Theresa Lachner, Jahrgang 1986, ist Journalistin, Speakerin und Gründerin des größten deutschsprachigen Sexblogs »Lvstprinzip«. Nach einem Doppelstudium in Publizistik und Literaturwissenschaften lebte sie rund fünf Jahre lang ohne festen Wohnsitz und bereiste dabei 36 Länder. Sie schrieb unter anderem für Business Punk, NEON, Spiegel Online, DIE ZEIT und sämtliche großen deutschsprachigen Frauenzeitschriften. Derzeit befindet sie sich in der Weiterbildung zur Sexologin.
Zu laut, zu freizügig, zu nachdenklich, zu dick, zu dünn, zu erfolgreich, zu selbstkritisch, zu viele Gefühle auf einmal – irgendwie sind wir immer entweder »zu« oder »nicht genug«. Aber wie fühlt man sich eigentlich richtig? Theresa Lachner hat lange relativiert, meditiert und nach Lösungen recherchiert. Aber irgendwann hat‘s ihr gereicht. Sie hat ihre Wut genommen und darüber geschrieben: über ihren Weg zur erfolgreichsten deutschen Sexbloggerin und den Kampf gegen altbackene Vorstellungen. Lachner erzählt von Bondageworkshops und weiblicher Ejakulation, Tantraseminaren, Playpartys und Pornodrehs. Und davon, wie sie als Digitalnomadin siebeneinhalb Mal um die Welt geflogen ist und dabei unter jedem Stein nach einem Zuhause gesucht und es schließlich gefunden hat – in sich selbst.
»Was ist das heute, eine freie Frau – und was hat das mit Sex zu tun? Theresa Lachner hat eine entwaffnend offene Biografie ihres Begehrens geschrieben.« MEREDITH HAAF
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Danke
Impressum
Für Leo
Like, my goal isn’t to be good or normal or accepted. My goal is to be free.
(And maybe also to troll society a bit in the process, for good measure.)
Karley Sciortino
Machen wir uns nichts vor: Dreißig ist ein bisschen früh, um die eigenen Memoiren niederzuschreiben.
Normalerweise sollte man damit wahrscheinlich bis mindestens Anfang siebzig warten, bis man nicht nur aus dem Schaukelstuhl auf irgendeiner hyggeligen Holzveranda am Meer auf ein bewegtes Leben zurückblicken kann, sondern die ansonsten dringlichsten Alltagsfragen so was sind wie: Wer moderiert diese Woche eigentlich die Kulturzeit? Und was gibt’s gerade nochmal bei Kaufland im Sonderangebot?
Selbst für mich, die ohne Pseudonym beruflich über Sex schreibt und dabei permanent predigt, dass diese Welt eine bessere wäre, wenn wir alle mal offener reden würden, fühlt es sich inhärent erst mal ein klein bisschen eklig an, sich so hinzustellen und zu sagen: »Und nun zu einem wirklich spannenden Thema: mir selbst!«
Es hätte da ein paar pragmatische Auswege gegeben: einen Roman über eine gewisse Susi Sexbloggerin zu schreiben, der da mal ein paar echt kuriose Dinge passiert sind. Meine Geschichte wie eine brave Journalistin mit Statistiken zu unterfüttern, um ihr dieses Flair von gesamtgesellschaftlicher Relevanz zu verleihen. Oder aus so einer »Freunde, ich hab’s voll verstanden«-Überwundenheitslogik heraus zu erzählen, damit sich das alles ein bisschen mehr nach Bedienungsanleitung anfühlt. Ganz ehrlich? Was für ein Scheiß.
Als wäre das Leben Malen nach Zahlen und nicht eigentlich doch eher so Topfschlagen.
Inzwischen hätte ich sogar das psychotherapeutische Fachvokabular, mit dem ich ein paar meiner Zustände und Verletzungen wesentlich konkreter in die Außenwelt übersetzen könnte.
Mehr ego-ethnologische Theoriekonstrukte, die mich und die geneigten Leser*innen begreifen lassen könnten, an welchen Stellen meine Gefühle und Gedankengänge zwangsläufig ein Kind ihrer Zeit waren.
Aber darum geht’s nicht. Ich habe noch nie geschrieben, weil ich alles verstanden habe, sondern immer, weil ich etwas herausfinden wollte.
In den zehn Jahren, in denen ich über Sex schreibe, habe ich gelernt, dass man anderen Menschen zwar eine Stimme geben kann, aber nie für sie sprechen darf. Konstruktivismus und so: Jeder hat seine eigene Wirklichkeit.
Deswegen bleibe ich hier mit voller Absicht so subjektiv, wie es nur irgendwie geht.
Auch wenn sich das zwischendurch von innen manchmal anfühlt wie eine Folge Homeland, in der man gleichzeitig angespannter Zuschauer, sadistischer Regisseur und uglycrying Carrie ist. »Geh da nicht rein, verdammt, da sind TERRORISTEN!«, möchte man laut schreien, während eine trocken-sonore Stimme aus dem Off kommentiert: »Komm schon, Mädchen. Du weißt, dass es sein muss.«
Das Leben kann wirklich immer nur vorwärts gelebt und rückwärts verstanden werden. Und um meins verstehen zu können, musste ich alles noch mal fühlen: the good, the bad and the ugly.
Konsequent so schreiben, wie ich zum jeweiligen Zeitpunkt gedacht oder gefühlt habe; mir noch mal selbst dabei zusehen, wie ich immer wieder gegen dieselben Wände renne. Mich und meine eigenen Widersprüchlichkeiten komplett zerlegen und zu einer neuen, kohärenten Storyline zusammenbasteln.
Meine Monster unterm Bett hervorlocken, ihnen die Staubflusen, vollgeschnäuzten Tempos und aufgerissenen Kondomverpackungen aus dem Zottelfell bürsten, bis sie wieder so halbwegs tageslichttauglich waren, und sie dann mit einem Schleifchen im Haar in die Kirschholz-Einbauschrankwand stellen, wo jeder sie sehen kann.
Ich hatte nie den Anspruch an mich, ein Vorbild für andere zu sein. Influencer*in ist kein zertifizierter Ausbildungsberuf. Man wird dazu gemacht.
Und dann muss man sich halt irgendwann überlegen, ob man mit der eigenen Reichweite nicht vielleicht auch noch was Sinnvolleres anstellen kann, als Teenagermädchen Detox-Tee zu verkaufen.
Freiheit ist das Recht, nicht zu lügen, hat Camus mal gesagt.
Für mich ist Schreiben die beste Art, diese Freiheit auszuleben. Und deswegen liebe ich es auch, über Sex zu schreiben. Das ist nämlich ein Thema, das meiner Meinung nach noch extrem viel Wahrheit vertragen kann.
»Endlich mal jemand, mit dem man normal drüber reden kann«, höre ich oft, als wäre Sex nicht die allernormalste Sache der Welt. »Krass, und ich dachte, das geht nur mir so«, ist noch so ein Satz, der häufiger fällt. Genau das passiert nämlich, wenn man von seiner Freiheit, nicht zu lügen, Gebrauch macht: Ehrlichkeit multipliziert sich.
Me too, me too, me too.
Ich bin eine Art Sozialarbeiterin mit größerem Impact, nebenberuflich emotionales Nacktmodell, Projektionsfläche für anderer Menschen Befindlichkeiten. Ein Kratzbaum für Frustrationen und unerfüllte Sehnsüchte.
Ich wurde schon höchstpersönlich für die gesamtgesellschaftliche Zunahme an erektilen Dysfunktionsstörungen und das Hotelsterben im Bayerischen Wald verantwortlich gemacht. All das passiert fast zwangsläufig, sobald man sich erdreistet, im Internet öffentlich Sachen zu sagen.
Das ist oft nervig, aber irgendwie auch sehr menschlich.
Wir machen Selfies von unseren guten Momenten und arbeiten uns in den schlechten an anderen ab, vergleichen uns mit ihren Highlight Reels und finden das Gras auf der anderen Seite grüner, die Poren kleiner, die Falten und Unsicherheiten weggephotoshoppt.
Wir konsumieren, was Influencer*innen uns an wohlkuratierten Realitäts- und Identitätsfragmenten zum Fraß vorwerfen, auch wenn es meistens nur irgendein Produkt ist, das die Kluft zwischen uns und dem propagierten Idealzustand verkleinern soll. Wir sehen diese Fragmente, vergleichen uns und schneiden dabei natürlich fast zwangsläufig schlechter ab.
Und wir halten uns selbst grundsätzlich für die komplexesten, coolsten, schlimmsten oder seltsamsten Menschen der Welt.
Je mehr ich über solche Dinge schreibe und mit anderen darüber spreche, umso mehr merke ich: Jeder denkt das. Zumindest, bis er sich in den Hirnwindungen von jemand anderem wiederfinden kann.
Ich schreibe, weil ich dieses Wiederfinden mag. Und das Wiedergefundenwerden.
Ich schreibe, um die Geschichten zu erzählen, die noch nirgendwo anders stehen. Ich schreibe für diesen Ort in mir, an dem es dann ruhig wird, zumindest zwischendurch mal, für einen kurzen Moment. Ich schreibe, weil ich nicht weiß, wie Nicht-Schreiben geht.
Wenn wir, wie Max Frisch sagt, auf Reisen einem Film gleichen, der entwickelt und dann von der Erinnerung belichtet wird, ist dieses Buch das ehrliche Selfie von den Momenten zwischen den Highlight Reels. Es handelt von meinen Zwanzigern, der Zeit, in der ich kein Zuhause hatte und keins wollte. Es ist die Geschichte meines Körpers in vielen Ländern, mit vielen Partnern und unter vielen Deutungshoheiten, die Geschichte meiner Verletzungen und meiner Lieblingsorte.
In manchen Punkten ist diese Geschichte ungewöhnlich – und dann auch wieder nicht. Dafür gibt es leider genügend Statistiken.
Sie aufzuschreiben war ein stellenweise schmerzhafter, skurriler, gleichzeitig aber auch ziemlich subversiver Prozess. Man erkennt wesentlich besser, welchen Narrativen man sich unterworfen hat, wenn man sie einfach mal neu schreibt.
In ein paar Jahren werde ich sowieso wieder alles noch viel besser wissen. Und das ist okay.
Denn, machen wir uns nichts vor, es kann sowieso keiner wissen, wer 2056 die Kulturzeit moderieren wird. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich mir in meinem Schaukelstuhl am Meer mit dem Kaufland-Prospekt die Klimaerwärmung – an der ich jetzt wirklich nicht unbeteiligt war – aus dem runzligen Gesicht fächeln und mir denken werde: Klug war’s jetzt nicht immer. Aber dafür schon auch ganz schön geil.
And now please sit back, relax, fasten your seatbelt and enjoy your flight with us today. Es wird Turbulenzen geben.
Die eigene Katastrophe auszustellen, hat etwas Aufdringliches; es aber nicht auszusprechen, ist noch verquerer, wenn man ohnehin schon einmal bei den Konsequenzen angelangt ist.
Thomas Melle
Ich finde, Wut ist ein unterschätztes Gefühl.
Wenn die Depression, wie Jung sagt, einer Dame in Schwarz gleicht, die man als Gast zu Tisch bitten soll, um sich anzuhören, was sie zu sagen hat, ist die Wut ihre angetrunkene Teenagerschwester. Sie knallt das Dosenbier so energisch auf den Tisch, dass es überschwappt und schreit: »Was soll eigentlich diese ganze Scheiße hier, verdammt?«
Der Wut ist Etikette egal. Sie verschafft sich Gehör, egal, ob man sie höflich dazu einlädt oder eben nicht. Wut fragt nie, ob sie sein darf. Wut ist.
Ich mag die Wut, weil sie so unbestechlich und archaisch ist. »Authentisch«, wie meine Werbekunden sagen würden.
Die Wut und ich haben eins gemeinsam: Wir sehen die Welt zwischendurch ganz gerne auch mal brennen. Auf konstruktive, gewaltfrei kommunizierte Ich-Botschaften verzichten wir zugunsten des ein oder anderen gepflegten kleinen Ausrasters.
Und das ist okay.
Über Leute, die immer beherrscht sind und alles im Leben richtig machen, werden keine Netflix-Serien geschrieben. Früher war ich oft müde. Dann habe ich angefangen, mich ketovegan zu ernähren, ist eben einfach ein bisschen dünn für ’nen Plot.
Ich mag die Wut, denn die Wut macht mich wach. Wut setzt Energie frei. Sie bringt mich dazu, Dinge in Bewegung zu bringen.
Und mich. Immer wieder mich.
»Mama, kann sein, dass ich nach Ho-Chi-Minh-Stadt ziehe«, erkläre ich Mama in Schlafanzughose und der Rohseidenbluse, die ich mir eben für das Skype-Interview in ihrem Arbeitszimmer übergeworfen habe. »Das ist Saigon, oder?«, fragt sie.
Kann sein, keine Ahnung. Egal auch, irgendwie.
Sie können in drei Wochen anfangen, steht in der E-Mail, die ich drei Tage später im Autobahnraststättenklo auf dem Weg zur Diplomprüfung bekomme.
»Ich geh nach Saigon«, rotze ich also auch meinem Diplomprüfer entgegen, der mich dafür prompt mit Auszeichnung entlässt, obwohl mir während der mündlichen Klausur siedend heiß einfällt, dass ich die Lolita in echt nie zu Ende gelesen habe.
Das Glück gehört denen, die keine Ahnung haben.
Krieg und Nudelsuppe. Das ist alles, was ich über Vietnam weiß. Und das reicht mir auch völlig, weil: Nudelsuppe mag ich, und Krieg ist in mir.
Er hat das doch nicht so gemeint. Er ist eben einfach sehr ungeschickt. Über was regst du dich überhaupt immer so auf?
Nach Vietnam zu ziehen ist eine der leichtesten Entscheidungen meines Lebens. Ich bin bereit für diese sogenannte große weite Welt, weil sie mir so viel sicherer erscheint als das, was ich gerade hinter mir lasse. Wer alles loslässt, hat beide Hände frei.
Es ist doch schließlich dein Freund. Er liebt dich und schreibt dir lange Briefe mit selbst gemalten Bildern drin, und ihr lacht zusammen, wie du noch nie mit jemandem gelacht hast.
Wir bitten Sie nun, Ihre Sicherheitsgurte anzulegen und geschlossen zu halten, bis die Anschnallzeichen über Ihren Köpfen erloschen sind. Im unwahrscheinlichen Fall eines Druckverlusts fallen automatisch Sauerstoffmasken aus der Kabinendecke. Ziehen Sie die Maske ganz zu sich heran und drücken Sie sie fest auf Mund und Nase. Bitte legen Sie erst ihre eigene Sauerstoffmaske an, bevor Sie mitreisenden Passagieren helfen.
Druckverlust, ja. Atmen. Ja, Atmen ist immer eine hervorragende Idee.
Als du endlich gegangen bist, warst du erst mal grob zwei Wochen hauptberuflich mit Atmen beschäftigt. Das wusstest du gar nicht, dass es so was wie Augenringe aus Hornhaut gibt, wenn man so viel weint. Wieder was gelernt.
Atmen, Kaugummi, The XX im iPod. Drei Plastikbecher lauwarmer australischer Sauvignon Blanc. Was genau mache ich hier eigentlich?
Als wir uns sechzehn Stunden später im Landeanflug befinden, weiß ich es: Saigon glitzert. Ein Meer aus Wellblechdächern und Wolkenkratzern, in das ich mich schlagartig und rettungslos verliebe.
Es ist eine Liebe, die ich seitdem gründlich auseinanderklamüsert habe, wie ich das eben immer so tue mit der Liebe: Sie möglichst schonungslos sezieren, um sie kleinreden zu können, zu ironisieren und endlich dingfest zu machen.
Für Saigon gibt es genau zwei Gefühle: Liebe und Hass. Ich bin noch nie jemandem begegnet, dem dieser Ort egal ist. Und als ich jetzt zum ersten von sehr vielen Malen meinen Kopf schüttle über die hochvirtuose Choreographie namens Straßenverkehr, die sich da draußen vor der Windschutzscheibe des Taxis abspielt, wundere ich mich, dass niemand stirbt. Nicht das tief schlafende Baby mit dem Gesicht im Kissen auf dem Roller-Tacho, nicht die Sekretärin im Bleistiftrock, die mit leger übereinandergeschlagenen Beinen hinten auf einem Xé Om, einem Umarmungstaxi, sitzt, sich nur mit einer Hand an ihrem Chauffeur festhält und mit der anderen auf ein altes Nokia eintippt.
Und anscheinend auch wir nicht, weil unser Taxifahrer wirklich verdammt laut hupen kann.
Ob ich denn einen guten Flug gehabt hätte? Ich glaube, ich höre die höfliche Small-Talk-Frage meiner neuen spanischen Managerin Marina erst beim dritten Mal, und es ist auch egal, wie mein Flug war, weil jetzt bin ich ja hier.
Und es ist so sehr jetzt, wie es nur jetzt sein kann, wenn endlich das Leben passiert, das immer schon in einem drin war und endlich rausdarf.
»Wow, wie rosa du bist!«, ruft Tutu, die eigentlich nur Tu heißt, weil Vornamen mit mehr als einer Silbe im Sozialismus als übertriebene Dekadenz gelten. Sie war mir über Craigslist zugeflogen. Hundertsiebzig Euro für ein WG-Zimmer in einem heruntergekommenen Kolonialbau direkt am großen Markt, inklusive Putzfrau zweimal die Woche. Es hatte so dermaßen gut geklungen, viel zu gut, um wahr zu sein, dass ich schulterzuckend das tat, was eigentlich nur eine sehr dumme Person tun würde: einer komplett Fremden nach zehn Minuten wackeligem Skype drei Monatsmieten Kaution auf ein vietnamesisches Konto zu überweisen. Ich habe Tutu erfolgreich mit dem Versprechen auf MAC-Lippenstift der Nuance Ruby Woo und Lindt-Schokolade mit 70% Kakaoanteil bestochen. Beides Dinge, die im Sozialismus eigentlich ebenso wenig vorkommen wie die zweite Silbe in ihrem Vornamen.
Tu ist Kaffeehändlerin und »une petite gourmandise«, wie sie von sich selbst sagt – immer nur mit dem Allerbesten zufrieden. Nach der Arbeit sitzt sie meist laut singend in unserem Wohnzimmer und näht selbst entworfene, wild geschnittene Turniertanzkleider. Und sie fällt mir ab sofort jeden Tag zur Begrüßung um den Hals und drückt mich, so fest sie kann, egal wie verschwitzt ich von der Arbeit heimkomme.
Ich lerne, dass unsere Dusche eigentlich mehr so ein lauwarm tröpfelndes Rinnsal aus einem Schlauch in der Wand ist; dass es Badezimmerflipflops gibt, Wohnungsflipflops und Draußenflipflops und dass die grundsätzlich mit allen geteilt werden, was erst mal eklig ist, allerdings immer noch weit weniger ekelhaft, als barfuß den Boden zu berühren.
Ich lerne, auch die übrigen Mitbewohner in Ekligkeitsrankings einzuteilen. Kakerlaken sind beispielsweise in Wirklichkeit auch nur unterschätzte Käfer, die außerdem fliegen können. Sie umzubringen lohnt sich weder mittelfristig karmisch, weil sie uns schlussendlich doch überleben werden, noch kurzfristig pragmatisch, weil vom Putzaufwand her – viel zu viel Matsch. Ameisen sind okay, solange sie nicht ins Bett kommen. Den Ratten aber bitte nur im Treppenhaus Hallo sagen, deswegen den Müll besser immer sehr schnell runterbringen.
Wohnzimmer, Küche und Bad haben keine Fensterscheiben, sondern nur Gitter, weil es hier ohnehin nie unter Raumtemperatur abkühlt. Unsere Putzfrau ist erzkatholisch und kommt am liebsten direkt sonntagmorgens nach der 5-Uhr-Messe, wenn es in meinem Kopf noch viel zu laut ist vom Zweidollarreisschnaps am Abend vorher. Ich bin sofort verliebt in dieses neue bescheuerte bunte Leben. Nach wenigen Tagen verwerfe ich die Konzepte »Schminke« und »Ausgehkleidung«. Die Hitze schafft Komplexitätsreduktion: Yogaklamotten, Brille und Flipflops statt gebügelten Kleidchen. Mein Parfum ist ein klebriger Film aus Schweiß, Sonnenmilch, Autan Tropical und dem Smog, der mir jeden Morgen wie ein dumpfer Schlag ins Gesicht brettert.
»Ist das eigentlich normal bei dir, dass du beim Sex nicht jedes Mal kommst?«, fragt er, und du merkst, dass schallendes Gelächter und »Ja nö, schon klar« wirklich nicht die richtige Antwort ist auf »Bei meiner Ex war das ja nie ein Problem«. Dafür sorgt er. Also »kommst« du jetzt eben auch jedes Mal beim Sex. Ist doch wirklich nicht so schwierig.
Tutu findet es gut, jetzt eine Sexkolumnistin im Haus zu haben. Sie ist sechsundzwanzig, so wie ich, aber hatte noch nie Sex, weil ihr halt einfach nie einer gefällt. La petite gourmandise behandelt Männer genau wie die Baguettes am Banh-Mi-Stand: Erst mal mit spitzen Fingern reinpiksen, um zu sehen, ob sie überhaupt ihren Ansprüchen genügen können. Wenn sie nicht knusprig genug sind: next!
Schnell lerne ich, dass das auch der mit Abstand denkbar klügste Modus Operandi für den Saigoner Datingpool ist.
In meiner Phantasie waren es scruffy französische Kriegsfotografen mit Dreitagebart, denen ich in einem frisch gebügelten Hemdblusenkleidchen in der Rooftop Bar des Caravelle Hotels in die Arme laufe und die dann so Sachen sagen wie: Was tut eine Frau wie du an einem Ort wie diesem?
In der Realität reicht mein Sechshundertdollareinstiegsgehalt gerade mal für den schwarzgebrannten Rum mit Kumquats, der schräg hinter der ehemaligen GI-Disco Apocalypse Now vor einem dunklen Hauseingang mit Kinderplastikstühlchen verkauft wird. Und die Kriegsfotografen sind in Wirklichkeit Englischlehrer, Papierhändler oder machen irgendwie in Bitcoin, was 2013 noch komplett nach Aluhut klingt. Sie sagen ironiefreie Sachen wie »I’m a citizen of the world, you know?«. Und sie sind definitiv nicht hier, um diesen komplett überzogenen Ansprüchen westlicher Frauen zu genügen. »Hier sind wir alle Latin Lover«, höre ich meinen einen Arbeitskollegen zu einem anderen sagen, und dass diese vietnamesischen Frauen alles mitmachen würden, »einfach alles, verstehst du?«.
Meine Freundin My macht derweil mit ihrem Freund Schluss. Sie sind jetzt zwei Jahre miteinander gegangen und haben in dieser Zeit nur Händchen gehalten. Dann hat sie ihn dabei erwischt, wie er mit einer anderen Händchen gehalten hat. »He’s such a player!« My ist monatelang am Boden zerstört.
Tutu hat schon vieles auf YouPorn gesehen, aber dann doch noch einige Fragen. Stöhnen Frauen beim Sex echt immer so rum, und wieso? Was soll denn das eigentlich mit diesem Deepthroat? Kriegst du das anatomisch so hin mit der Doppelpenetration?
Die verschwitzten Amerikaner im Club reden sehr laut und langsam mit ihr, als wäre sie ein zurückgebliebenes Kind – eines in einem glitzernden, bauchfreien Turniertanzkleid. Tutu beherrscht das Asienmimikry perfekt. Sie lächelt und nickt und blinzelt wie eine Puppe und zwitschert mir zwischendurch in erlesenstem Französisch gehässige Bemerkungen zu. Wir lachen sehr viel. Die verschwitzten Amerikaner lachen mit.
Der Vietnamkrieg heißt hier übrigens »amerikanischer Krieg«. Alles eine Frage der Perspektive. Auch vier Generationen später sieht man immer noch Menschen mit schweren Agent-Orange-Missbildungen auf der Straße, die Kaugummis, Taschentücher und Lotterielose verkaufen, um irgendwie durchzukommen.
Als ich – all German Aufarbeitung – mit meinen vietnamesischen Freunden darüber reden möchte, ernte ich durch die Bank nur Schulterzucken. »Ist vorbei« ist alles, was sie dazu zu sagen haben. Wozu die Geister der Vergangenheit heraufbeschwören?
Am 4. Juli kippen sie vollkommen selbstverständlich Jell-O Shots mit der amerikanischen Expat Community. Meine ostdeutsche Kollegin Anni und ich überlegen beim Barbecue, wie es sich wohl anfühlen würde, in Tel Aviv Reichskristallnacht zu feiern.
Wenn du einen Menschen kennenlernen willst, schau dir seine Wunden an. Wenn du ein Land kennenlernen willst, schau dir an, was es aus seiner Vergangenheit macht. Erst später, nachdem ich ganz Indochina bereist habe, kann ich Vietnam innerhalb dieser sehr unterschiedlichen Entwicklungsstufen ein bisschen besser einordnen. Doch das Gefühl dieses Landes erkenne ich sofort in mir selbst wieder: trotzige Resilienz.
Er hat das nie so gemeint. Er ist eben einfach sehr ungeschickt. Kein Wunder bei seinen langen Gliedmaßen, die du so gerne entknotest. Du magst es, wenn die Menschen, mit denen du schläfst, größer sind als du. Findest Körper luxuriös, die da noch weitergehen, wo deiner schon aufhört. Du fühlst dich gern klein neben ihm. Zerbrechlich. Dann brauchst du dich ja auch nicht zu wundern. Da landet halt schon mal ein Ellenbogen in deinem Gesicht, wenn er sich einen Pulli überzieht. War doch keine Absicht. Auf einmal verstehst du, wie sich das anfühlt im Comic, wenn die Figur plötzlich Sternchen sieht.
Der einzige Mann, der mich anfasst, ist mein sehr katzenhafter Masseur mit dem Fashion-TV-T-Shirt, der mir jedes Mal genau an derselben Stelle, nämlich beim Abnehmen der Gurkenmaske, sagt, dass ich jetzt »bee-aauuutiful! Same-same Lady Gaga« aussehe. Zweimal die Woche, neunzig Minuten, sieben Dollar. Ich war noch nie in meinem Leben so tiefenentspannt. Saigon zwingt mich in Tempo und Lautstärke zu absoluter Präsenz. Das Haus zu verlassen heißt, einen Hindernisparcours zu betreten. In was werden die Flipflopfüße heute wohl treten, einen Holzkohlegrill, einen Hundewelpen? Oder doch wieder auf eine lose Bodenplatte, die einem das nach verfaulten Eiern müffelnde Brackwasser die komplette Wade hochspritzen lässt? Ich lerne, was ein Saigon Kiss ist: ein kreisrundes Brandmal an der Wade von einem noch heißen Auspuffrohr. Hier wird ziemlich viel geküsst.
Aber egal in welchem Zustand und zu welcher Tageszeit ich durch diesen abgefuckten 16-Millionen-Moloch stolpere: Mutter Saigon fängt mich auf und umarmt mich. Wie schlafwandlerisch sicher und geborgen ich mich hier fühle, merke ich erst ein Jahr später so richtig, als ich nachts in der Münchner U-Bahn zum wiederholten Mal den Wagen wechsle, um einem aufdringlichen Besoffenen zu entkommen.
Es war keine Absicht. Er entschuldigt sich jedes Mal überschwänglich, dann kann es doch keine Absicht gewesen sein? Dass er dich im Streit den Bordstein hinunterschubst, als du High Heels anhast: ein dummes Versehen. Du ziehst ab sofort eben keine High Heels mehr an. Ganz einfach!
»Das Gute an dir ist ja auch, du hast echt ein dünnes Gesicht. Toll für Selfies!«, findet Tutu. Dass meine Haut so weich und rosa ist, liegt ihrer Meinung nach an meinem Körperfettanteil. Sie benimmt sich wie einer der Expat-Creeps und betatscht mich bei jeder Gelegenheit: »Aaaah. So soft.« Tutu will auch endlich zunehmen, aber sie tanzt so viel, dass nur ihre Waden dick werden. Sie lacht, als sie mir davon erzählt, wie ihre Mitschüler sie früher immer wegen ihrer Stupsnase verarscht haben. »Die ist so flach, durch mein Profil kann man Papierkugeln schmeißen«, sagt sie und grinst dabei breit.
Ein paar Straßen weiter kann man sich für ein paar Tausend Dollar in der koreanischen Klinik einen Nasenhöcker implantieren lassen, um westlicher auszusehen.
Die Marktverkäuferin, mit der ich inbrünstig um ein Kleid von »Channel« feilsche, argumentiert mit: »But it’s black! Good to hide the fat!« Ich täusche Entrüstung vor, was mir zwei Dollar Rabatt bringt.
Das ist Teil des vietnamesischen Charmes: Leute erst mal auslachen, vor ihnen auf den Boden rotzen und mit dem Finger auf sie zeigen. Haha, wie komisch du bist. Warum bist du so? Schau mal, ich bin ganz anders als du, voll lustig eigentlich, oder? Zeig doch mal, erzähl doch mal! Wenn man asiatische Augen hat, sieht man dann eigentlich auch nur halb so viel wie Leute mit anderen Augen?
Da, wo ich herkomme, nennt man so etwas Fatshaming, Rassismus oder Lookismus. Hier läuft das unter »unverkrampfter Umgang miteinander«.
»Kommt alle schnell her! Sie sieht aus wie ein riesiges rosa Baby!«, schreit Tutus Mama das halbe Mekong-Dorf zusammen, als wir am Wochenende zu ihrer Familie auf eine Hochzeit fahren. Ich merke, wie viel diebische Freude Tutu das bereitet, wie gut ich in ihr Rebellenleben passe, in dem sie als Single in der großen Stadt wohnt, mit mir witziger Abnormität unter einem Dach.
Ich fühle mich konsequent unproportioniert, merkwürdig und fehl am Platz. Und gleichzeitig zum ersten Mal seit sehr langer Zeit wieder so richtig gesehen und angekommen.
Scherz ist die drittbeste Tarnung.
Die zweitbeste: Sentimentalität.
Aber die beste und sicherste Tarnung ist immer noch die blanke und nackte Wahrheit. Komischerweise. Die glaubt niemand.
Max Frisch
Der Vermieter der Ferienwohnung wirft dir nur einen verständnislosen Blick zu, als du ihn fragst, wo denn die Terrasse sei, die in der Internet-Anzeige beschrieben war. Terrasse? Nö, das musst du falsch verstanden haben, bestimmt die Sprachbarriere, so ein Blick, und du überlegst tatsächlich einen Moment lang, ob es dein eigener Fehler war.
Genau, wie du noch Jahre später überlegen wirst, ob du die Gewalt und den Missbrauch, die du in dieser Ferienwohnung erfahren hast, auch eigentlich nur falsch verstanden hast.
Er ist doch dein Freund, er wird schon wissen, was richtig ist für dich. Das sagt er dir ja schließlich auch die ganze Zeit.
Du hast ihn um diesen Urlaub angebettelt, weil du ihn wiedersehen wolltest. Wirklich wiedersehen, nicht nur zwischen Bett, Tür, Angel und Büros. Obwohl ihr das gleiche Arbeitspensum habt, hast du das Gefühl, das Studium, den Job, die Deadlines besser im Griff zu haben als er.
Er ist mehr so der Typ, der sich heroisch damit brüstet, »wieder die ganze Nacht lang durchgearbeitet« zu haben. Du wusstest damals schon, dass das eher ein Zeichen für schlechtes Zeitmanagement ist.
Gekippt ist die ganze Situation erst nach ein paar sehr euphorischen Monaten, als du als freie Journalistin deinen ersten »richtigen« Auftrag bekommen hast.
Zum ersten Mal in deinem Leben verstehst du, wie Menschen vom Schreiben leben können. Drei, vier solcher Features pro Monat, und du musst nie wieder Spaghetti mit Fertigpesto essen.
In ihm löst das genau die Reaktion aus, die du bisher bei allen deinen Männern erlebt hast: Konkurrenzdenken, Ehrgeiz, Kräftemessen.
Männer, die mit dir zusammen sind, verwandeln sich von tiefenentspannten Kiffern mit Bauchansatz in Rennradprofis, von Bürohengsten in Meditationsgurus und von schüchternen Nerds in YouTubestars.
Auch ihm korrigierst du geduldig die Bewerbungen, die trotzdem im Sande verlaufen.
Aber du willst alles, was deiner derzeitigen Vorstellung von »allem« entspricht: geile Karriere, geile Beziehung.
Und du bist bereit zu investieren. Schenkst ihm eine Postkarte, auf der Mehr Sonntage steht, und nötigst ihn schließlich, für Ende November einen Billigflieger in die Sonne zu buchen, in der Hoffnung, dort würdet auch ihr beide endlich mal wieder auftauen.
»Mensch, Theresa, wie schön, dass endlich auch du mal einen netten Mann kennengelernt hast«, sagen deine vergebenen Freundinnen.
Nett. Das ist wohl eines der ersten Attribute, das Leuten zu ihm einfällt. Immer schön mit gebügeltem Hemd, grüßt auf der Straße, ist freundlich zu Servicepersonal, kleinen Kindern und Tieren und sagt Sätze wie »Natürlich bin ich Feminist!«.
Deine Singlefreundinnen sagen: »Das mit euch macht mir Mut.«
Dir macht es auch Mut. Auch, weil er dir ja immer wieder unmissverständlich klarmacht, dass du echt großes Glück hast, ihn abbekommen zu haben. Dass er ja immerhin seine Ex für dich verlassen hat, worum du ihn zwar nicht gebeten hast, aber wofür du jetzt natürlich dankbar sein sollst. Und vor allem verständnisvoll dafür, dass er sich weiterhin hinter deinem Rücken mit ihr trifft.
Er wird nicht müde zu betonen, wie super es mit seiner Ex lief, bis du kamst.
Wie du jemals zwischen ihn und diese mysteriöse Über-Ex kommen konntest, ist dir ein einziges riesiges Rätsel.
»Die Vergangenheit ist abgeschlossen und hat mit der Gegenwart nichts zu tun« ist alles, was er dazu sagt. Und dass es keinen Grund für dich gebe, so hysterisch und eifersüchtig zu sein. Er habe sie ja immerhin für dich verlassen.
Er dachte eben, du wärst cool.
Aber das bist du nicht, das bist du echt nicht, er hat sich in dir getäuscht, das macht er dir klar. Ab und zu ertappst du dich dabei, wie du in den Spiegel schaust und dabei überrascht feststellst, dass du doch eigentlich gar nicht so scheiße bist, wie du dich in letzter Zeit komischerweise öfter fühlst.
Aber du warst davor so lange Single, er wird also schon besser wissen, wie das mit diesem »Beziehunghaben« so funktioniert.
»Was willst du denn noch?«, fragt er dich immer wieder. Du willst: nicht permanent hintergangen werden. Nicht kontrolliert werden. Dir nicht länger anhören, wie anstrengend du bist, weil du Sachen einforderst, die für dich eigentlich selbstverständlich sind, so wie Offenheit zum Beispiel.
Du siehst, wie er neben dir im Bett liegt, eine Message bekommt, den Laptop zuklappt und aufspringt, um sie auf dem Handy zu lesen. »Ich hatte keine Lust darauf, dass du schon wieder wegen nichts ausflippst«, ist seine Argumentation, woraufhin du erst recht ausflippst.
Die Terrasse ist in Wirklichkeit der Blick aus dem Fenster nach rechts auf den Balkon der Nachbarn, die behäbig in ihren Sonnenstühlen hängen und jeden Tag pünktlich um achtzehn Uhr anfangen, Brettspiele zu spielen und Dosenbier zu trinken.
Das Doppelbett sind eigentlich zwei billige Einzelbetten aus Draht, die ihr an den Beinen zusammenbindet, um einander näher zu sein – näher als in den vergangenen Wochen zumindest. Stattdessen rutschen die Matratzen in der Mitte auseinander, als er dich hart fickt und deinen Oberkörper nach unten drückt.
Du schreist und siehst das Muster der Bodenfliesen durch den Drahtlattenrost vor deinen Augen verschwimmen und sagst laut: »Stopp, hör auf, das tut weh.«
Und er macht einfach weiter. Du erstarrst. – Schläfst einfach erschöpft ein, als er fertig ist, und zeigst ihm am nächsten Morgen kommentarlos den Blutfleck in deiner Unterhose.
»Oh, das wollte ich nicht!«, sagt er, jetzt sehr erschrocken, ist ganz besonders nett zu dir und besorgt besonders elaboriertes Frühstück, so wie vor ein paar Monaten, am Anfang eurer Beziehung.
Irgendwas kippt danach.
Ab jetzt neigst du wirklich dazu, wegen jeder Kleinigkeit komplett unverhältnismäßig auszuflippen.
Am nächsten Tag, als du immer noch Schmerzen und irgendwie »keine Lust« auf Sex hast, holt er sich unkommentiert neben dir einen runter und sagt »gleich fertig«, als du ihn bittest, dafür doch einfach ins Bad zu gehen. Seine Gewalt wird plötzlich immer offensichtlicher.
Du wünschst dir eine neutrale dritte Person im Raum, die entscheidet, wer von euch beiden eigentlich gerade überreagiert. Aber alle Menschen, denen du vertraust, sind mehrere Tausend Kilometer weit weg.
In einer Netflix-Serie würdest du spätestens an diesem Punkt alle deine Sachen in einen Seesack werfen und kommentarlos davonrennen, während er sich zur Abwechslung mal doch unter der Dusche einen runterholt.
Du würdest an der Strandpromenade einen Typen mit Dreadlocks und Motorrad anhalten, hinten draufspringen und mit ihm in den Sonnenuntergang fahren, in eine ungewisse, aber auf jeden Fall irgendwie bessere Zukunft.
Aber das hier ist dooferweise die Realität. Und in der Realität seid ihr auf einer Insel, von der man nur mit einem Billigflieger einmal die Woche wieder wegkommt, und teilt euch einen Rollkoffer, weil eben: Billigflieger.
Die Realität will das nicht wahrhaben, will, dass das alles einfach ein Missverständnis ist.
In der Realität wirst du erst Wochen, Monate, Jahre später immer mehr einordnen können, was hier eigentlich gerade passiert.
Häusliche Gewalt, was soll das denn überhaupt bedeuten?
Dafür braucht man doch erst mal ein gemeinsames Haus und ist finanziell abhängig voneinander und hat Kinder und schminkt sich die blauen Flecken weg und ein rotes Lächeln auf den Mund und sagt Sachen wie: »Aber welche Ehe ist schon einfach.« Und dann läuft man irgendwann doch endlich weg, in ein Frauenhaus, natürlich.
Das geht nicht in getrennten WGs. Und vor allem auf keinen Fall in einer so aufgeklärten Mittzwanziger-Hipster-Beziehung.
Wenn du all deine Ex-Typen in einem Line-up nebeneinander aufstellen würdest, gibt es mindestens zehn, die Migrationshintergrund haben und Muskeln und Bart und also klischeemäßig viel eher nach Gewalt aussehen. So als würden sie dich gern nachts im Park überfallen, weil du einen viel zu kurzen Rock anhast. Bei ihm denkt man das Gegenteil.
Es hat nie in dein sexuelles Selbstverständnis gepasst, dass Sex etwas ist, das Männer Frauen antun.
Du machst dieses merkwürdige Tauschgeschäft nicht mit. Wenn du Lust hast, hast du Lust. Dich muss man nicht allzu lang bitten.
Dafür hast du das Spiel immer schon viel zu sehr geliebt, dieses süße Ziehen im Unterbauch, wenn einer auf einmal etwas riskiert und es ehrlich wird.
Diesen einen kleinen, mutigen Schritt nach vorn, bei dem noch keiner genau weiß, was kommt, wenn zwei Münder aufeinandertreffen, sich Zungen erst zögerlich begegnen und dann in Zehntelsekunden diese Stammhirnentscheidung fällt: Ja, ja, ja, ich kralle meine Hände jetzt in deine Haare und zieh dich näher an mich ran, ja, ich will mehr davon, ja. Du hast schon so oft in deinem Leben Ja gesagt.
So jemanden wie dich kann man doch gar nicht vergewaltigen, oder?
Du liebst Sex. Du bist verdammt noch mal Sexkolumnistin von Beruf.
Wie kommst du überhaupt darauf, währenddessen deine Meinung zu ändern?
Er ist doch schließlich dein Freund. Er sagt, dass er dich liebt. Und jemanden, den man liebt, vergewaltigt man schließlich nicht, oder?
Es war einfach nur Sex, der aus dem Ruder gelaufen ist. Shit happens.
Ist ja jetzt auch nicht so, als würdest du deswegen jeden Tag weinen oder so was. Du bist kein Vergewaltigungsopfer. Du wurdest nicht vergewaltigt, und vor allem bist du kein Opfer. Und genauso wenig identifizierst du dich mit dem Terminus »Überlebende«.
Hast ja auch nicht fünf Chemotherapien hinter dir. Oder Krieg. Oder so.
»Du siehst erholt aus! Wie war’s im Urlaub?«, fragen dich deine Freundinnen, und du bist wieder gefühlt irgendwo ganz anders im Raum, als du dich sagen hörst: »Schön, entspannt, ich glaube, das haben wir beide gebraucht.«
Du schenkst ihm ein Mixtape zu Weihnachten. Ihr lacht wieder mehr miteinander. Vielleicht hast du dir das alles ja auch wirklich nur eingebildet.
Es geht einfach nicht in deinen Kopf hinein, wie jemand so sehr beides sein kann. Wie eins dieser Suchbilder: Blumenvase – zwei Gesichter – Blumenvase – zwei Gesichter. Traumtyp – Gewalttäter – Traumtyp – Gewalttäter.
Erst als du erfährst, dass er wieder mal hinter deinem Rücken Zeit mit seiner Ex-Freundin verbringt, fällt der Groschen endgültig. Also gehst du.
Wobei »gehen« wahrscheinlich das falsche Wort ist: Zwei Wochen wie paralysiert im Bett zu liegen und Vollzeit mit Atmen beschäftigt zu sein und weinend WARUMWARUMWARUMWARUM zu denken, trifft es eher.
Jeden Morgen um halb fünf weckt dich dein eigenes Herzrasen. Atmen, erinnerst du dich selbst. Atmen hilft.
Nach zwei Wochen Atmen fällt dir ein, was auch immer schon geholfen hat: Schreiben. Du schreibst manisch alles auf, was zwischen euch passiert ist. Was es bedeutet hat für dich und was du nicht verstehst.
Du schreibst über das, was er gemacht hat, fragst ihn, warum er nicht vorsichtiger war, warum er dir nicht klarer zeigen konnte, dass du die Einzige für ihn warst. Vielleicht hattest du dich ja einfach nur nicht deutlich genug ausgedrückt?
Die zwanzig Seiten überschreiten die Kapazität deines E-Mail-Programms. Er streitet alles ab. Ignoriert es. Erklärt dich für verrückt.
Und endlich kommt sie und haut auf den Tisch: Hallo, Wut, long time no see.