Über dieses Buch:
Tief verwurzelte Ängste, Traumata und die Abgründe der menschlichen Psyche – das ist Karen Wileys Tagesgeschäft. Als erfahrene Psychotherapeutin versteht sie es, stets die Distanz zu wahren, die für diese Arbeit so wichtig ist. Doch nun gerät sie plötzlich selbst in eine nervenzerreißende Situation: Sie bekommt verstörende Briefe, die in Zusammenhang mit der Entführung eines kleinen Mädchens stehen könnten. Doch Karen hat keinerlei Verbindung zu der kleinen Katy, die Polizei glaubt ihr daher nicht. Bis der geheimnisvolle Absender ihr etwas noch Grauenerregenderes schickt – eine abgehackte Hand … Ist er ihr vielleicht näher, als sie denkt?
Über den Autor:
Alex Chance wurde 1979 in den Vereinigten Staaten in Cleveland geboren. Er studierte in Nottinghamshire und am Goldsmiths College in London. Heute lebt er im Westen Londons.
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eBook-Neuausgabe März 2020
Dieses Buch erschien bereits 2009 unter dem Titel »Die letzten Tage« bei Weltbild
Copyright © der englischen Originalausgabe Alex Chance 2008
Translation copyright © 2009, by Michaela Link
Die englische Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel »The Final Days« bei William Heinemann.
Copyright © der deutschen Ausgabe 2009 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright © der Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/unterwegs
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)
ISBN 978-3-96148-868-1
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Alex Chance
Blutsammler
Thriller
Aus dem Englischen von Michaela Link
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Für Lesley
Ein Telefonbuch kann, insbesondere in den Augen eines Wahnsinnigen, etwas Faszinierendes sein. Hunderttausende von Namen und Stimmen, die man erreichen kann, einfach, indem man die entsprechenden Kombinationen von Plastikknöpfen drückt. Namen, aber keine Identitäten. Woher wissen wir, dass ein Mr M. Peterson sich irgendwie von einem anderen Mr M. Peterson unterscheidet? Es gibt natürlich die Adressen, und bedauerlicherweise werden wir gleich darauf zu sprechen kommen müssen, aber betrachten Sie fürs Erste nur die Namen, die beiden Petersons, in einem Buch, das so groß ist, dass es wumm macht, wenn man es auf einen Beistelltisch oder eine Küchentheke fallen lässt.
Natürlich ist es trotz eines identischen Eintrags im Telefonbuch sehr wahrscheinlich, dass die beiden Petersons sich tatsächlich unterscheiden – vielleicht durch feine, vielleicht durch gewaltige Gegensätze ihrer Persönlichkeiten, aber vermutlich wird es Letzteres sein. Ein Mr Peterson verbringt seine Sommerferien vielleicht als Park Ranger, durchstreift die Wildnis von Montana, pinkelt diskret hinter Bäumen, bewundert Sonnenuntergänge und runzelt missfällig die Stirn, wenn er irgendwo Müll entdeckt. Der andere Mr Peterson dagegen probiert möglicherweise gerade in diesem Augenblick in einem Motel mit seiner Sekretärin eine neue Position aus, die er in einem Film gesehen hat, und denkt gleichzeitig über seine Steuererklärung nach. Beide könnten Freimaurer sein, Katholiken oder Juden, könnten eingewachsene Zehennägel haben, in ihrer Kindheit geschlagen worden oder selbst vorbestraft sein. Sie könnten ihre Frauen und ihre Kinder lieben und in ihrer Freizeit mit Waffen auf unbelebte Dinge schießen. Vielleicht haben sie aber auch rein gar nichts gemein außer dem einen Namen, und vermutlich verhält es sich genau so (abgesehen davon, dass beide die Red Sox mögen, weil schon ihre Väter es getan haben).
Aber die Wahrheit ist, dass sie auf jeden Fall zweierlei gemein haben: Erstens einen Klang, der aus irgendwelchen Gründen schließlich bedeutet, wer sie sind, und von irgendjemand Klugem, der wahrscheinlich schon tot ist, in gedruckte Linien, Bögen und Punkte übersetzt und auf eine so gleichartige Weise angeordnet worden ist, dass man ihn mit einem Blinzeln auf der Seite dieses Buches, das schwer genug ist, um es als Waffe einzusetzen (wumm), auch schon wieder verloren hat. Das Zweite ist der Umstand, dass es überaus überraschend wäre, wenn sowohl Mr M. Peterson als auch Mr M. Peterson nicht irgendwelche hässlichen, sehr hässlichen Geheimnisse versteckt hätten.
Das Papier im Telefonbuch ist hauchdünn. Eine Seite vor den M. Petersons und den N. Petersons und den beiden O (Oswald und Orin Peterson, tatsächlich Brüder, beide Versicherungsvertreter) finden sich neue Spalten mit Namen, unmöglich, sie alle gleichzeitig zu lesen. Wenn man das Papier ins Licht hält, sieht man weitere Namen, rückwärts geschrieben wie Spiegelschrift und verschwommen wie Geister.
Überfliegen Sie das Telefonbuch, lesen Sie es nicht, da wir in einem Buch voller Fremder eigentlich nichts zu suchen haben.
Jon Peterson war die beste Reklame für Geheimnummern, die es je gab. Wenn er das Telefonbuch in beiden Händen hielt, fühlte Jon sich wie der Gott seiner kindlichen Fantasien, der Gott, der die grüne und blaue Erde hielt wie einen Fußball und willkürlich den Daumen nach unten reckte und damit Millionen von Menschen tötete und Tausende winziger Sirenen hörte, wenn die Feuerwehren gegen die Sinnlosigkeit kämpften, winzige Feuer zu löschen. Es würde wahrscheinlich auch Plünderungen geben unter jenen, die zurückblieben, ganz zu schweigen von den Millionen, die unter dem Daumen selbst zerquetscht würden, so bedeutungslos für Jons Gott, dass er den Finger in den Mund stecken konnte und nichts schmecken würde als eine Erinnerung an das, was er sich am Morgen zum Frühstück gemacht hatte, und dies trotz der ungezählten Leiber, die in den Furchen seines Daumenabdrucks wie zerquetschte Insekten festgeklebt sein mussten.
Jon besah sich zum tausendsten Mal seinen eigenen Namen im Telefonbuch, J. Peterson, und staunte darüber, wie ähnlich er allen anderen sah, die dort aufgelistet standen. Eine fantastische Tarnung, die keinerlei Mühe kostete. Er befand sich eingeschmiegt zwischen den anderen J. Petersons, die ihn, ohne nachzudenken, als einen der ihren, als Teil der Herde akzeptiert hatten.
Jon war fasziniert von Telefonbüchern (und einigen anderen, weniger harmlosen Dingen). Es gab wohl Hunderte davon in seinem Haus, auch aus so entlegenen Gebieten wie China und Japan, England und Frankreich. Aber er war kein Sammler, falls es Sammler solcher Dinge gibt. Er suchte nach einem Namen, und je mehr Bücher es gab, umso mehr Namen gab es, und je mehr Namen es gab, umso größer war die Auswahl.
Unglücklicherweise war diese Auswahl nicht vollkommen willkürlich, sosehr der Perfektionist in ihm sich das gewünscht hätte. Die ausländischen Telefonbücher dienten lediglich seiner eigenen Unterhaltung, dienten dazu, ihm ein größeres Machtgefühl zu verleihen. Aus praktischen Gründen würde der Name, den er zu guter Letzt auswählte, der eines Menschen sein, dessen Wohnsitz sich in Amerika befand. Es erfüllte ihn mit einem Gefühl von Macht, sich den Rest der winzigen Fußballwelt vorzustellen, wie er einen Seufzer der Erleichterung ausstieß, wenn er dies erfuhr, und es brachte ihn auf eine Weise zum Lächeln, die Tiere verschreckt hätte.
Außerdem würde der Name in einer Stadt zu finden sein, denn in einer Stadt konnte man sich unbemerkt bewegen.
Es würde eine Frau sein. Es musste eine Frau sein, das war abgemachte Sache, aber Jon rühmte sich dennoch, jemand zu sein, der jedem die gleiche Chance gab. Dies war außerdem der Grund, warum fremdländische Namen niemals unverzüglich verworfen wurden, obwohl Jon der Erste gewesen wäre, der zugab, dass er niemals viel Zeit unter den Ahmeds und den Wongs verbrachte.
Aber der praktische Teil war so langweilig, die Regeln dafür verstanden sich von selbst, der ganze Kram über das Auswählen einer Stadt, einer in Amerika. Jon hatte weit mehr Zeit auf die philosophischen Aufgaben verwendet. Vor allem hatte er darüber nachgedacht, dass manche Menschen glaubten, ein Name habe nichts zu bedeuten, er sei nur ein Klang oder eine Ansammlung von Klängen – was wirklich zähle, sei aber die Persönlichkeit und so weiter. Das tat Jon als die schlimmste Art von Unsinn ab. Er sah seinen Namen in seiner eigenen Handschrift beinahe jedes Mal, wenn er etwas von Bedeutung kaufte, und wie jeder weiß, ist die Tätigung eines Geschäfts mit das Wichtigste, was eine Person tun kann. Wie sollte das ohne Wirkung bleiben? J. Peterson erschien ihm als solide und gewöhnlich, als so amerikanisch wie Erdnussbutter und Golfplätze, trotz oder vielleicht gerade wegen seines europäischen Ursprungs. Er stellte sich einen Sklaven vor, der den Namen nach seiner Befreiung angenommen hatte. Er sah den Namen eingeprägt in Messingschilder an Bürotüren und auf der fettigen Namensplakette eines Verkäufers an irgendeinem Drive-in-Schalter. Vorzüglich liebte er die Genauigkeit dieses Namens, seine wunderbare Genauigkeit, denn es war sein Name.
Jon wollte, dass seine Bemühungen ihn zu einer Person mit großem Potenzial führten, denn dann würden die späteren Übungen mehr Freude machen. Er hatte einen früheren Teil des Abends damit zugebracht, sich die Clevers in diesem Buch anzusehen, also Menschen, die Clever hießen (von denen es drei gab), sich aber nach einer Stunde gründlichen Abwägens gegen sie entschieden – aus Sorge, dass sie vielleicht nicht schön waren. Das war auf indirekte Weise für ihn ein wichtiges Kriterium geworden. So war er dann auf die Prettys zurückgekommen – aber weniger aus Überzeugung, sondern weil es ihn erheitert hatte.
Die Suche war nicht frustrierend gewesen, obwohl der Prozess sich über Monate erstreckt hatte. Und schon bald würde ein Individuum vor seinen Augen zum Leben erwachen, würde durch sein Monogramm leuchten wie Christus am Kreuz. Jon konnte warten, wohl wissend, dass es irgendeine Art von Epiphanie sein würde. Das spornte ihn an, ließ ihn auf die Namen starren, bis sie sich in sein Gehirn brannten.
Drei Uhr morgens jetzt, und er musste früh aufstehen. Jon rieb sich mit dem Zeigefinger und dem Zivilisationen zerquetschenden Daumen über den Nasenrücken und bedachte die harte Arbeit, die es noch zu tun galt. Das große Buch auf seinem Schoß wurde leise geschlossen und auf einen Stapel ähnlicher Telefonbücher geschoben, die aufs Sorgfältigste nach den Prioritäten, wenn man so wollte, eines Wahnsinnigen geordnet waren.
Selbst wer in einer nordamerikanischen Stadt lebte und gewusst hätte, was Jon tat, konnte sich durch dessen selbst auferlegtes Zufälligkeitsprinzip relativ sicher fühlen, im Schutz der Herde von Millionen und Abermillionen dicht gedruckten Namen und Identitäten, die sich hinter den dazugehörigen Nummern und Adressen verbargen. Wenn man L.M. Victim – Opfer – hieß und sich für einen großen, blickeheischenden Eintrag im Telefonbuch entschieden hatte, hätte man wahrscheinlich zu den am wenigsten Gefährdeten gehört. Der Wahnsinnige hatte hart gearbeitet, um seine Wahl beliebig zu halten, und das bedeutet für die vielen Furcht und Rettung zugleich. Er steht kurz davor, eine Entscheidung zu treffen. Das Telefonbuch heute Nacht war das von Philadelphia, Pennsylvania.
Morgen wird es wahrscheinlich ein anderes sein.
San Francisco.
»Das beste Stück ist das gleich nach der Straßenkreuzung.«
»Wenn sie schneller fahren würde, wäre es wie Magic Mountain, hm, meine Süße?«
»Ja, Dad, Magic Mountain.« Sie freute sich, obwohl sie es eigentlich nicht wollte. Sie waren mit der Straßenbahn zu den üblichen Sehenswürdigkeiten gefahren und ließen sich jetzt von der California-Street-Linie einfach aus Jux und Dollerei herumkutschieren. So spät am Tag waren nicht mehr so viele Touristen unterwegs, und sie hatten jetzt reichlich Platz, um sich hinzusetzen, obwohl er sie nicht dazu überreden konnte, das auch zu tun.
»Sollen wir noch einmal in die andere Richtung fahren?« Jens Stimme klang wie die einer Mitverschwörerin.
»Das können wir machen.«
In Wahrheit begeisterte Dave Wiley diese Idee nicht sonderlich, so fantastisch ihr gemeinsamer halber Tag auch gewesen war. Zum einen wurde es Zeit, Jen zu ihrer Mutter zurückzubringen, und nach einem unerfreulichen Weihnachten (ihr zweites nach der Trennung) wusste er, dass es nicht gut wäre, gegen ein Karen-Ultimatum zu verstoßen. Es gab noch einen anderen Grund: Auf einer Bank am Wendeplatz des Plaza hatte bei ihrer ersten Fahrt ein merkwürdiger Mann gesessen. David argwöhnte, dass er noch immer dort sein würde, und der Finanzdistrikt leerte sich zusehends mit dem Heraufdämmern des Abends.
»Findest du diese Fahrerei nicht irgendwann langweilig?«
»Daaad …« Dave konnte ihre Augen nicht sehen, obwohl er wusste, dass sie sie gen Himmel verdrehte, eine Imitation von
Mommy. Die Entscheidung lag bei seiner Tochter, da gab es keine Frage.
Der Tippelbruder auf der Bank war für einen Moment vergessen. Er hatte gedacht, dass das Aquarium seine Trumpfkarte für ihren gemeinsamen Nachmittag sein würde. Tatsächlich waren es doch eigentlich Jungen, die Züge, Autos und überhaupt Dinge mochten, die sich bewegten.
Klein Jen lächelte über ihre Schulter hinweg und brachte sein Herz zum Schmelzen. Dann hielt sie das Gesicht wieder in die süße, kalte Brise der Bucht und posierte für ihn mit den langen Locken ihres roten Haares, die hinter ihrem Kopf wogten, wie die Galionsfigur am Bug eines mystischen Schiffes.
Dave begriff nicht, dass es ihr eigentlich um die Ausblicke ging: San Franciscos gewaltige, abschüssige Canyons der Zivilisation, flüchtige Blicke auf die Bay Bridge zwischen den Gebäuden, die Lichter auf den Verstrebungen, die gerade durch den leichten Nebel des frühen Septemberabends zu leuchten begannen. Sie hatte den größten Teil ihres Lebens in der Bay Area und vier Jahre in der Innenstadt verbracht und war bisher doch erst dreimal mit der Straßenbahn gefahren, jedes Mal außerstande, sich allzu weit aus der schützenden Umklammerung ihrer Mom zu befreien. Die Bahn kam ohnehin nur geringfügig schneller voran als ein rennender Mensch, trotz des verrückten Auf und Abs. Im letzten Sommer hatte sie voller Neid beobachtet, wie einige Touristen – Jungen im Teenageralter, zu jung, um ihnen Fotoapparate anzuvertrauen – auf dem Trittbrett mitgefahren waren. Einer von ihnen war blond gewesen, mit weicher Haut und von langen Wimpern umkränzten dunklen Augen, und die Brise hatte sein Haar geteilt. Er hatte sie ertappt, als sie sein Profil betrachtete, und ihr seine rosige Zunge herausgestreckt. Sie war ganz zappelig geworden vor Verlegenheit und wollte den klebrigen Bonbonriegel, den Mom für die Fahrt mitgenommen hatte, aus irgendeinem Grund nicht mehr.
Diesmal durfte sie vorn im Wagen stehen, wo nichts die Aussicht verstellte, und sie fand es herrlich, über Taylor jetzt, die steilsten Abfahrten unmittelbar vor ihnen, ein Klingeln der Glocke, einige theatralisch gebrüllte Befehle, die Arme nicht aus der Bahn zu strecken.
Eine Weile zuvor hatte sie gesehen, wie der Bremser und ihr Vater ein Lächeln gewechselt und sie selbst im nächsten Moment gleich mit einbezogen hatten, ertappt in ihrer väterlichen Nachsicht wie kleine böse Jungs mit Knallfröschen. Sie wusste instinktiv, dass der Bremser eine Tochter hatte oder sich eine wünschte, und ein Kitzel durchzuckte sie wie Elektrizität köstlich von Kopf bis Fuß. Lächelnd widmete sie sich wieder dem Poltern der Bahn über die Steine und konzentrierte sich darauf, wie es ihr bis in die Zähne wehtat.
Jen war die elfjährige Prinzessin ihrer Stadt.
Nur ein Mensch mit dunklem Herzen würde ihr das jetzt verweigern.
Morgen war der letzte Tag der Konferenz der Psychoanalytiker, und Karen Wiley hatte auf dem Heimweg im Wagen beschlossen, dass sie ihn versäumen würde. Drei Tage, an denen sie Therapeuten alter Schule dabei zugeschaut hatte, wie sie sich gegenseitig auf den Rücken klopften, waren genug gewesen. Es hatte sein Gutes, dass ihre erste Konferenz nach bestandenem Examen in unmittelbarer Nähe stattfand – über die Brücke bis zu ihr nach Hause war es nur ein Katzensprung. San Diego an Thanksgiving würde sie nicht machen. Die Organisatoren arrangierten stets Zimmer in über die Feiertage verlassenen Wohnheimen, und die Betten dort waren für gewöhnlich von einer Art, die sie nicht einmal einem klösterlichen Orden zugemutet hätte.
Dave würde Jen bald zurückbringen, und der Abend würde ihnen gehören.
Der Flur vor ihrer Wohnung im ersten Stock eines Dreifamilienhauses in Russian Hill war menschenleer, und Karen dankte ihrem Schicksal zum tausendsten Mal für ihre Vermieter – ältere Nachbarn, die für eine ledige Mutter alles getan hätten. Nach zwei Tassen Malzmilch verabschiedete sie sich dort gegen acht. Mit ihrem leichten Mantel, der relativ neuen schwarzen Aktentasche und dem Schlüsselbund in den Händen blieben ihr nur die Zehen, um die schwergängige Tür aufzudrücken, aber schließlich öffnete sie sich. In der Wohnung Lichter an und Jens wegen die Kette nicht vorlegen. Dann die Stiefel, der letzte Kampf des Tages, mit einer Hand haltsuchend an die Wand gestützt, und schließlich die ultimative Sinnenfreude ihres Zuhauses, der dicke Teppich unter bestrumpften Füßen.
Jetzt Wein und Musik.
Ein weiterer Schalter umgelegt, und die Küchenzeile hatte ihr Bühnenlicht. Delilah, die zweimal die Woche sauber machte und ein vertrauenswürdiger Babysitter war, hatte die Post aus dem Briefkasten unten heraufgebracht und auf die Küchentheke gelegt. Es waren drei Umschläge. Karen nahm sie mit zum Kühlschrank hinüber. Eine Rechnung, ein Schreiben von der Telefongesellschaft und ein Brief unbekannter Herkunft mit ihrem Namen und ihrer Adresse darauf, maschinengeschrieben. Der Poststempel aus Canaan in Utah fiel durch sein ungewöhnlich kunstvolles Design auf.
Völlig fremde Post bekam Karen relativ selten. Wenn es keine klar erkennbare Reklame war, keine Rechnung und kein Brief von einem entfernten Verwandten (aber sie kannte niemanden aus Utah), dann konnte es sich sehr gut um ein Schreiben von jemandem handeln, der an die Küste zog und vielleicht Interesse bekundete, ein neuer Klient zu werden. Karen brauchte Klienten.
Zwei Jahre nach der Scheidung, achtzehn Monate nach der Kündigung ihres Jobs als Produzentin der Morgennachrichten bei einem Lokalsender der Fox hatte ihr Therapiegeschäft sich nicht einmal annähernd so gut entwickelt, wie sie es erwartet hatte.
Ein Weinglas aus dem Schrank wurde mit eiskaltem Zinfandel gefüllt und dem Geruch wilder Erdbeeren. Da sie aufgehört hatte, Fingernägel zu kauen, als Dave gegangen war, gelang es ihr mühelos, den Umschlag aufzuschlitzen.
Schon bevor sie das Papier glatt gestrichen hatte, wusste sie, dass dies kein gewöhnlicher Brief war. Es gab weder einen Absender noch eine Unterschrift. Zuerst sah er wie ein leeres Blatt Papier aus, bis sie ihn in der Mitte fasste und auch das untere Drittel der Seite ausklappte. Dort standen zwei Reihen in spitzer kleiner Bleistiftschrift, die sich nur mit zusammengekniffenen Augen lesen ließen.
Hilf mir oh Gott hilf mir er wird mir wehtun, wenn du nicht machst, was er sagt Über Jesus fromm und mild blick auf dieses kleine Kind rette mich Jesus rette mich
Einfach so, Worte, deren Bedeutung ineinander verlief in eine Flut überwältigender Panik.
Karen Wiley, die sich schon immer zu helfen gewusst hatte, blieb ruhig. Sie nahm die Nachricht zur Kenntnis wie einen Notruf, der nur zufällig dank einer Funkstörung zu hören war, wie eine polizeiliche Meldung, die plötzlich im Autoradio den Wetterbericht unterbrach.
War das alles?
Nein, denn vollkommen gegen ihren Willen schien ihr jetzt Adrenalin durch die Adern zu pulsieren.
Sie dachte an das blaue Kontrastmittel, das einigen Röntgenpatienten injiziert wird und sich bis in die Finger und Zehen ausbreitet.
Der Wein wurde behutsam auf die marmorne Arbeitsfläche gestellt, das Glas schlüpfrig von Kondenswasser, das an ihren Fingern haftete und einen blassen Fleck auf dem Brief hinterließ, als sie ihn in der Hand drehte, ihn abermals überflog, dann nach dem Umschlag griff und sich davon überzeugte, dass es wirklich ihr Name und ihre Adresse waren, die in Maschinenschrift darauf standen. Sie legte den Umschlag beiseite und las die Nachricht noch einmal, gründlicher diesmal.
oh Gott hilf mir er wird mir wehtun
Ihr wurde bewusst, dass sie erstarrt war, als würde sie beobachtet, als müsse noch etwas anderes geschehen, als würde vielleicht der Schwarze Mann aus dem Eisschrank gesprungen kommen.
Stell dich nicht so an.
Die Uhr an der Küchenwand tickte genau ein Mal, laut.
Was bedeutete das? Wenn ein Kind in Gefahr war, ein Kind dies geschrieben hatte, dann hatte es gewiss ein Erwachsener abgeschrieben. Sie konnte es nicht mit Sicherheit wissen, aber es lag etwas Kindliches in den harten Linien der Handschrift, den Stiftabdrücken der Blockbuchstaben, die tief ins Papier gingen. Karen holte tief Luft. Während sie nachdachte, rieb sie sich mit zwei Fingern eine Stelle an ihrem Herzen.
Kurz, nachdem sie Dave verlassen und dazu gebracht hatte, aus der Wohnung auszuziehen, für die sie zahlte (warum gingen alle, einschließlich angeblich gebildeter Frauen, unverzüglich davon aus, dass er sie verlassen hatte?), hatte Karen Wiley eine Reihe obszöner Telefonanrufe erhalten. Obszön – so nannte man sie zwar, aber im Grunde waren sie es nicht. Angefangen hatten sie, weil sie sich eines Abends verwählt und der Mann am anderen Ende es anscheinend persönlich genommen hatte. Er rief eine Woche lang jede Nacht zurück und summte unmelodisch Showmelodien. Bis ein Sonntag kam, an dem sie zu viel Wein getrunken hatte. Da hatte sie ihm erklärt, die Polizei habe seine Nummer zurückverfolgt (sie hatte die Polizei gar nicht angerufen) und sei genau jetzt auf dem Weg zu seinem beschissenen Haus, und er solle besser seine verfickten Eier packen und laufen, Arschloch … Er hatte aufgelegt, als stünde sein Hörer in Flammen, und nie mehr angerufen.
Eine Weile lang hatte sie ihren Freundinnen diese Story vorgesetzt, wie eine frisch getrennte Frau einem dahergelaufenen Perversen gezeigt hatte, dass sie sich nichts gefallen ließ. Und als sie bei ihren pragmatischen Freundinnen aus dem Mediengewerbe damit durch war, kam Dana an die Reihe, eine Freundin aus Schottland. Dana erzählte ihr daraufhin mit ihrem gemessenen, uralten Akzent eine Geschichte: Als sie in einem besetzten Haus in Glasgow gelebt hatte, hatte sie wahrhaft grauenhafte Anrufe von einem Mann bekommen, der immer wieder gesagt hatte, er wolle ihr mit den Händen die Kehle zudrücken, während er sie vergewaltigte und ihr das Wasser in ihre kleinen Studentinnenhurenaugen trat, bis er nur noch Weiß darin sah. Die örtliche Polizei, die anscheinend wenig übrig hatte für Danas Punkfrisur und Auftreten, war nicht willens oder fähig gewesen, ihm Einhalt zu gebieten. Schließlich hörten die Anrufe von selbst auf, und Dana zog aus dem Haus aus.
Von diesem Punkt an wurde die ganze Sache mit dem summenden Anrufer erheblich weniger komisch, und Karen hatte ihr Bestes gegeben, die Erfahrung aus ihrem Bewusstsein zu evakuieren.
Karen besah sich noch einmal den Brief.
Liber Jesus fromm und mild … rette mich … rette mich
Ihre eigene schöne Tochter. In den Händen von … wem? Nein, nicht möglich. Jen war heute mit Dave zusammen. Eigentlich hätten sie jeden zweiten Samstag miteinander verbringen sollen, aber aufgrund seiner beruflichen Verpflichtungen fuhr er sie nur zur Schule, und sie sahen sich am Montagnachmittag. Sie konnte diesen Brief nicht geschrieben haben, konnte erst recht nicht entführt worden sein, war offensichtlich nicht entführt worden, hätte dies ohnehin nicht auf solche Weise präsentiert in dieser Handschrift, in der alles ineinanderlief, die so krakelig und fremdartig war. Verlangten Entführerbriefe außerdem nicht immer etwas? Dies war ein Streich, ein beschissener
Streich. Karen hatte ihrer Tochter an eben diesem Morgen nachgewinkt, als sie in Dads Wagen gestiegen war.
Aber hatte wirklich Dave in dem Wagen gesessen? War es ein Schwindler gewesen?
Natürlich nicht, wie lächerlich. Außerdem kam der Brief aus Utah.
Als sie begriff, welche Wendung ihre Gedanken genommen hatten, konnte Karen sich von der wachsenden Panik distanzieren. Also bitte – war ihr Exmann durch einen Schwindler ersetzt worden? Und hatte dieser Schwindler Daves Volvo zu ihrem Haus gefahren, um ihre Tochter zu entführen? Das war aus so vielen Gründen einfach dumm. Der Brief und der Umschlag und auch die Angst, die nach dem Lesen in ihr aufgekeimt war, wurden endlich abgetan. Sie nahm einen guten Schluck Wein – sowohl um sich zu beruhigen, als auch um dem leeren Raum zu zeigen, dass alles in Ordnung war.
Sie zuckte nicht einmal zusammen, als das Telefon klingelte.
Dave Wiley, noch keine dreißig Sekunden in seinem Zimmer, zog die Vorhänge zu und betrachtete mit einem schiefen Gesichtsausdruck die Minibar.
Nach seinem Nachmittag mit Jen fühlte er sich ziemlich gut. Das Touristenhotel auf der Geary, in dem er sich einquartiert hatte, war nicht annähernd so schlecht wie erwartet. Das Frühstück war angemessen, und man hatte ohne übermäßige Zuzahlung seinen Wagen für ihn geparkt. Dies war erst sein vierter oder fünfter Besuch bei seiner Tochter in der Stadt. Wegen seiner Arbeit war Karen so freundlich, Jen mit dem Wagen zu ihm zu bringen, außerdem hatte sie das Geld dazu (Fahrten in die Stadt konnten sich zusammenläppern), aber alles in allem musste Dave zugeben, dass er ganz gut aus der Scheidung herausgekommen war – die Hälfte der angesammelten weltlichen Habe einer leitenden Angestellten beim Fernsehen war in der Tat ein sehr hübsches Geschäft, wenn die eigene Arbeit darin bestand, Immigranten zu beaufsichtigen, die Mikrochips in
Handys steckten. Die Gerichte hätten sich niemals auf seine Seite geschlagen, sie hassten die Männer, aber Karen hatte dafür gesorgt, dass es nicht so weit gekommen war. Sie hatte sich so mies gefühlt, dass sie ihm alles gegeben hätte, nur damit er ging, einfach ging. Ich werde deine Taschen packen, und rege Jen gerade jetzt nicht auf, ich denke, sie wird in der Schule vielleicht schikaniert.
Zuerst hatte Dave in puncto Ritterlichkeit einiges vermissen lassen, war zu ungelegenen Zeiten aufgekreuzt und hatte verlangt, Jen sehen zu dürfen, aber in Wirklichkeit war es Karen gewesen, die er hatte sehen wollen. Er liebte sie noch immer, liebte sie sehr, und der zusätzliche Alkohol, den er sich verordnete, schien die Dinge nur noch schlimmer zu machen. Einmal, vor etwa achtzehn Monaten, war er gegen Mitternacht vor dem Haus aufgetaucht, hatte die ganze Nacht unter der Laterne im Wagen gesessen und sich dann auf seine Frau und seine Tochter gestürzt, als sie sich durch den Nebel auf den Weg zur Schule gemacht hatten. Jen hatte verängstigt ausgesehen, eine kleine, weiße Maske, aber für ihn war Karen schöner denn je gewesen, so frisch vom Schlaf und einer Dusche wie ein Elementarwesen, ihr Haar eine kastanienrote Woge, das würzige Parfüm, das sie trug, stark genug, um sich in seiner Kehle zu verfangen.
Karen war ziemlich wütend gewesen, und er hatte sich für eine Weile zurückgehalten. Aber zu guter Letzt hatte sie nachgegeben, hatte gesagt, Jen wolle ihn sehen, und er war ihrem Wunsch erfreut nachgekommen. Seither hatte er kaum mit seiner Exfrau gesprochen und musste sich damit bescheiden zu beobachten, wie seine Tochter allmählich zu einer Miniaturversion Karens heranwuchs.
Dave stellte sich vor, dass seine Zeit mit Jen ihn zu einem besseren Menschen machte, dass sie in ihm den Wunsch weckte, bei ihren Treffen etwas über sein eigenes Leben erzählen zu können, sein kleines Mädchen wissen zu lassen, dass auch Daddy es mit der Welt aufnehmen konnte. Er lernte, sich niemals nach Mom zu erkundigen, sondern ihre gemeinsame Zeit einfach als das zu genießen, was sie war. Er widerstand dem Drang, Jen wie früher dazu zu bringen, Treffen mit Karen einzufädeln. Und allmählich, ganz allmählich wurde es besser. Er hatte eine neue Freundin, eine Empfangsdame aus der Firma. Eine Frau, die mindestens zehn Jahre jünger war als Karen, mit braunen Augen, bronzefarbener Haut und diskreten, aber überaus üppigen Brustimplantaten, die die gesammelten Blicke der Jungs am Strand auf sich zogen. Er trank weniger oder hörte zumindest auf, allein zu trinken. Er rasierte sich den Bart und sah (wie er fand) zehn Jahre jünger aus. Jetzt lockte eine Beförderung, vielleicht acht Riesen mehr. Die Botschaft schien deutlich zu sein: Dave Wiley übernahm endlich Verantwortung, irgendwie. Karen war von ihnen beiden die Ehrgeizige gewesen, er hatte den ruhigen, unterstützenden Part gespielt, den Footballspieler von der Highschool, der über seine Verhältnisse geheiratet hatte. Aber jetzt zählte er auch aus eigenem Antrieb etwas, und ein Großteil davon schien damit zusammenzuhängen, dass er auf die Zeit mit seiner Tochter hinarbeitete.
Dave musste für den Anruf, den er versprochen hatte, auf den Flur gehen. In seinem Art-Deco-Zimmer ohne Aussicht war der Empfang grauenhaft. Karen ging beim fünften Klingeln an den Apparat. Er fragte sich, ob auf dem Display ihres Telefons die Rufnummer des Anrufers erschien und ob sie seine Nummer überhaupt noch erkannte. So oder so, sie klang feindselig.
»Ja?«
Feindselig und ängstlich.
Dave kannte diesen brüchigen Ton, sie stand offenbar mal wieder unter Druck.
»Karen, ich bins, Dave.«
»Dave.« Sie hatte seinen Namen schon seit einiger Zeit nicht mehr auf diese Weise gesagt. So schwer, als hätte sie vorher den Atem angehalten.
»Ja, du hast gesagt, ich solle anrufen, wenn Jen auf dem Weg nach oben ist.«
»Hm, Gott sei Dank.« Aufrichtig klingende Erleichterung.
Dave war ein wenig gekränkt. Sie hatten unbewusst eine Art künstlicher Beiläufigkeit in ihren Gesprächen akzeptiert, nichts so Unmenschliches wie die erzwungene Höflichkeit, die weniger vernünftige Paare nach der Trennung manchmal aufrechterhielten. Trotzdem führte es dazu, dass Dave und Karen wie zwei Schauspieler im frühen Stadium der Probe eines Stückes klangen. Dies war ganz anders, dieses »Gott sei Dank«. Was glaubte sie, das er mit ihrer Tochter gemacht hatte?
»Ich kann dich nicht sehen«, sagte Karen. Sie musste ans Wohnzimmerfenster getreten sein.
»Nein, ich bin schon wieder im Hotel. Genau genommen auf dem Flur, wegen des Empfangs.«
Eine Pause. Er spitzte ein wenig die Ohren, um sie atmen zu hören.
»Dann … was?« Jetzt klang sie beherrscht, sehr beherrscht. Ah, vielleicht hatte er sie in irgendeinem intimen Augenblick erwischt, und das war der Grund für ihre merkwürdige Stimmung. Daves Selbstvertrauen wuchs.
»Nein, ich habe sie in ein Taxi gesetzt«, erwiderte er. »Vom Finanzdistrikt aus. Wir haben Milkshakes getrunken, und gleich draußen vorm Fenster stand ein Taxi. Ein Wunder eigentlich, du weißt ja, wie diese Stadt ist.«
Schweigen.
»Und ich weiß, dass du es hasst, wenn wir zu spät kommen, ich weiß das. Die Sache ist die, Kar, wir hatten so einen wunderbaren Tag. Wir haben ein Taxi erwischt, es stand eins direkt vor uns. Wir hatten nicht mehr auf die Zeit geachtet, und es war der schnellste Weg, sie nach Hause zu bekommen. Hast du gewusst, dass sie bisher kaum je einmal mit der Straßenbahn gefahren ist?« Er war sich bewusst, dass er faselte. Dies war die längste zusammenhängende Ansprache, die er Karen seit einer ganzen Weile gehalten hatte. Jetzt war sie eigentlich an der Reihe, den Ball aufzunehmen.
Aber sie zwang ihn abermals zu warten, und seine letzte Frage erstarb in dem Schweigen.
»Du hast sie in ein Taxi gesetzt … ganz allein?« Allein ihre Stimme war das Urteil, und er spürte, wie sich auf seinen Armen eine leichte Gänsehaut bildete.
»Also, nein – Jen fährt doch ständig allein mit dem Taxi. Sie hat … sie tut es schon seit einiger Zeit. Ich selbst hätte gedacht, dass sie noch ein wenig jung ist, aber wenn du meinst …«
»Dave, das tut sie nicht. Sie fährt nicht allein.«
»Aber sie hat gesagt, du hättest gesagt, es sei in Ordnung. Dass du ihr schon früher erlaubt hättest …«
»Genau ein einziges Mal, mit Christy. Sie waren zu viert, und Christy ist jetzt, was, sechzehn?«
Dave hatte noch nie von Christy gehört. Er hatte ein schlechtes Gewissen, kam sich dumm vor, zurückgeworfen in eine aussichtslose Position.
»Das hat sie nicht erzählt.«
»Himmel, Dave, wann wirst du endlich ein wenig Verantwortung übernehmen? Ein Taxi vom Finanzdistrikt hierher? Wo wohnst du?«
»Am Union Square.«
»Und du bist schon wieder zurück? Meinst du nicht, sie müsste inzwischen hier sein?« Er hatte Karen schon lange nicht mehr so aufgeregt erlebt. Er würde nicht aufbegehren, aber es war wichtig, ihr die Information so schnell wie möglich zu liefern, um dieses Feuer zu löschen.
»Nein, hör zu, hör zu – wir sind mit dem Taxi zuerst hierher gefahren. Ins Hotel, wir beide. Dann habe ich das Taxi mit ihr auf der Rückbank weitergeschickt. Der Fahrer kannte deine Adresse. Ich habe dich sofort angerufen, als ich reingekommen bin, sie kann noch nicht bei dir sein, selbst wenn sie gottverdammte Flügel bekommen hätte und geflogen wäre. Beruhig dich.« Dave versuchte, Karen zu demonstrieren, dass sie im selben Team spielten, dass er ihre Sorge teilte.
»Dave, ich rufe die Polizei an.«
Langsam wurde ein Albtraum aus der Sache, einer seiner schlimmsten.
»Nein, zwanzig Minuten, warte wenigstens …«
»Dave …«
»… Sie kann noch nicht zu Hause sein, außer …«
»Dave, es ist unwahrscheinlich, dass diese Sache damit zusammenhängt, aber ich habe einen Brief bekommen.«
»Was hast du noch gesagt, wie du heißt, Kleine?«
»Jennifer.« Sie hatte gar nichts gesagt.
»Und jetzt willst du nach Hause zu Mama, hm? Sie hat dich vermisst?«
»Mhm.« Es herrschte nur wenig Verkehr. Der Fahrer bog rechts ab, richtete sich auf und kratzte sich geistesabwesend eine Tätowierung auf seinem massigen, braunen Arm, der nackt aus dem ärmellosen Shirt ragte.
Jen nutzte die Gelegenheit, um ihre Aufmerksamkeit von dem großen, rasierten Schädel des Fahrers wieder auf das schmutzige Taxifenster zurückzulenken, und beobachtete mit müden Augen, wie die dunkle Stadt vorbeiglitt. Sie war plötzlich erschöpft, und die Heimfahrt schien ungewöhnlich lange zu dauern. Meist war es harte Arbeit, ihrem Vater zu gefallen, so gut seine Absichten in letzter Zeit auch zu sein schienen. Nur gelegentlich hatte sie nicht das Gefühl, ihm etwas vorzuspielen, wenn sie miteinander plauderten. Sie entschärfte, was sie von ihren Schulfreundschaften preisgab, filterte den jüngsten Teil von Moms Lebensgeschichte und gab sich große Mühe, Dad zu zeigen, dass sie sich, ja, wirklich gut mit ihm amüsierte, gaanz lieben Dank. Jetzt eine höfliche Unterhaltung mit dem Taxifahrer in Gang zu halten, selbst mit einem, der so nett wirkte wie dieser, war im Augenblick nur noch mehr harte Arbeit.
Aber sie würde es tun, wenn es sein musste. Jen war die Tochter ihrer Mutter.
»Dein Daddy scheint ein netter Bursche zu sein.«
»Er ist okay.«
»Ich hab meinen Daddy nie gekannt.«
»Was ist passiert?«
»Wie gesagt, ich hab ihn nicht gekannt. War immer irgendwo auf Partys und hat Ärger gemacht. Mama sagte, die Polizei hätte ihn aus der Stadt geprügelt, aber ich glaube, er hat sich einfach davongemacht. Muss für ihn auch hart gewesen sein, meine Mutter – ah, ich bin ein Dummkopf, dass ich so viel schwätze. Was hat dein Daddy denn falsch gemacht?« »Was?«
»Er ist rausgeflogen, hm?« Es war komisch, auf so vertraute Weise mit dem Mann zu reden. Solange Daddy auf dem Weg zu seinem Hotel noch dabei gewesen war, hatte sich das Gespräch mit diesem Fremden um Football und die Wahl des kalifornischen Gouverneurs gedreht und ganz natürlich gewirkt. Irgendwie zwanghaft, ja, aber auf eine gute Weise. Ohne Dad war der Schwung dahin, das Ganze irgendwie unpassend: falsch.
»Oh, er hat gar nichts gemacht«, sagte Jen. »Ich weiß nicht.«
»Du hast eine starke Mama?«
»Oh ja. Aber sie ist cool.«
»Ich wette, das ist sie. Und du wirst mal genau wie sie.«
»Auf keinen Fall. Ich werde Tierärztin.«
Jen beobachtete, wie seine dunklen Augen sich im Rückspiegel vor Entzücken runzelten. Sie dachte, dass er ihn vielleicht irgendwann gekippt hatte, um sie besser sehen zu können. Außerdem fragte sie sich, ob er sie aufzog. Dad zog sie ständig auf.
Schweigen, dann: »Magst du Musik, Kleine?«
»Denk schon.«
»Magst du Jessica Simpson?«
»Nicht besonders.«
»Und Christina Soundso? Die Spanierin, weißt du.«
»Hm.«
»Also, da wären wir.« Sie hatte gar nicht bemerkt, dass der Wagen stehen geblieben war, und das Fenster war beschlagen. Sie rieb über das Glas und schaute hinaus, als suche sie nach einer Bestätigung seiner Worte. Sie hatte den Geldschein, den Dad ihr für den Taxifahrer gegeben hatte, umklammert gehalten.
»Wie viel, Mister?« Sie reckte den Hals, um einen Blick auf das Taxameter zu erhaschen, fand aber keins.
»Schon gut. Ich will dein Geld nicht.«
»Nein?« Irgendetwas in seinem Tonfall machte Jen argwöhnisch.
»Gib es für etwas aus, das dir gefällt, Kleine. Ich warte noch, bis du im Haus bist.«
»Das ist nicht nötig.«
»Man kann nie wissen, wer gerade so herumstreicht.«
»Dann vielen Dank.«
»War mir ein Vergnügen, Kleine, und …«
Sie kletterte von dem zerlumpten, ausgefaserten Sitz auf die Straße, das Ende seines Satzes wurde vom Zuschlägen der Autotür abgeschnitten. Es war jetzt kalt, die Straße menschenleer und still, das Taxi hinter ihr eine warme Oase. Jen nahm Verkehrsgeräusche in der Ferne wahr, eine Polizeisirene, das einsame Bellen eines Hundes.
Sie zog den Mantel fester um sich. Als sie aufblickte, sah sie einladendes, gelbliches Licht im ersten Stock. Jen lief über die Straße, plötzlich hatte sie Hunger.
Der Himmel hatte sich früher am Abend zugezogen, und es waren keine Sterne zu sehen. Als Jen aus dem Lichtschein einer Straßenlaterne trat, wurde ihr die rasch einbrechende Dunkelheit bewusst. Sie verspürte den berauschenden Drang zu rennen, die Erwachsenenereignisse des Tages abzustreifen und umherzutollen wie ein neugeborenes Geschöpf. Sie visierte den Lichtschein auf der anderen Straßenseite an und stürzte los, genoss das Gefühl ihrer Gliedmaßen, und ein unartiger Teil von ihr hoffte, dass der Fahrer sie noch immer beobachtete.
Sie war kaum unter der Straßenlaterne angekommen, als eine Gestalt aus dem Nichts trat, sie packte, herumwirbelte und sie drückte und drückte. Jen vergrub das Gesicht im Haar ihrer Mom, verlor sich im Duft von Shampoo und umarmte sie genauso fest, wobei sie am Rande heiße Tränen auf ihrem Hals wahrnahm und hysterisch gemurmelte Liebesworte.
»Jennifer, Gott sei Dank …«
Es dauerte nur eine Sekunde, nicht einmal lange genug, um ihrer Mutter zu antworten, dann wurde sie energisch auf die Haustür zugezogen, über der vertraut eine schwache Glühbirne blinkte.
Der Taxifahrer rückte gerührt seinen Rückspiegel zurecht und fuhr in die Nacht davon.
Der Anregung aus seiner Therapie folgend nahm Jon Peterson sich vier Tage frei, belud den Jeep und machte sich auf den Weg in die Wüste.
Er jagte Dämonen. Er erwartete nicht wirklich, welche zu finden, aber er musste zugeben, dass entweder er ein Genie war oder die Therapie erstklassig, denn die Fortschritte, die er machte, waren bemerkenswert. Allerdings schien dieses Orakel, das ihn therapierte, sich sein endgültiges Urteil noch vorzubehalten.
Jons Beschäftigung mit dem großen Projekt, das er sich vorgenommen hatte, war ein wenig schal geworden. Teile des Puzzles rückten an die richtige Stelle, aber er hatte keine echten Schritte unternommen. Daheim mussten alle Spiegel im Haus vorsichtig in Plastik eingehüllt sein, um zu verhindern, dass anklagende Augen ihn anstarrten, ihn fragten, warum es so lange dauere, warum sie nicht heute loszogen und endlich den Ball ins Rollen brachten – ein nutzloser Idiot sei er. Das Haus selbst, makellos sauber wie immer, hatte einen deutlich üblen Geruch entwickelt. Er musste nach jeder Nacht die Bettlaken wechseln und war dazu übergegangen, jedes Mal, nachdem er einen alten Teller benutzt hatte, einen billigen neuen zu kaufen. Der Postbote hatte das Fass zum Überlaufen gebracht, als er es fertigbrachte, eine Probe mit flüssigem Weichspüler aufplatzen zu lassen, weil er sie mit Gewalt durch den Briefschlitz gequetscht hatte. Auf der Matte war die Flüssigkeit aus der bunten Pappschachtel gesickert, als hätte ihm jemand außerirdisches Sperma geschickt. Der Geruch, irgendeine chemische Frische, hätte für Jon Peterson ebenso gut von madenzerfressenen Kaninchenhirnen kommen können, so unfassbar unpassend war er in seinem sorgsam kontrollierten Lebensraum.
Weiter, blauer Himmel nach einer kurzen Fahrt vom Haus aus. Die Natur hatte ihre Bühne vor ihm ausgebreitet, mit einer Schönheit, so gewaltig, dass sie immun war gegen Weichspüler und Fernsehreklame, Straßenwahn und Kreditkarten. Jon liebte die Wüste, die Freiheit, die Hitze, den groben Sand, die Beinahestille, und er liebte die Abwechslung in den Landschaften. Wenn er den Blick allmählich über die zunehmende Veränderung von Licht und Farbe in die Ferne schweifen ließ, konnte er seinen Geist in die Weite ausdehnen, und schließlich wurden der purpurne und der gelbe Horizont des Morgens so vertraut und eigen wie daheim der Bereich zwischen seinem Sofa und der Wohnzimmerwand. Die Augen sprühten ihm im Kopf von einem neuen Gefühl des Möglichen.
Jon stand oben auf einem Ausguck in einem Nationalpark, mehr als fünfhundert Meilen ausgewiesener Ödnis weit im Staate Utah, etwa zweihundert oder mehr Meilen südwestlich der Hauptstadt des Bundesstaats. Er sah zu, wie die Sonne über großen, roten Sandsteinrippen aufstieg.
Jon war hierhergekommen, um seinen Tag zu beginnen, weil es schön war, einen Blick auf die gesamte Landschaft zu werfen, bevor er seinen Geländewagen in den Sand trieb und sich in die eigentliche Wildnis aufmachte. Schließlich war dies eine Art Landkarte im Maßstab 1:1 und Vollrelief unter seinen Füßen ausgebreitet, die ihm viel mehr offenbaren konnte als jedes Faltblatt der Parkaufseher. Er verließ sich im Wesentlichen auf seinen Instinkt, der ihn zu den Dämonen führen sollte, aber Jon wusste auch, dass kein noch so großer Respekt vor der rauen Wirklichkeit der Wüste ihm allzu viel nutzen würde, wenn sein Wagen in einem dieser wasserlosen Canyons liegen blieb. Infolgedessen waren diese kleinen, spirituellen Rituale, die Sonnenaufgangsmeditationen für ihn so entscheidend wichtig geworden wie die Kühltasche voller Gatorade und Eis auf der Rückbank des Jeeps.
Jon hörte etwas im Hintergrund. Er trat bedächtig aus seiner Meditation heraus, wie ein Autofahrer, der sich den Kurven anpasst, oder ein Schlangenmensch am Ende einer Show. Wieder ganz zurück in der körperlichen Welt, legte er den Kopf leicht schräg, als wolle er den Laut auf diese Weise besser auffangen.
Es waren ständig Geräusche in Jon Petersons Kopf, allesamt real für ihn, und sie waren seit seiner Kindheit dort gewesen. Er hörte selten Stimmen als solche, obwohl da bisweilen Worte geformt schienen, die er erkennen konnte, gehauchtes Geflüster von jenseits der Leere, obwohl er zugab, dass er seine Fantasie beanspruchen musste, um ihnen in irgendeiner Sprache, die wir kennen, eine spezifische Bedeutung zuschreiben zu können. Stattdessen hörte er einen einzigen, niemals endenden Ton, so tröstlich und vertraut wie eine Mutter, die ihrem Baby etwas vorsummt, einen Ton mit gelegentlichen Variationen, die ihm zu entwachsen schienen – in etwa so, als lebe man mit der Ebbe und Flut eines unsichtbaren, grenzenlosen Meeres. Gelegentlich konnte das Getöne ihn in die Knie zwingen, dann wieder konnte er hineingreifen und Führung erfahren, und bei wieder anderen Gelegenheiten schien es ganz und gar für sich selbst zu existieren, unabhängig und außerhalb von ihm, als sei er ein Zuschauer bei einem Wunder.
Die Geräusche waren jetzt glücklich, und sie ließen ihn jede einzelne Zelle seines Körpers spüren, jeden elektrischen Impuls, jedes Atom seines Atems. Jon blinzelte sich ein Rinnsal salzigen Schweißes ins Auge, zwang das Lid jedoch, offenzubleiben, kostete den brennenden Schmerz aus, genoss die Art, wie die Welt flüssig wurde, umherwirbelnde Farben, als hätte der Maler seine Palette fallen lassen. Obwohl er mit diesem Teil Utahs sehr vertraut war, überraschten ihn diese wahrhaft phänomenalen Türme und Fialen eins ums andere Mal. Es sah aus, als versuche das Land, sich wie mit Krallen zurück auf den Weg hinauf zu Gott zu ziehen.
Jon wischte sich über die Augen, rückte den Hut zurecht und stieg wieder in den Jeep, das einzige Auto auf dem einfachen
Parkplatz. Auf dem Beifahrersitz lag eine Sonnenbrille, aber er konnte noch ein Weilchen länger aushalten, es war noch früh am Tag. Er wollte die Farben noch ein oder zwei Stunden lang in sich aufnehmen, bevor er sie durch seine Ray-Bans filterte.
Jon berührte den Geländeschaltknüppel und kostete die Vorstellung aus, dass er ihn im Laufe der nächsten Stunden auf fremdartigem Terrain benutzen würde. Dann legte er den Rückwärtsgang ein und fuhr los. Ohne Hast schwenkte er auf die lange, abschüssige Piste zum Fuß des Plateaus ein.
Beinahe unten angekommen, kurz bevor er von der Straße abzweigte und in die Wildnis fuhr, kam Jon Peterson der erste Wagen einer Touristenfamilie auf dem Weg hinauf entgegen. Ein flüchtiges Bild von einem Vater hinter dem Lenkrad, konzentriert durch eine Sonnenbrille wie seine eigene schauend, die Knöchel weiß geworden beim plötzlichen und unerwarteten Erscheinen eines anderen Wagens. Dann fuhren sie aneinander vorbei. Jon lächelte sein verblüffend beängstigendes Lächeln in den Rückspiegel, wohl wissend, dass sich die Qualität des Lichtes auf elementarer Ebene bis zur Unkenntlichkeit verändert haben würde, bis der Mann mit seiner Familie oben war. Sie würden dort oben niemals sehen, was er gesehen hatte, das war nur für ihn bestimmt.
Der Schauder dieses Wissens löste den Impuls aus, auf den er gewartet hatte. Jon bog von der Straße ab, die dicken Reifen polterten über einen Haufen aufgeworfener Erde, und fort war er durch das raue Buschland der Wüste auf dem Weg zu den Canyons und Fels türmen, um Zwiesprache zu halten mit den bloßliegenden Knochen des Kontinents und den Dämonen, die dort – wie er hoffte – warten würden.
Elf Stunden später begann das rosige Licht des Abends, das die Schluchten überflutete, sich in Blutrot zu verwandeln.
»Verflucht! Aber wenn der Bursche da vor uns nicht die ganze Zeit da war …«, sagte Don.
»Hm.«
»Sag mal, hörst du mir eigentlich überhaupt zu, Dornröschen?«
Milt döste auf dem Rücksitz des Abschleppwagens, er war seit dem Mittag sturzbetrunken gewesen. Jetzt rülpste er zur Antwort feucht.
»Ich sagte aufwachen, zum Teufel, Bruder. Der Typ da sieht grundsolide aus.«
»Was, soll er uns doch melden. Ist sowieso eine verreckte Schicht.« Don fragte sich, ob Milt wirklich bei Bewusstsein war, aber nach einem Moment hörte er eine Bewegung von hinten, als käme da jemand zu sich. Mit einem grimmigen Lächeln zog Don den Wagen auf den unbefestigten Randstreifen, nachdem er an dem Fremden mit dem liegen gebliebenen Jeep vorbeigefahren war – ein wenig zu dicht, als für den hochgewachsenen Mann in den schlammbespritzten Kleidern angenehm sein konnte –, um festzustellen, ob er von der Straße zurücktreten würde.
Er tat es nicht.
Der Anruf war vor gut drei Stunden hereingekommen, und sie hätten eigentlich in einer hier sein können – hätte es da nicht bei Betsy am Nachmittag dieses Kartenspiel gegeben. Ehrlich, dachte Don, der um etwa vierzig Dollar ärmer war als am Morgen, die Idioten, die diese verlassenen Highways benutzten, aber nicht dem Automobilclub beitraten, bekamen, was sie verdienten. Außerdem war es nicht Dons Bergungsgeschäft. Und dieser Kerl hier war offenkundig kein Einheimischer. Wahrscheinlich irgendein Blödmann aus der Stadt mit mehr Geld als Verstand, der so mutterseelenallein ins Gelände fuhr.