utb 4650
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Melanie Moll, Winfried Thielmann
Wissenschaftliches Deutsch
Wie es geht und worauf es dabei ankommt
UVK Verlagsgesellschaft mbH · Konstanz
mit UVK/Lucius · München
Dr. Melanie Moll
ist Direktorin der »Deutschkurse
bei der Universität München e. V.«.
Prof. Dr. phil. habil. Winfried Thielmann
hat die Professur Deutsch als Fremd- und Zweitsprache an der Technischen Universität Chemnitz inne.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
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© Verlag Huter & Roth KG, 2016. www.huterundroth.at
Lizenznehmer: UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz
Satz und Layout: Claudia Wild, Konstanz
Covergestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart
Coverillustration: Graf+Zyx
eBook-Produktion: Pustet, Regensburg
UVK Verlagsgesellschaft mbH
Schützenstr. 24 · 78462 Konstanz
Tel. 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98
www.uvk.de
UTB-Band Nr. 4650
ISBN 978-3-8252-4650-1 (Print)
ISBN 978-3-8463-4650-1 (ePUB)
Studieren, aber richtig
Herausgegeben von Theo Hug, Michael Huter und Otto Kruse
Die Bände behandeln jeweils ein Bündel von Fähigkeiten und Fertigkeiten. Das gesamte Paket versetzt Studierende in die Lage, die wesentlichen Aufgaben im Studium zu erfüllen. Die Themen orientieren sich an den wichtigsten Situationen und Formen des Wissenserwerbs. Dabei werden auch das scheinbar Selbstverständliche behandelt und die Zusammenhänge erklärt.
Weitere Bände:
Otto Kruse: Lesen und Schreiben (UTB 3355)
Klaus Niedermair: Recherchieren und Dokumentieren (UTB 3356)
Theo Hug, Gerald Poscheschnik: Empirisch Forschen (UTB 3357)
Steffen-Peter Ballstaedt: Visualisieren (UTB 3508)
Jasmin Bastian, Lena Groß: Lerntechniken und Wissensmanagement (UTB 3779)
Mautner: Wissenschaftliches Englisch (UTB 3444)
Informationen, Materialien und Links: star.huterundroth.at
Liebe Leserin, lieber Leser,
wir freuen uns sehr, auf dem Wege dieser Einführung mit Ihnen über einen Gegenstand sprechen zu können, den wir sehr lieben und dem wir viel unserer Zeit widmen: das wissenschaftliche Deutsch, die deutsche Wissenschaftssprache. Wissenschaftssprache ist kein irgendwie ›komplizierter‹ Stil, sondern ein Werkzeug für wissenschaftliches Denken und Handeln, das zentrale Instrument für die Erlangung neuer Einsichten und Erkenntnisse.
Dies ist auch der Grund, warum wir diese Einführung geschrieben haben: Wir meinen nämlich, dass Wissenschaftssprache in vielen anderen Einführungen – und auch in universitären Einführungsveranstaltungen – gerne als eine Stilfrage behandelt wird mit dem Ergebnis, dass weder die Studierenden noch die Lehrenden richtig glücklich werden: Die Studierenden nicht, weil sie den Eindruck haben, dass von ihnen etwas erwartet wird, was sie nicht leisten können. Die Lehrenden nicht, weil sie den Eindruck haben, dass die Studierenden nicht verstehen wollen, worauf es an der Universität ankommt.
Deswegen – und das werden Sie sofort merken – ist dieses Buch kein ›Rezeptbuch für gutes wissenschaftliches Schreiben‹. Denn wir sind davon überzeugt, dass es für verständliche Wissenschaftssprache nur ein Rezept gibt: a) verstehen, wie Wissenschaft ›tickt‹ und von da her verstehen, worauf es Wissenschaftlern1 ankommt, wenn sie sich mündlich oder schriftlich über ihre Gegenstände äußern; b) sich aus genau diesem Verständnis heraus selbst wissenschaftlich zu artikulieren. Dabei möchten wir Sie unterstützen.
Was diese Dinge betrifft, ist noch kein Meister vom Himmel gefallen. Wir haben das genauso lernen müssen wie Sie. Und daher wenden wir uns auch gleichermaßen an Erstsemester wie Studierende, die vielleicht schon im Master sind: Weil wir wissen, dass man über diese Dinge immer wieder nachdenken muss. Dies gilt natürlich ganz besonders auch für unsere Leserinnen und Leser, die aus dem Ausland zu uns gekommen sind.
Wir beginnen aus diesen Gründen auch nicht gleich mit Wissenschaftssprache, sondern denken mit Ihnen erst einmal über den Unterschied zwischen derjenigen Institution, aus der sie (vielleicht gerade) gekommen sind, der Schule, und derjenigen, in die Sie jetzt hineinwachsen sollen, der Universität, nach. Dann sprechen wir mit Ihnen über eine der spannendsten menschlichen Unternehmungen überhaupt, die Wissenschaft, bevor wir uns der Frage zuwenden, wie Wissenschaftler sich der Sprache bedienen. Dabei schauen wir ihnen genau zu, d. h. wir besprechen Ausschnitte aus wissenschaftlichen Texten und Vorlesungen. Anschließend versuchen wir, Ihnen zu zeigen, wie Sie sich selbst wissenschaftlich artikulieren können.
Im sprachpraktischen Teil finden Sie zahlreiche Beispiele aus wissenschaftlichen Texten, die Ihnen eine erste Orientierung ermöglichen. Hier sehen Sie, wie wichtige sprachliche Formulierungsaufgaben von Experten bewältigt werden.2 Außerdem haben wir umfangreiche Redemittellisten zusammengestellt, die die Ausdrucksvielfalt der Wissenschaftssprache Deutsch veranschaulichen. Sie sollen als Anregungen und Unterstützung beim wissenschaftlichen Formulieren dienen. Die Auswahl der Beispiele und der gelisteten Ausdrücke und Ausdruckskombinationen ist funktional, d. h., es werden charakteristische sprachliche Handlungsformen (wie z. B. argumentieren, paraphrasieren, definieren), Leserorientierung und Textorganisation sowie zentrale Textteile (wie z. B. Einleitungen) berücksichtigt.
Die verwendeten Beispiele sind authentisch und stammen aus mehreren Korpora wissenschaftlicher Texte (Korpus Graefen [1996]; Korpus Thielmann [o. J.]; Korpus Moll [o. J.]; DWDS). Dabei wird die Disziplin, aus der das jeweilige Beispiel stammt, in Klammern am Ende des Beispiels aufgeführt. Wenn keine Disziplin genannt wird, handelt es sich um verkürzte und leicht umformulierte Quellen. Wenn es sich um Beispiele aus studentischen Arbeiten handelt, ist dies eigens vermerkt. Beispiele, die aus der Zeit vor der Rechtschreibreform stammen, sind in der damals üblichen Schreibweise aufgeführt. Die Zusammenstellung der Ausdrücke und Ausdruckskombinationen ist empirisch basiert und rein auf die wissenschaftliche Verwendung ausgerichtet. Die Listen sind also im lexikographischen Sinne nicht vollständig. Zur vereinfachten Darstellung werden verschiedene Abkürzungen und Variablen verwendet.3
Das Buch richtet sich an Studierende aller Disziplinen, da es fachübergreifende wissenschaftssprachliche Strukturen behandelt. Es ist nicht nur zum Selbststudium geeignet, sondern kann auch in Lehrveranstaltungen zum wissenschaftlichen Arbeiten und Schreiben eingesetzt werden. Sie können das Buch als Ganzes studieren, Sie können aber auch einzelne Themen auswählen und punktuell nachschlagen, wenn Sie Hilfe beim Formulieren benötigen oder sprachliche Anregungen suchen. Aber beachten Sie auch hier: Die schönste Redemittelliste hilft Ihnen nichts, solange Sie sich nicht damit auseinandergesetzt haben, wie wissenschaftliches Denken und Handeln funktioniert.
Wir würden uns sehr freuen, wenn diese Einführung dazu beitragen könnte, dass Sie Ihre Dozenten wie auch wissenschaftliche Texte besser verstehen und dass Sie sich bei der Teilnahme an universitären Lehrveranstaltungen wie auch beim Verfassen Ihrer schriftlichen Arbeiten sicherer fühlen. Wir würden uns auch freuen, wenn sich ein wenig von dem Vergnügen, das wir beim Verfassen dieser Einführung hatten, Ihnen mitteilen würde.
Melanie Moll und Winfried Thielmann
1 Wo bin ich hier bloß gelandet?
Von der Schule zur Universität
1.1 Institutionen
1.2 Schule
1.2.1 Wissen in der Schule
1.2.2 Lehrer
1.3 Universität
1.3.1 Studierende
1.3.2 Lehrende an Universitäten
1.3.3 Universitäre Lehre
1.3.4 Universitärer Umgang mit Wissen
Einschreibeformulare, Studentenwerksbeitrag, Krankenversicherung, Module, Tutor, Bachelor, Campusfinder, Studienordnung, Leistungspunkte, Prüfungsordnung, Dozent, Übungsleiter, Prüfungsleistung, elektronischer Semesterapparat, Bibliotheksausweis, Mensa, Wohnheim, WG, Prüfungsvorleistung, Miete, Untermiete, Job …
Sie haben vor Kurzem mit Ihrem Studium begonnen und sind glücklich, sich zumindest einen ersten Weg durch das Chaos zu Studienbeginn gebahnt zu haben. Zugleich haben Sie sich die Universität irgendwie anders vorgestellt und das Studieren auch. Sie haben den Eindruck, nicht genau zu wissen, was von Ihnen erwartet wird, obwohl es zu Anfang an jeder Ecke eine Informationsveranstaltung gegeben hat und Sie gar nicht mehr wussten, wohin Sie all diese Informationen noch stecken sollten.
Sie sind von einer Institution, die Sie gut kennen, nämlich der Schule, in eine Institution geraten, die irgendwie anders ›tickt‹, wobei es Ihnen nicht so klar ist, wie. Dies ist ein ausgezeichneter Zeitpunkt, über diesen Wechsel zwischen Institutionen nachzudenken.
▶ Institutionen scheinen so ziemlich das Langweiligste zu sein, worüber man überhaupt nachdenken kann. Sie werden aber sehr bald feststellen, dass Sie nicht nur an der Universität, sondern auch anderswo umso erfolgreicher handeln können, je besser Sie die Institution verstehen.
Stellen Sie sich vor, zwei Leute haben täglich denselben Weg in die Stadt und wieder zurück; der eine hat ein Auto, der andere nicht. Man bildet eine Fahrgemeinschaft und teilt sich die Kosten. Das ist bereits – eine Institution: eine Einrichtung, mit der sich gemeinsame Ziele besser verfolgen lassen. Nun haben aber Institutionen die Eigenschaft, dass sie sich gerne verdichten: Vielleicht gründen die beiden Leute irgendwann eine Mitfahrzentrale mit 25 Angestellten. Dann wird die Institution sozusagen sichtbar. Und zugleich passiert etwas sehr Merkwürdiges: Der Zweck der Mitfahrzentrale ist es, dass Menschen möglichst billig von A nach B kommen. Der Zweck der Betreiber der Mitfahrzentrale ist es hingegen, möglichst viel Geld zu verdienen. Dies ist ein Widerspruch. Und in der Mitfahrzentrale arbeiten Leute, die noch völlig andere Zwecke verfolgen, die mit dem der Mitfahrzentrale nicht das Geringste zu tun haben: Krankenversicherung für die Mitarbeiter abführen, Büroräume reinigen, Betriebsratssitzung organisieren … Außerdem: Die beiden Leute von der ursprünglichen Fahrgemeinschaft wissen alles über ihre Institution, was es zu wissen gibt. Aber wenn Sie zu einer Mitfahrzentrale gehen, weiß deren Mitarbeiter, der Agent der Institution, mehr über die Institution als Sie, der Kunde, oder – wie man auch sagt – Klient. Institutionelle Agenten wissen normalerweise mehr als institutionelle Klienten – ein asymmetrisches Verhältnis, das für Sie als Klienten nicht von Vorteil ist. Es ist mithin typisch für Institutionen,
Sie waren mindesten zwölf Jahre Klient einer Institution, die sie von der Klientenseite her sehr gut kennen: der Schule. Was ist der Zweck der Institution Schule? Nun, dasjenige Wissen zu vermitteln, von dem die Gesellschaft glaubt, dass es wichtig ist. Und warum? Weil alte Menschen sterben, junge heranwachsen, und es mit der Gesellschaft immer irgendwie weitergehen muss. Die Schule ist einer derjenigen Orte, in denen sich die Gesellschaft, der wir alle angehören, erneuert, reproduziert. Über das Wissen, das dort weitergegeben wird, wird in unserer Gesellschaft immer wieder gestritten. Was in der Schule gelernt wird, bestimmen in Deutschland die Kultusministerien der Bundesländer, in Österreich das Unterrichtsministerium und in der Schweiz die Kantone. Letztlich hat also eine Behörde darüber bestimmt, was Sie in der Schule gelernt haben. In Lehrplänen ist genau erfasst, was die Lehrer zu unterrichten haben.
Dieses Wissen, von dem die Gesellschaft glaubt, dass es für Sie notwendig ist, ist Ihnen in der Schule verabreicht worden. Sicher hat Sie davon das eine oder andere, vielleicht sogar das meiste, nicht interessiert. Warum nicht? Nun: Man kann ja problemlos durchs Leben gehen ohne zu wissen, wie man die Hypotenuse eines rechtwinkligen Dreiecks berechnet, wie das Perfekt von dicere geht oder wie es um die Bodenqualität in Brandenburg bestellt ist. Im Prinzip haben Sie sich Fähigkeiten (z. B. Englisch sprechen und schreiben) aneignen und Dinge (z. B. die Formel für die Berechnung der Hypotenuse eines rechtwinkligen Dreiecks) lernen müssen. Und das Lernen war umso mühsamer, je weniger der ›Stoff‹ irgendetwas mit Ihnen zu tun hatte, je weniger dieses Wissen in Antworten auf Ihre eigenen Fragen bestand. Das ist eigentlich Schule: Stundenlang Antworten auf Fragen kriegen, die man sowieso nie hatte, und sich diese Antworten merken müssen. Sie stellen aber auch fest: Dass es im Prinzip um die Schule so bestellt ist, liegt sozusagen in der Natur der Institution Schule. Solange Gesellschaften Schulen betreiben, werden Schüler Antworten auf Fragen bekommen, die sie nie gestellt haben, und sie werden lernen, denjenigen Antworten auf Fragen zu geben, die die Antworten schon wissen.
Den Lehrern, also den Agenten der Institution, obliegt es, sicherzustellen, dass das Wissen bei Schülern ankommt. Manche Lehrkräfte können das besser als andere. Aber letztlich machen alle Lehrer Schule, und am verdächtigsten sind diejenigen, die so tun, als täten sie genau das nicht.
Dass Schule in ihren Grundzügen so funktioniert (und auch funktionieren muss), führt bei den Schüler zu einem bestimmten Verhältnis zum Wissen: Das Wissen hat vielfach nichts mit einem selbst zu tun und wird gelernt, um Erwartungen zu erfüllen. Dabei und darüber hinaus gibt es eine Menge schultypischer Verfahren des Umgangs mit Wissen: auswendig lernen (ohne zu verstehen) und üben; aber auch abschreiben und spicken.
Dass die Schule Antworten auf Fragen gibt, die die Schüler nicht stellen, ist ein Widerspruch der Institution Schule, der nicht aufzulösen ist – es sei denn, man löst die Schulen selbst auf. Schüler begegnen diesem Widerspruch ihrerseits durch bestimmte Methoden des kurzfristigen Auswendiglernens oder durch ›taktisches‹ Melden im Unterricht, damit die Mitarbeitsnote stimmt.
Lehrer sind eine besondere Art institutioneller Agenten. Ihr gewöhnlicher Bildungsweg sieht folgendermaßen aus: Schule – Universität – Schule. Lehrkräfte bleiben der Institution Schule treu, sie wechseln nur die Seiten. Dies führt zu einer interessanten Erscheinung: An der Universität sind manche Lehramtsstudenten überrascht, dass sie über das Schulwissen hinaus noch Wissen erwerben sollen – wo sie doch schon alles wissen, was man für die Schule braucht. Ihre Erwartung ist, dass sie auf der Universität lernen, wie sie agentenseitig dasjenige Wissen, das sie sowieso schon haben – also das Schulwissen – am besten vermitteln. Mit anderen Worten: Das Verhältnis zum Wissen ist bei vielen Lehrern (natürlich nicht allen) genauso äußerlich wie bei den Schülern. Die Schule, in der es doch zentral ums Wissen geht, ist von Widersprüchen geprägt, die sowohl bei den Klienten (den Schülern) als auch bei den Agenten (vielen Lehrern) zu einem äußerlichen Verhältnis zum Wissen führen. Wenn wir von einem ›äußerlichen Verhältnis zum Wissen‹ reden, meinen wir ein Wissen, das der Wissende bestenfalls irgendwie hat, das ihn aber nicht eigentlich angeht.
▶ Institutionen sind immer von inneren Widersprüchen geprägt, die den Zweck, für den es die Institution gibt, unterlaufen. Nirgendwo ist das Verhältnis zum Wissen gleichgültiger und äußerlicher als in der Schule. – Nirgendwo finden sich so viele gefährliche und so resistente Bakterien wie in den Krankenhäusern.
Während es sehr einfach ist, den Zweck der Institution Schule anzugeben, ist das bei Universitäten schwieriger. Diese Schwierigkeit liegt darin, dass das Wissen, um das es an Universitäten geht, eine andere Qualität hat als das Schulwissen. Schulwissen, hatten wir gesagt, wird von Ministerien als verbindlich festgelegt. Wer aber verfügt darüber, was an den Universitäten gelehrt wird?
Im Artikel 5.3 des Grundgesetzes steht: »Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.« Das heißt: Über das, was an Universitäten gelehrt wird, verfügt niemand anders als die Lehrenden selbst. Und wenn ihnen jemand sagen will, was sie lehren sollen, können sie sich auf die im Grundgesetz garantierte Freiheit der Lehre berufen. Wie kann das funktionieren?
Das Wissen, das sie in der Schule vermittelt bekommen haben, ist ein Wissen, von dem alle überzeugt sind, dass es wahr ist. Es ist gesichertes Wissen.
Der Zweck der Universitäten ist ein anderer, und zwar zweifach: Über das gesicherte Wissen hinauszugehen (durch wissenschaftliche Forschung) und Sie dazu zu gewinnen, dies auch zu tun (Lehre). Lehre ist nicht Unterricht. Praktisch alle Lehrenden an der Universität betreiben Wissenschaft, d. h. sie sind bemüht, neues Wissen herauszufinden. Und praktisch jeder Lehrende möchte Sie dazu in die Lage versetzen, selbst einmal über gesichertes Wissen hinauszugehen. Universitäten sind also in derjenigen Zone des gesellschaftlichen Wissensstoffwechsels angesiedelt, in der die Grenze zwischen Bekanntem und Unbekanntem, Altem und Neuem, ständig verschoben wird. Und ihr Zweck besteht darin, Sie genau in dieses Geschäft einzuführen und Sie – im Idealfall – ebenfalls zu Wissenschaftlern zu machen.
Nun kann man sich das ja leicht vorstellen: Jemand, der etwas Neues herausfindet, addiert oft nicht einfach etwas zu bestehendem Wissen hinzu. Das Neue kann doch gerade darin bestehen, dass jemand herausfindet, dass etwas, von dem alle geglaubt haben, es sei richtig, in Wirklichkeit falsch ist. Dann muss derjenige, der das Neue vertritt, sich mit denjenigen auseinandersetzen, die das Alte hochhalten. Wissenschaft ist daher ganz wesentlich ein Streitgeschäft; Universitäten sind Orte wissenschaftlicher Auseinandersetzung.
Als Institutionen, die nicht in der Verbindlichkeitszone, sondern in der Streitzone des Wissens angesiedelt sind, sind Universitäten besonders dem neuen Wissen verpflichtet.5 Dennoch gibt es – je nach Fach – eine größere oder kleinere Menge an Wissensbeständen, die Sie nicht in der Schule hatten und die im Fach verbindlich sind. Man spricht hier von kanonisierten Wissensbeständen, die vor allem im Grundstudium Gegenstand sind.
Bevor Sie sich an der Universität eingeschrieben haben, haben Sie sich für ein bestimmtes Fach, eine bestimmte Fächerkombination entschieden. Manche haben sich ihre Entscheidung sehr lange überlegt, andere haben diese Entscheidung eher spontan getroffen. Im Gegensatz zur Schule, wo Sie keine (oder nur eingeschränkte) Wahl hatten, haben Sie mit Ihrer Entscheidung für ein Studienfach eine selbständige Wahl getroffen. Dies hat folgendes zur Konsequenz: Wenn Sie mit Ihrer Entscheidung, mit Ihrer Wahl nicht glücklich werden, sollten Sie das Fach wechseln. Denn Sie werden es an einer Universität nicht weit bringen, wenn Sie den Gegenständen kein Interesse entgegenbringen.
Während Sie in der Schule durchgängig auf der Klientenseite waren, müssen Sie während Ihres Studiums nicht dort bleiben: Als studentische Hilfskraft können Sie für die Belange einer Professur tätig werden, als Tutor schon während Ihrer Studienzeit lehren. Prinzipiell steht Ihnen an einer Universität der Weg zur wissenschaftlichen Karriere offen.
Als Student sind Sie vom ersten Semester an eine Persönlichkeit, die für ihre eigene wissenschaftliche Entwicklung selbst verantwortlich ist. Die Lehrenden erwarten von Ihnen Interesse an den Gegenständen und dürfen das auch, da Sie ja mit der Fachwahl Interesse bekundet haben (falls Sie das von Ihnen gewählte Fach nicht lieben, siehe oben).6
Da von Ihnen Interesse am Fach und seinen Gegenständen erwartet wird, ist es auch nicht mehr damit getan, dass Sie ein schulisches Verhältnis zum Wissen beibehalten. Jetzt müssen Sie die Dinge etwas angehen, die Dinge müssen anfangen, in Ihnen zu leben. Wie soll das gehen? Indem Sie von jemandem, der Wissen von anderen (Lehrenden) fraglos übernimmt, zu jemandem werden, der selbst Fragen stellt.
▶ Sie werden sich an Ihrer Universität umso wohler fühlen, je schneller Sie begreifen, dass Sie aufhören müssen, Schüler zu sein. Dies bedeutet vor allem, dass Sie es dem Wissen gestatten, in Ihnen zu wohnen und sich in Ihnen zu entwickeln. Dies wird unweigerlich mit Ihnen passieren, wenn Sie auf Ihre Gegenstände neugierig sind und beginnen, eigene Fragen zu stellen.
Die Lehrenden, die Ihnen an der Universität begegnen, sind keine Schullehrer. Es sind Menschen, die Wissenschaft treiben und ihnen genau dies vermitteln möchten. Manche stehen noch ganz am Anfang ihrer Karriere, manche sind bereits in ihrem Fach etabliert. Diese haben in ihrem Fach einen Namen, d. h. sie sind anderen Wissenschaftlern, die sich mit denselben oder ähnlichen Gegenständen befassen, bekannt. Sie sollten einschätzen können, wer vor Ihnen steht:
Tutoren sind Studierende in höheren Semestern, die mit Ihnen z. B. die Inhalte von Vorlesungen nacharbeiten. Für diese Aufgabe sind sie in der Regel von Professoren, denen sie als wissenschaftlich engagierte und interessierte Studierende aufgefallen sind, ausgewählt worden. Tutoren sind zwar für Sie da, schätzen es aber nicht, wenn Sie nur ins Tutorium kommen, weil Sie sich z. B. die Lösungen von Übungsaufgaben »abholen« wollen, die Sie nicht selbst bearbeitet haben. Bereits in diesen Veranstaltungen gilt: Sie werden umso mehr davon profitieren, je intensiver Sie sich mit den Gegenständen bereits auseinandergesetzt haben.
Wissenschaftliche Mitarbeiter sind entweder vorwiegend in der Lehre oder zu gleichen Teilen in Forschung und Lehre beschäftigt. Sie halten typischerweise Seminare und Übungen, in den Natur- und Technikwissenschaften auch Praktika ab. Diejenigen wissenschaftlichen Mitarbeiter, die zu gleichen Teilen lehren und forschen, sind meistens auf befristeten sogenannten Qualifikationsstellen beschäftigt und arbeiten entweder an ihrer Promotion (d. h. sie »machen ihren Doktor«) oder an ihrer Habilitationsschrift (dem »zweiten Buch«, das eine wichtige Voraussetzung dafür ist, Professor werden zu können). Bei wissenschaftlichen Mitarbeitern haben Sie es also überwiegend mit Menschen zu tun, die in die Wissenschaft hineinwollen oder bereits dort weitgehend angekommen sind. Es sind Leute, die ihre Gegenstände so lieben, dass sie ihr ganzes Leben damit verbringen wollen, etwas über sie herauszufinden. Ob es ihnen nun gelingt oder nicht, diese Liebe auch sichtbar werden zu lassen: Wissenschaftliche Mitarbeiter haben häufig nur wenig Verständnis dafür, dass sich jemand für ein Fach entschieden hat, ohne dessen Gegenstände – also etwa Differentialgleichungen, die Harmonik Béla Bartóks, die deutsche Satzstruktur, das Verhalten elektromagnetischer Wellen, das Bündnissystem Bismarcks oder die Kriechfestigkeit von Magnesium-Druckgusslegierungen – auch zu lieben oder zumindest ein ehrliches Interesse dafür aufzubringen.
Juniorprofessuren wurden vor etwa fünfzehn Jahren eingeführt, um den klassischen Weg zur Professur (Promotion und Habilitation) abzukürzen. Juniorprofessoren haben befristete Stellen inne und stehen zwischen wissenschaftlichen Mitarbeitern und Professoren.
Professoren haben einen sehr langen Qualifikationsweg, auch heute noch meistens Promotion und Habilitation (oder inzwischen auch Juniorprofessur) hinter sich. Das durchschnittliche Habilitationsalter liegt bei etwa 40 Jahren. Nach der Habilitation bewirbt man sich als Privatdozent auf freie Professorenstellen in dem Bereich, für den man die venia legendi (die Erlaubnis, Vorlesungen zu halten) besitzt. Während dieser Bewerbungszeit müssen Privatdozenten an derjenigen Universität, an der sie sich habilitiert haben, weiter lehren, um sich die venia zu erhalten. Und da sie das müssen, muss man ihnen nichts dafür bezahlen. Der Privatdozent doziert eben privat. Wenn er daran scheitert, eine Professur zu bekommen, muss er sich umorientieren. Die Professoren, die vor Ihnen stehen, haben all dies hinter sich: eine wissenschaftliche Laufbahn, eine der spannendsten und zugleich riskantesten Laufbahnen, die es gibt. Wer sich für so etwas entscheidet, liebt in den meisten Fällen seine Gegenstände nicht nur, er brennt für sie.
Alle diese Lehrenden lehren, was sie für wichtig und richtig halten. Sie lehren sehr oft zu Bereichen, zu denen sie selbst geforscht haben. Sie geben auch ihre eigenen wissenschaftlichen Erkenntnisse – ein Wissen, das oft noch strittig ist – weiter.
In den Medien ist inzwischen oft davon die Rede, dass Lehrende an Universitäten keine pädagogische Ausbildung haben, also eigentlich gar nicht wissen, wie man Unterricht macht, und dass das für die Studierenden ein Problem sei. Lehrende an Universitäten vermitteln aber nicht einfach irgendeinen Stoff mehr oder weniger gut. Sie machen keinen Unterricht. Sie forschen selbst und versuchen, Ihnen einen wissenschaftlichen Blick auf die Gegenstände zu vermitteln, so dass Sie irgendwann selbst Wissenschaft treiben können. Dies geht nur, indem die Lehrenden Ihnen genau das vorleben. Sicher können manche dies besser als andere. Aber es gibt hierfür keine allgemeinen Prinzipien, da schon das Wissen selbst und die Perspektive auf die Gegenstände an die jeweilige Person gebunden sind, in der Mathematik genauso wie in der Soziologie oder Musikwissenschaft.
Universitäten bilden grundsätzlich nicht aus. Sie sind – auch wenn die Politik dies oft vergisst – keine Ausbildungsinstitutionen. Genau dies unterscheidet sie von Fachhochschulen. Die einzigen universitären Studiengänge, die Ausbildungscharakter haben, sind diejenigen, die auf ein Staatsexamen (z. B. Lehramt, Jura) oder die Approbation (Medizin) hinführen.
Der Zweck universitärer Lehre ist es nicht, Ihnen etwas beizubringen, was Sie »für die Praxis brauchen«. Der Zweck universitärer Lehre ist es, Sie in die Lage zu versetzen, selbständig bestehendes Wissen zu vermehren und die bestehende Praxis zu verbessern. Deswegen können Sie an einer Universität auch nur ganz wenig ›nur‹ lernen; man erwartet von Ihnen, dass Sie die Dinge verstehen und über Verständnis und Neugier ein vertieftes Wissen über sie ausbilden. Daher ist nach wie vor an Universitäten die mündliche Prüfung so wichtig: Denn das vertiefte Wissen, die Selbständigkeit im Denken, zeigen sich ganz besonders im Gespräch, das – anders, als in der Schule – kein Abfragen ist.
▶ Nichts frustriert Lehrende an Universitäten mehr, als nach vielen Semestern statt eines wissenschaftlich gebildeten Menschen, der sich eigenständig über seine Gegenstände äußern kann, nur einen Schüler vor sich zu haben, der Gelerntes gleichgültig abspult.
Dass Universitäten Orte wissenschaftlicher Auseinandersetzung sind, zeigt sich auch in der Lehre, in vielen Fächern schon im ersten Semester, in anderen später. Sie erkennen das daran, dass es, anders als in der Schule, plötzlich gar nicht mehr um das Wissen selbst zu gehen scheint. Plötzlich wird es mindestens ebenso wichtig, wer etwas wann herausgefunden hat. Es ist von großem Interesse, welche Auffassung von einem Gegenstand jemand vertritt oder welcher Schule oder welcher Strömung er angehört. Dies führt zunächst einmal dazu, dass Sie ständig mit Namen bombardiert werden, mit denen Sie rein nichts verbinden, und schon glücklich sind, wenn Sie wenigstens wissen, wie diese Namen geschrieben werden. Ärgern Sie sich nicht über diese Namen, sondern versuchen Sie, etwas über die Personen, die sie tragen oder getragen haben, herauszufinden. Fangen Sie bei den Lehrenden selbst an, deren Lebensläufe und Veröffentlichungen heute meistens im Internet stehen. Sie werden schnell merken, dass sich das Dunkel ein wenig zu lichten beginnt: Hinter Namen, die Ihre Professorin oder ein wissenschaftlicher Mitarbeiter recht häufig fallen lassen, stehen u. U. Professoren, bei denen sie promoviert und habilitiert haben, Kollegen, mit denen sie zusammen geforscht und publiziert haben, oder die Begründer wissenschaftlicher Schulen und Denktraditionen, denen sie verpflichtet sind. Kein Wissenschaftler existiert im leeren Raum; alle haben ihre Gewährsleute. Wissenschaft ist eine kollektive Unternehmung, in der es nicht weniger menschelt als anderswo – eher mehr.
Je nach Fach erhalten Sie vielleicht recht bald den Eindruck, dass es, wo doch so viele verschiedene Auffassungen zirkulieren, gar nicht mehr darum zu gehen scheint, was wahr und richtig ist. Doch geht es gerade darum: Denn jedem Wissenschaftler erscheint das, was er vertritt, als wahr und richtig. Die Frage ist eben, ob sich seine Auffassung durchsetzen, d. h. irgendwann auch von der Mehrheit der Fachgenossen akzeptiert werden wird.
Von Ihnen wird erwartet, dass Sie nach einiger Zeit einen Teil der Wissenschaftslandschaft überblicken, bestimmte Positionen kennen und Argumente dafür und dagegen haben.
▶ Wenn Sie auf die universitäre Herausforderung, in die wissenschaftliche Streitzone einzutreten, auch noch nach etlichen Semestern mit der Frage reagieren, was denn richtig ist und was Sie denn für die Prüfung lernen sollen, werden Sie und die Universität nicht miteinander glücklich.
Alles, was bisher gesagt worden ist, soll Ihnen helfen, einen neuen, einen der Universität angemessenen Zugang zum Wissen zu gewinnen. Aber wie sieht dieser Zugang konkret aus?
Auf der Schule konnten Sie – im Extremfall – mit folgendem Verfahren überleben: Sie nahmen einen Satz aus einem Lehrbuch (der Sie nicht wirklich interessierte, hier mit p bezeichnet), speicherten ihn im Gedächtnis, schrieben ihn unter eine Klausurfrage und vergaßen ihn dann wieder (s. Abb. 1). Wichtig bei diesem Verfahren ist es, die Fragen zumindest so genau zu lesen, dass man weiß, welche Sätze man wohin schreiben soll.
Abb. 1: Verpflanzung von Schulwissen
Auf der Universität sollte Ihr Wissen sozusagen eine Binnenstruktur aufweisen: Sie wissen etwas über einen Gegenstand. Wissen besteht also mindestens aus drei Dingen: Ihnen, dem Gegenstand, und demjenigen, was Sie über den Gegenstand wissen.7 Sie wissen, dass einem Gegenstand etwas zukommt. Sie halten – in Ihrem Kopf – eine Zukommensrelation aufrecht zwischen dem Gegenstand und demjenigen, was Sie darüber wissen. Aus Ihrer Perspektive sieht das so aus wie in Abb. 2.
Abb. 2: Wissen aus der Perspektive des Wissenden
Sie sehen: Aus dem Satz p, den Sie vielleicht in der Schule als ganzen auswendiggelernt und unter eine Klausurfrage geschrieben haben, ist etwas geworden, das Sie selbst angeht. Dass man etwas auf diese Weise weiß, ist eine ganz wichtige Bedingung für das, worauf es wirklich ankommt: die Vernetzung der Gegenstände im Wissen. Was ist damit gemeint? Damit ist gemeint, dass Ihr Wissen sich zunehmend folgendermaßen ausprägt: Sie wissen nicht nur mehrere GüGn über ein und denselben Gegenstand, sondern Sie wissen diesen Gegenstand auch als GüGa über einen anderen Gegenstand Ga. Das hört sich sehr theoretisch an, ist aber ganz einfach.
Irgendwann hatten Sie einmal zwei Lieblings-T-Shirts, von denen Sie eines bei 60 Grad gewaschen haben, weswegen Sie jetzt nur noch über ein Lieblings-T-Shirt (G) verfügen, von dem Sie wissen, dass es nur bei 30 Grad gewaschen werden kann (GüG). Über die Firma H (Ga) wissen Sie, dass diese Ihr Lieblings-T-Shirt hergestellt hat (GüGa1). Außerdem haben Sie über H (Ga) in der Zeitung gelesen, dass die in südostasiatischen Sweat-Shops produzieren lassen (GüGa2), weswegen Sie keine weiteren T-Shirts von diesem Hersteller mehr kaufen. Aber Ihr Lieblings-T-Shirt tragen Sie weiter, bis es auseinanderfällt. Dies ist eine vernetzte Wissensstruktur, von der wir hier nur einen kleinen Teil anschaulich machen:
Abb. 3: Beispiel für eine vernetzte Wissensstruktur
Die Grafik stellt folgendes dar: Sie wissen über Ihr Lieblings-T-Shirt (G), dass es nur bei 30 Grad gewaschen werden kann (GüG). Das, was sie über einen völlig anderen Gegenstand Ga wissen, nämlich die Firma H, ist zugleich etwas, was G betrifft, nämlich, dass H ihr Lieblings-T-Shirt hergestellt hat (GüGa1). Mit diesem Wissen verbunden ist aber noch etwas anderes, was Sie über H wissen: dass der in Sweat-Shops produziert (GüGa2). Außerdem wissen Sie über den Satz pa2 (H produziert in Sweat-Shops), dass er in der Zeitung gestanden hat. Hierdurch wird der Satz pa2 zu einem eigenen Gegenstand Gb Ihres Wissens, dem das gewusste GüGb (steht in der Zeitung) zukommt. Das Interessante an dieser vernetzten Wissensstruktur ist, dass die Frage, was Gegenstand (G) und Gewusstes über den Gegenstand (GüG) ist, davon abhängt, wo Sie in dieses Netz einsteigen. Wenn Sie den Zeitungsbericht zum Ausgangspunkt nehmen, wird u. U. das, was in der Grafik Gb ist, zu G. Das Netz lässt sich sozusagen ganz verschieden ausschreiten.
Wie sieht Ihr Wissen hinsichtlich der folgenden schulischen Gegenstände aus: irrationale Zahl, Weimarer Republik, Zellkern, Interferenz, Sonett? Falls Sie das nicht in der Lieblings-T-Shirt-Weise entwickeln können – das ist nicht schlimm. Es ging Sie ja nichts an, Sie haben das ›nur gelernt‹.
▶ Alles, was uns unmittelbar angeht, wissen wir auf eine Weise, die der ›Lieblings-T-Shirt-Struktur‹ ähnelt: komplex, vernetzt, in jeder Richtung beschreitbar. Alles ›nur Gelernte‹ wissen wir hingegen oft nicht als Netz oder Komplex, sondern als Bruch- und Versatzstück. Das ›neue Verhältnis zum Wissen‹, über das wir bisher schon öfter gesprochen haben und das Sie auf der Universität brauchen, besteht genau darin, sich die neuen Gegenstände auf eine Weise anzueignen, wie man sich all das angeeignet hat, was einen angeht.8
2 Warum reden die alle von Wissenschaft und sagen nicht, was das ist?
Charakteristika des Unternehmens Wissenschaft
2.1 Was ist Wissenschaft?
2.2 Wissenschaftliche Praxis
2.2.1 Wissenschaftsethische Prinzipien
2.2.2 Innere Widersprüche von Wissenschaft
Einführung in das wissenschaftliche Arbeiten, Wissenschaftlerin, sozialwissenschaftliche Fakultät, Sprachwissenschaft, Naturwissenschaften, Geisteswissenschaften, wissenschaftliche Argumentation, wissenschaftliches Vorgehen, Wissenschaftlichkeit – es wird kaum ein Wort geben, das Sie auf der Universität öfter hören werden als das Wort Wissenschaft. Zugleich erscheint Ihnen vielleicht die Bedeutung dieses Wortes verschwommen zu sein. So haben Sie z. B. in einer Veranstaltung, die »Einführung in das wissenschaftliche Arbeiten« heißt, erfahren, wie sie mit den Ideen anderer Wissenschaftler, ihrem geistigen Eigentum, umzugehen haben, indem Sie korrekt zitieren, d. h. zwischen eigenen und fremden Gedanken sauber trennen. Sie haben gelernt, ein Literaturverzeichnis anzulegen. Aber was Sie – und dies ist ein häufiges Problem solcher Veranstaltungen – vielleicht nicht gelernt haben, ist, was Wissenschaft ist. Vielleicht haben Sie bereits eine Seminararbeit oder Ihr Protokoll eines Praktikumsversuchs zurückbekommen und haben den Eindruck, dass von Ihnen, unfairerweise, etwas erwartet wird, was Sie in den Einführungsveranstaltungen gerade nicht mitbekommen haben. Sie haben irgendwie den Eindruck, dass man Ihnen genau dasjenige schuldig bleibt, was man von Ihnen erwartet: nämlich zu wissen, was Wissenschaft ist. Der Grund dafür liegt darin, dass viele Dozenten der Auffassung sind, dass Sie lernen, Wissenschaft zu betreiben, wenn man Ihnen Wissenschaft sozusagen vorlebt. Eine solche Auffassung hat in den deutschsprachigen Ländern eine sehr lange Tradition. Sie geht auf Wilhelm von Humboldt (1767–1835) zurück: die Einheit von Forschung und Lehre. Hinter dieser Auffassung steckt eine ganz einfache Einsicht: man kann nicht alles aus Büchern lernen. Sie können Bücher über Gitarrespielen, Karate oder Tangotanzen lesen. Aber lernen können Sie Gitarre, Karate oder Tango nur mit einem Lehrer, der ihnen Gitarre, Karate oder Tango vormacht, vorlebt. Das Wissen, das Wissenschaftler produzieren, steht in Büchern und Aufsätzen. Aber die Wissenschaft nicht. Die müssen Sie sich sozusagen abgucken wie Sie sich einen Akkordwechsel auf der Gitarre abgucken. Dies ist auch der Grund, warum es nichts bringt, auf die Frage, was Wissenschaft ist, eine Definition zu geben. Was Gitarrespielen ist oder Karate, kann Ihnen eine Definition nicht sagen. Wir versuchen dennoch, Ihnen nun eine Vorstellung davon zu vermitteln, was Wissenschaft ist, und zwar unabhängig davon, ob Sie nun Informatik, Literaturwissenschaft oder Soziologie studieren.
Was alle Wissenschaftler eint, ist die Neugier. Sie sind neugierige Menschen, die über bestimmte Dinge etwas Neues herausfinden möchten. Die Dinge, über die sie etwas herausfinden möchten, sind ihre Gegenstände. Wissenschaftler sind Menschen, die zu Gegenständen, die sie lieben und auf die sie neugierig sind, Fragen haben.9 Was Wissenschaftler von anderen Menschen unterscheidet, die ebenfalls neugierig sind und Fragen haben, ist, dass sie ihre Fragen auf eine besondere Weise stellen und zu beantworten versuchen. Hierzu einige Überlegungen:
Die Fragen, die ein Wissenschaftler hat, kommen nicht aus dem Nichts, sondern bereits aus der Wissenschaft. Hierzu folgendes Beispiel: Wie Sie wissen, sind Viren sehr klein, viel kleiner als Bakterien. Als man wusste, dass es Krankheiten gibt, die nicht durch Bakterien verursacht werden, begann man nach anderen Erregern zu suchen. So wusste man bereits recht gut über Viren Bescheid, bevor man sie sichtbar machen konnte.
Die Fragen, die ein Wissenschaftler hat, setzen immer schon ein bestimmtes Verständnis des Gegenstandes, eine bestimmte »Lesart« des Gegenstandes voraus: Stellen Sie sich zwei Wissenschaftler vor, von denen der eine die grammatischen Regeln des Deutschen erforscht und der andere Verhandlungstaktiken und -strategien. Für den ersten reicht es völlig aus, wenn er Sprache als eine Menge von Wörtern verschiedener Klassen begreift, die nach bestimmten Regeln verändert und angeordnet werden. Für den zweiten ist ein solches Verständnis von Sprache nicht ausreichend, da er zum Beispiel mitberücksichtigen muss, dass Sprache etwas ist, was sich zwischen Sprecher und Hörer ereignet.
Die Fragen, die ein Wissenschaftler hat, zusammen mit den Gegenständen, die er befragt, geben immer auch schon einen Weg der Beantwortung vor: Wenn Sie wissen wollen, ob ein bestimmter Stoff den Blutdruck senkt, müssen Sie anders vorgehen, als wenn sie wissen wollen, bei welcher Temperatur eine bestimmte Legierung schmilzt: In einem Fall müssen sie viele Versuche – zuerst an Tieren und dann an vielen Menschen – durchführen; im anderen die Legierung schmelzen und die Temperatur messen.
Aus diesen ersten Überlegungen, die die Wissenschaftler, also die Agenten des Unternehmens Wissenschaft, betreffen, ziehen wir nun einige Folgerungen.
Wissenschaft ist eine gemeinsame, eine kollektive Unternehmung: Da die Fragen, die ein Wissenschaftler hat, immer schon aus der Wissenschaft kommen – es gibt eben zu jedem Zeitpunkt Dinge, die man schon weiß, und solche, die man noch nicht weiß –, steht ein Wissenschaftler immer im Austausch mit anderen Wissenschaftlern. Seine Fragestellungen kommen aus der Wissenschaft, und er speist seine Erkenntnisse wieder in die Wissenschaft ein.
Wissenschaft ist eine konkurrenzielle Unternehmung: Stellen Sie sich vor, mehrere Wissenschaftler arbeiten separat an derselben Fragestellung. Wer die Frage zuerst beantwortet, hat die Fragestellung für alle anderen überflüssig gemacht. – Wer in der Wissenschaft eine Frage zuerst beantwortet hat, besitzt die Priorität (›Zuerstheit‹). Im Sport gibt es Gold, Silber und Bronze; in der Wissenschaft beißen die Hunde nicht den letzten, sondern bereits den zweiten.
Wissenschaft ist eine streitende Unternehmung: Da hat jemand die Schmelztemperatur einer bestimmten Legierung bestimmt, und ein anderer weist ihm nach, dass sein Temperaturmessverfahren nicht exakt war. Der Wissenschaftler, für den Sprache aus Wörtern und Regeln besteht, kommt mit demjenigen nicht überein, für den Sprache etwas ist, mit dem ein Sprecher auf einen Hörer einwirkt. Ein Wissenschaftler, dem man die Priorität bei dem Nachweis der blutdrucksenkenden Wirkung einer Substanz zuerkannt hat, verliert seine Professur, weil er Messdaten von einem Konkurrenten gestohlen hat, der dieselbe Fragestellung bearbeitete. – Wissenschaftler mögen im normalen Leben friedliche und oft unscheinbare Menschen sein. Aber in ihrer Profession sind sie Streithammel.
Der wissenschaftliche Streit ist der einzige Garant für belastbare Ergebnisse: Wer kontrolliert die Wissenschaftler? Andere Wissenschaftler. Wissenschaft, als eine kollektive, konkurrenzielle und streitende Unternehmung, ist ihre eigene und einzige Kontrollinstanz.