent darin, Gläser fallen zu lassen.« Sie zwinkerte ihm zu, ehe sie sich umdrehte und den Raum verließ.
Fabio ging wieder in die Hocke und sammelte die Scherben auf.
»Ich hole einen Lappen«, sagte Allegra schnell, ging hinter die Theke und zog einen Stapel Papiertücher aus der Halterung. Auf ihrem Weg zurück wäre sie beinahe in Fabio hineingerannt, der den Mülleimer ansteuerte. Sie trat zur Seite, er ebenfalls.
Mit einem strahlenden Lächeln bedeutete er ihr, zuerst den schmalen Durchgang zwischen Theke und Wand zu passieren. Sie ging an ihm vorbei, ohne ihn anzusehen. Nach einem Klirren im Metalleimer wurde ihr der Stapel Papiertücher aus der Hand gerissen.
»Ich mache das«, sagte Fabio, eilte zu dem Blutfleck und wischte ihn auf. Allegra war ihm gefolgt und starrte auf die vollgesogenen Tücher. Fabio rannte wieder zur Mülltonne, warf die Tücher weg und wusch sich anschließend die Hände. Allegra verfolgte über den Tresen hinweg die blutigen Schlieren, die in den Ausguss flossen, und die letzten Beweise, dass hier eben etwas völlig falsch gelaufen war, verschwanden für immer.
»Schau, alles gut.« Fabio hob demonstrativ die Hände und zeigte ihr die unverletzten Handflächen. »Es ist absolut nichts passiert.«
Ganz gleich, wie sehr er daran glauben mochte, Allegra war sich da nicht so sicher.
Fabio verschwand mit einem knappen Gruß und Allegra hatte keine Möglichkeit mehr, noch einmal nachzuhaken. Sie schloss das Restaurant ab, machte sich einen Kaffee und schnappte sich bei Maria ein Körbchen Brot und einen Teller Suppe. Damit setzte sie sich zum Essen nach draußen. Gleich nach ihrer SMS – ›Mittagspause!‹ – rief Jen an.
»Jetzt erzählst du mir sofort mehr über eure neue Aushilfe!«, verlangte sie – wieder ohne Begrüßung.
Allegra biss genüsslich von ihrem Brot ab. Sie wusste gar nicht, wo sie anfangen sollte. Mit dem Blut? Mit dem Flattern im Bauch oder damit, dass sie Fabio beinahe geküsst hatte?
»Al?«
»Ich bin noch dran«, antwortete sie kauend.
»Dann rede mit mir!«
Allegra stellte sich vor, wie ihre beste Freundin gerade finster dreinblickte. Das hatte sie sehr gut drauf. »Ist ja schon gut«, sagte Allegra und verkniff sich den nächsten Bissen, obwohl ihr Magen bereits rumorte. »Was willst du denn wissen?«
»Alles! Was denkst du denn?« Jen lachte und das Geräusch war selbst durchs Telefon ansteckend.
Plötzlich fiel all das Negative von Allegra ab, die Sorgen, die sie sich machte, die Gedanken über den Fast-Kuss. »Er heißt Fabio Speranza«, setzte Allegra an und wurde schon nach den ersten Worten unterbrochen.
»Wenn das kein Zeichen ist. Hoffnung, Allegra!«, kommentierte Jen. »Sieht er wenigstens gut aus? Hast du ein Foto?«
Allegra seufzte. »Nein, ich habe kein Foto. Er sieht normal aus, denke ich …«
»Denkst du? Ich kenn dich, da ist doch noch mehr!«
»Seine Augen sind … besonders«, versuchte Allegra zu erklären.
»Du solltest mal die von Alessandro sehen!«, sagte Jen schnell. Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Die sind übrigens deinen Augen ziemlich ähnlich.«
»Etwa neunzig Prozent der Weltbevölkerung haben braune Augen«, leierte Allegra unnützes Wissen herunter. Wo auch immer ihr Hirn so etwas abspeicherte. Sie schüttelte den Kopf.
»Ja, ja, ich weiß. Aber seine sind auch beinahe schwarz – wie deine, Allegra. Auf den Fotos kommt das nie so rüber wie in Wirklichkeit. Aber du wirst ihn ja bald kennenlernen.«
»Werde ich?«, lachte Allegra.
»Al! Ich habe dir doch erzählt, dass er mich besuchen kommt. Natürlich wirst du ihn kennenlernen. Und vorher will ich noch diesen Fabio sehen. Arbeitet er jetzt fest bei euch?«
»Mhm.« Allegras Gedanken glitten wieder zu den Scherben und dem vielen Blut auf den hellen Marmorfliesen.
»Willst du mir noch was sagen? Irgendetwas ist da, meine magische Freundinnen-Telepathie schlägt an!«
Allegra lachte freudlos auf. »Erzähl ich dir übermorgen, okay?«
»Nein!«, sagte Jen schnell. »Jetzt hast du mich neugierig gemacht. Ich rufe so lange an, bis du mir sagst, was mit diesem Typen nicht stimmt.«
»Wie kommst du darauf, dass etwas mit ihm nicht stimmt?«
»Ich kenne dich. So wie du reagierst, grübelst du über etwas nach. Und dieses Grübeln heißt bei dir, dass es nichts Positives ist.«
Jen kannte sie einfach zu gut. »Er hat heute beim Aufräumen ein Glas fallen lassen«, begann Allegra.
»Das weiß ich schon. Da haben wir gerade telefoniert«, warf Jen ein.
Allegra ignorierte den Einwurf. »Überall war Blut. Aber als ich die Wunde versorgen wollte, war nichts zu sehen. Absolut nichts!«
Es dauerte mehrere Sekunden, bis Jen antwortete. »Das ist … Ich denke, dass … Vielleicht hat er eine Krankheit, ist Bluter oder so etwas?«, versuchte sie sich schließlich an einer Erklärung.
»Das ist mir auch durch den Kopf gegangen. Aber dann hätte die Blutung nicht so schnell aufhören dürfen. Und vor allem hätte die Wunde nach den wenigen Minuten noch zu sehen sein müssen.« Allegra war schon seit Jahren bestrebt, möglichst viel medizinisches Wissen in sich aufzusaugen. Schließlich begann bald ihr Medizinstudium.
»Frag ihn doch einfach.«
Allegra lachte laut auf. »Er weicht mir aus und behauptet, dass nichts passiert sei.«
Jen schnaubte. »Typisch Männer!«
»Genau.« Allegra hatte ja denselben Gedanken gehabt. Nur wenig später hatte sie Fabio beinahe geküsst.
»Ist noch was?«, fragte Jen. Sie musste wirklich Gedankenlesen können.
»Ich hätte ihn beinahe geküsst.«
»Du hast was?« Jens Stimme überschlug sich fast. »Du ihn oder er dich? Hat das mit dem Krankenschwester-Ding doch funktioniert? Oder war er so mitleiderregend, dass du ihn trösten musstest?«
Die Fragen kamen so schnell, dass Allegra Mühe hatte ihnen zu folgen. »Ich weiß nicht, wie das passieren konnte«, sagte sie wahrheitsgemäß. »Es war plötzlich so ein Moment …«
»Jaja, das kenne ich. In solchen Momenten fühlt es sich immer richtig an.« Jen lachte. »Und warum hast du ihn nicht geküsst? Oder ihr euch?«
»Plötzlich waren da die Augen aus meinen Träumen.«
»Al! Hör auf damit, dich so auf diese Augen zu fixieren. Ich glaube nicht, dass sie irgendetwas mit deiner Zukunft zu tun haben, das habe ich dir schon so oft gesagt. Es ist sicher eine Kindheitserinnerung, die mit so vielen Emotionen behaftet ist, dass sie sich irgendwie in deinem Hirn verankert hat.«
Da sprach wieder einmal die Hobbypsychologin aus Jen. Sie visierte – nach einem weiteren Jahr Modelkarriere ein Psychologiestudium an, zumindest war das immer ihr Ziel gewesen. Traumatisierten Kindern und Jugendlichen zu helfen. Allegra glaubte, dass Jen sehr gut in dem Job sein würde.
»Ich weiß«, seufzte Allegra. »Aber was hat diese Erinnerung, die sonst in meinen Träumen auftaucht, am helllichten Tag im Restaurant zu suchen?«
»Das weiß ich auch nicht«, gab Jen ehrlich zu. »Ich muss jetzt wieder los. Telefonieren wir später nochmal?«
Allegra nickte, ehe sie so antwortete, dass auch Jen es mitbekam.
»Dann bis später. Und bleib anständig! Ehe ich mir diesen Fabio Hoffnung nicht angeschaut habe, hast du Kussverbot.« Sie lachte und steckte Allegra wieder an.
»Ich werde mich ganz sicher dran halten. Bis später.«
Sie legte das Handy zur Seite, löffelte ihre Suppe und nahm ab und an einen Bissen vom Brot.
Mit einem hatte Jen wohl wirklich Recht: Auch wenn Allegra nicht wusste, was es war, sie war überzeugt, dass irgendetwas mit Fabio nicht stimmte.
Auch die Freitage waren im ›Da Casari‹ alles andere als langweilig. Allegra fand nicht einmal Zeit, um auf Jens zahlreiche Nachrichten zu antworten. Die eine eingegangene Nachricht der unbekannten Nummer löschte sie ungelesen.
Viele der Gäste hatten den Nachmittag frei, daher ging die Mittagschicht nahezu nahtlos in die Abendschicht über. Vor allem die Kaffeespezialitäten des Hauses lockten scharenweise Kundschaft an.
Fabio hatte sich jedoch sehr gut geschlagen, auch wenn er mit Marias Erlaubnis erst später dazugestoßen war. Er hatte sich am Vormittag gemeldet und etwas von familiären Problemen erzählt, woraufhin Maria ihm sofort zugesagt hatte, dass er, wenn nötig, erst abends kommen könne. Nichtsdestotrotz war er schon kurz nach Mittag eingetroffen und hatte sich sofort in die Arbeit gestürzt – mit Erfolg. Es war kein einziges Glas zu Bruch gegangen, auch keine Teller oder Tassen, und er war binnen eines Tages zum Liebling der weiblichen Kundschaft geworden.
Allegra erwischte sich dabei, wie sie ihn immer wieder beobachtete, ohne es wirklich zu wollen. Sein strahlendes Lächeln wirkte selbst auf die gestressten und schlechtgelaunten Gäste wie ein Zauber. Es war beeindruckend. Er nahm ihnen die Worte aus dem Mund und verblüffte sie damit, so dass sie ihren Ärger vergaßen. Folglich war es auch kein Problem, wenn die eine oder andere Bestellung länger dauerte oder Fabio das Falsche servierte. In ihm steckte ein wahres Naturtalent.