„Dieser Betrag an Empfindsamkeit ist eine überaus häufige Beigabe einer Persönlichkeit und trägt oft mehr zu deren Reiz bei, als dass sie einem Charakter Abbruch täte. Einzig wenn schwierige und ungewohnte Situationen kommen, pflegt sich der Vorteil in einen oft recht großen Nachteil zu verkehren, indem dann die ruhige Besinnung durch unzeitgemäße Affekte gestört wird. Nichts wäre aber unrichtiger, denn diesen Betrag an Empfindsamkeit als einen eo ipso krankhaften Bestandteil eines Charakters zu werten. Wenn dem wirklich so wäre, so müsste man wahrscheinlich etwa ein Viertel der Menschheit als pathologisch betrachten.“1
„Eine gewisse angeborene Empfindlichkeit führt zu einer besonderen Vorgeschichte, das heißt zu einem besonderen Erleben der infantilen Ereignisse, welche ihrerseits auch nicht gleichgültig bleiben für die Entwicklung der kindlichen Weltanschauung. Ereignisse, verknüpft mit starken Eindrücken, gehen nie spurlos an empfindsamen Menschen vorüber. Es bleiben Spuren davon bekanntlich oft für das ganze Leben wirksam. Und solche Erlebnisse können auch einen bedingenden Einfluss auf die gesamte geistige Entwicklung eines Menschen ausüben.“2
(C. G. Jung über besonders sensible, empfindsame Menschen, 1913)
Ich mag hochsensible Männer sehr gerne, und das allein schon wegen dem, was sich hinter diesen beiden Worten verbirgt. Erstens sind es Männer, und ich umgebe mich normalerweise gerne mit Männern. Und zweitens sind sie hochsensibel. Für mich bedeutet das, dass ich mit diesen Männern tiefsinnige Unterhaltungen führen kann. Oberflächlicher Small Talk ist sehr langweilig für hochsensible Menschen. Diese Männer hingegen haben Ideen und machen sich Gedanken. Sie sind in der Regel besonders gute Zuhörer. Sie zeigen oft Wärme und Empathie. Und gräbt man etwas tiefer, findet man ihre spirituelle Ader. Sie handeln im Allgemeinen ethisch und gewaltfrei. Natürlich sind sie niemals perfekt, glauben Sie mir, aber das hat ja auch etwas Gutes.
Somit mag ich die Kombination: sensibler Mann. Wenn Sie diese Zeilen lesen, dann nehme ich an, dass die beiden Worte entweder Sie selbst beschreiben oder jemand, der Ihnen etwas bedeutet. Dieses Buch hat zum Ziel, die beiden Attribute „sensibel“ und „männlich“ auch in Ihrem Kopf als etwas Wunderbares zu vereinen – so, wie ich es tue.
Bitte machen Sie als hochsensibler Mann den entscheidenden Schritt, sich selbst wertzuschätzen – nicht nur für sich selbst, sondern auch für den Rest von uns. Wir, die Welt, brauchen Sie wirklich sehr. Was wir von Ihnen brauchen, ist, einen Weg zu finden, die Welt positiv zu beeinflussen, denn Sie haben das, was es dazu braucht – tiefgründige Gedanken, die Fähigkeit, die besten Lösungsstrategien zu finden, Mitgefühl für andere und ethisches Handeln. Aber wir möchten, dass Sie dies auf eine Weise tun, die sich für Sie richtig anfühlt. Und wir möchten, dass Sie heilen, falls Sie in Ihrem Leben emotionale Verletzungen erlitten haben, und sich geerdet und zentriert fühlen, nicht überstimuliert. Nichts ist so wichtig, dass Sie dafür ein Burn-out riskieren sollten. Damit ist längerfristig niemandem geholfen. Dafür müssen Sie aber auf Ihr inneres Gleichgewicht achten und es stets erneuern, und dieses Buch ist eine wahre Schatzkiste von Möglichkeiten, wie Sie dies am besten machen können.
Lassen Sie mich etwas über den Autor des Buches sagen. Als ich Tom Falkenstein 2015 das erste Mal traf, mochte ich ihn sofort. Als ich ihn daraufhin etwas besser kennenlernte, merkte ich schnell, dass er das Zeug dazu hatte, dieses Buch zu schreiben: Er besitzt ein gutes Verständnis von den wissenschaftlichen Hintergründen von Hochsensibilität und verfügt über genug Praxiserfahrung, um Ihnen eine Fülle von lebensnahen Übungen und Gedankenimpulsen präsentieren zu können. Vor allem aber ist er ein Psychologischer Psychotherapeut, was auch bedeutet, dass er Hochsensibilität von psychischen Störungen unterscheiden kann. Manchmal passiert es, dass hochsensible Menschen eine Diagnose erhalten, obwohl sie an gar keiner Störung leiden. Manchmal kommt es vor, dass hochsensible Menschen auch psychisch erkranken. Und manchmal möchte eine Person unbedingt glauben, dass ihr einziges Problem ihre Hochsensibilität ist, obwohl das eigentliche Problem ein ganz anderes ist und sie gar nicht hochsensibel ist. Als Psychotherapeut kann Tom Falkenstein hier gut differenzieren und wird Ihnen dies ebenso vermitteln.
Aus all diesen Gründen habe ich Tom sehr gerne bei der Arbeit an seinem Buch unterstützt. Wir hatten mehrere Videoanrufe von Berlin nach San Francisco. Er stellte ausgezeichnete Fragen, und ich finde, dass wir auch Spaß zusammen hatten. Während unserer Zusammenarbeit merkte ich, dass ich ihm vertraute, und ich wünschte, Sie könnten ihn auch kennenlernen. Aber ich bin mir sicher, dass Sie seine Stimme als Autor dieses Buches als warm, authentisch, kompetent und erfahren erleben werden – eben hochsensibel, genau wie Sie.
Elaine Aron
San Francisco, im Februar 2017
„Ich hasse an mir, dass ich so sensibel bin!“ Mein Klient, Mitte zwanzig, saß mir gegenüber und brachte seinen Ärger mit dieser Aussage auf den Punkt. Es war einer der ersten warmen Frühlingstage in London, und plötzlich herrschte Stille im Raum. Der junge Mann war seit einiger Zeit in der psychiatrischen Klinik, in der ich damals als Psychotherapeut arbeitete, wegen wiederkehrenden Depressionen in Behandlung. Im Rahmen seiner Therapie stießen wir immer wieder indirekt auf das Thema Sensibilität. Doch dies war der erste Moment, in dem er sich selbst offen als sensibel bezeichnete und sein Selbsthass, den er aufgrund seiner empfundenen Sensibilität verspürte, deutlich wurde. Für ihn war es ein schmerzlicher, aber wichtiger Punkt in der eigenen Auseinandersetzung mit seiner hohen Sensibilität, unter der er seit seiner Kindheit litt. Für mich war es ein Schlüsselmoment in meiner beruflichen Laufbahn, weil der Klient sehr klar benannte, worauf ich in meiner Arbeit als Psychotherapeut über die Jahre immer wieder gestoßen war, ohne dafür einen Namen gehabt zu haben oder das Phänomen konkret benennen zu können – bis zu diesem Zeitpunkt: der hochsensible Mann.
Während meiner Ausbildung zum Psychologischen Psychotherapeuten in Berlin war ich immer wieder auf einen bestimmten Kliententyp gestoßen, den ich als besonders sensibel, tiefsinnig, intuitiv, gewissenhaft, oft introvertiert und manchmal schüchtern erlebte. Diese Klienten kamen alle aus den verschiedensten Gründen zu mir in die therapeutische Behandlung, etwa aufgrund von Depressionen, Angststörungen oder Beziehungsproblemen. Sie hatten jedoch alle eine darunterliegende, unterschwellige Wesensart gemeinsam: Sie waren alle äußerst sensibel und nahmen dadurch ihre innere und äußere Welt sehr feinsinnig und empfindsam wahr.
Mir fiel nach einiger Zeit auf, dass mir die therapeutische Arbeit mit dieser Klientengruppe oft besonders viel Freude bereitete, gerade weil sie so differenziert in ihrer Wahrnehmung und ihrer Auseinandersetzung mit sich und der Welt waren. Jedoch wurde mir auch zunehmend bewusst, dass es die männlichen Klienten waren, nicht die weiblichen, die die größten Probleme mit ihrer beschriebenen Sensibilität hatten und in ihren Therapien oft den Wunsch ausdrückten, weniger sensibel sein zu wollen. Ich konnte wiederholt beobachten, dass die Diskrepanz zwischen dem, wie ein sensibler Mann ist, und dem, wie er glaubt, sein zu müssen, zu großem psychischem Leid bei diesen Männern führte. Häufig empfanden sie Scham oder Minderwertigkeit aufgrund ihrer sensiblen Disposition, die sie schon seit ihrer Kindheit begleitete, und sie empfanden ihre Sensibilität als „unmännlich“, „weiblich“ oder „unattraktiv“. Manche hatten lange Zeit versucht, ihre Empfindsamkeit zu verleugnen oder vor anderen zu verstecken – in der Regel vergeblich. Die Überzeugung, dass sensibel und gleichzeitig männlich sein sich ausschließen, schien tief zu sitzen.
Ich hörte in Sitzungen immer und immer wieder den von männlichen Klienten geäußerten Wunsch, „tougher“ werden zu wollen, körperlich und seelisch belastbarer zu sein und zu lernen, sich extrovertierter zu verhalten. In der Regel erhofften sie sich dadurch, sich männlicher zu fühlen, mehr Erfolg und Durchsetzungskraft im Beruf zu haben oder auf potenzielle Partner/-innen anziehender zu wirken. Manchmal versprachen sich diese Männer auch, weniger Konflikte in der Beziehung zum eigenen Vater oder zu anderen Männern zu erleben. Im Grunde schien es also darum zu gehen, dem Bild des „typischen Mannes“ mehr entsprechen zu wollen.
Ich hatte damals noch nicht von dem Konzept der Hochsensibilität als angeborene Temperamenteigenschaft gehört und wusste auch noch nichts über die umfangreichen Forschungsergebnisse der Psychologin Dr. Elaine Aron und ihren Kollegen zur „Highly Sensitive Person (HSP)“ oder auf Deutsch: zur „hochsensiblen Person (HSP)“. Elaine Aron hatte bereits seit den frühen 1990ern das Thema erforscht und griff damit das Konzept der „angeborenen Empfindlichkeit“ mancher Menschen auf, welches bereits der Schweizer Psychiater und Begründer der Tiefenpsychologie C. G. Jung 1913 in seinen Veröffentlichungen beschrieben hatte.
Neugierig geworden durch die obige Situation in London vor mehreren Jahren, begann ich, mich explizit mit dem Thema Sensibilität bei Menschen auseinanderzusetzen. So stieß ich auf den Terminus Hochsensibilität oder „Sensory Processing Sensitivity“, wie der Begriff in der Forschung genannt wird. Ich hatte den Eindruck, auf ein nahezu bahnbrechendes psychologisches Konzept gestoßen zu sein, was meine weitere Arbeit als Psychotherapeut entscheidend beeinflussen sollte. Die Idee, dass Menschen sich von Geburt an in ihrer Sensibilität, mit der sie auf ihre Umwelt reagieren, unterscheiden, schien so viel von dem zu erklären, was ich täglich in meiner Praxis beobachten konnte. So tauchte ich in den letzten Jahren tief in die Materie der Hochsensibilität ein, und daraus entstand ein regelmäßiger Austausch mit Elaine Aron, von der ich persönlich viel über die Forschungshintergründe und die therapeutische Arbeit mit hochsensiblen Klienten lernen konnte.
Bei meiner Beschäftigung mit dem Thema Hochsensibilität fiel mir auf, dass ich kaum Bücher finden konnte, welche die besonderen Herausforderungen hochsensibler Männer aus psychotherapeutischer und männlicher Sicht beschrieben. Die meisten Bücher über Hochsensibilität wurden von Frauen geschrieben und schienen sich in erster Linie auch an Leserinnen zu richten. Gleichzeitig erschien mir das erfahrene und mitgeteilte Leid hochsensibler Männer in meiner psychotherapeutischen Praxis und im Beratungskontext jedoch sehr groß. Zwar werden die Schwierigkeiten von sensiblen Männern, die diese aufgrund des männlichen Rollenbilds im westlichen Kulturkreis erleben, in vielen Ratgebern kurz hervorgehoben, doch eine tiefer gehende Auseinandersetzung mit dem Thema hochsensible Männlichkeit, und somit eine Enttabuisierung, bleibt weiterhin aus. Das möchte ich ändern.
Mir liegt es dabei besonders am Herzen, mit diesem Buch einen längst notwendigen Beitrag zum Empowerment von hochsensiblen Männern zu leisten, weil ich glaube, dass ihre Rolle in der Welt eine wichtige ist, die mit vielen Herausforderungen, aber auch Möglichkeiten verbunden ist. Ich halte die hohe Sensibilität mancher Männer für einen ganz wesentlichen Teil ihrer männlichen Identität und für eine Quelle der Bereicherung für ihr eigenes Leben und für die Leben anderer. Sensibilität ist kein schamhafter, „unmännlicher“ Makel, den es sich abzutrainieren gilt.
Eine wichtige Voraussetzung dafür ist aber, dass man mit der eigenen Sensibilität verantwortungsvoll und gut umzugehen lernt und ihr mit Akzeptanz begegnet, sie wertschätzt und für sich und in der Beziehung zu anderen Menschen gut nutzt. Wenn dies gelingt, so glaube ich, dass eine hochsensible Veranlagung Männer sogar zu besonders guten Vätern, Ehemännern, Partnern, Söhnen, Brüdern und Freunden machen kann.
Gleichzeitig erscheint es mir aber auch wichtig hervorzuheben, dass die eigene Hochsensibilität – einmal erkannt und benannt – nicht als eine Ausrede benutzt werden sollte, die Dinge im Leben zu vermeiden, die man eigentlich ohnehin nicht machen möchte. Ebenso finde ich, dass sie kein Anlass zu Arroganz oder Überheblichkeit sein sollte, nach dem Motto: „Ich bin etwas ganz Besonderes, weil ich so sensibel bin.“ Hochsensibilität ist zunächst einmal eine völlig neutrale Disposition, eine angeborene Temperamenteigenschaft.3 Eine hochsensible Veranlagung zu haben ist weder automatisch gut noch schlecht. Es ist zwar ein wichtiger Teil der eigenen Person, aber letztlich auch nur ein Teil, ein Aspekt der eigenen Vielschichtigkeit. Es erscheint mir daher als problematisch, wenn man sich selbst darauf völlig reduziert oder seine sensible Natur wie eine Fahne vor sich herträgt. Ich sehe somit hochsensible Männer weder als „zarte Blätter im Wind“ noch als die „etwas besonderen Menschen“.
In meiner Arbeit mit hochsensiblen Klienten vergleiche ich eine hochsensible Veranlagung oft damit, mit blasser Haut geboren zu sein. Man kann beklagen, nicht mit dunklerer Haut geboren zu sein, oder neidisch auf Freunde schauen, die im Sommer ihre von Natur weniger sensible Haut am Strand, im Garten oder im Park sorglos bräunen können. Aber letztlich muss man akzeptieren, dass die eigene Haut eine andere ist. Nicht besser, nicht schlechter, aber anders. Auch mit blasser, sensibler Haut kann man sich sonnen, wenn man dies möchte, nur kann man sich eben nicht so lange der direkten Sonne aussetzen, wie es vielleicht anderen möglich ist. Man muss auch einige Vorkehrungen treffen, wie etwa Creme mit einem höheren Lichtschutzfaktor auftragen, ein schattiges Plätzchen suchen, Kleidung anziehen oder einen Sonnenhut tragen. Man kann also, genau wie die anderen Menschen, die mit weniger blasser Haut geboren wurden, an den „sonnigen“ Momenten des Lebens teilnehmen, aber man muss lernen, dies auf seine eigene, auf vielleicht eine etwas andere Art zu tun. Das ist der entscheidende Punkt: akzeptieren und annehmen, was vorhanden ist, und anschließend einen individuellen und authentischen Weg finden, damit gut im Einklang zu leben.
Die Anzahl der Veröffentlichungen und der wissenschaftlichen Forschungen zu dem Thema Hochsensibilität hat in den letzten Jahren rasant zugenommen, und dadurch erfährt der Begriff derzeit weltweit eine wachsende Bekanntheit. Ich vermute, dass der Grund dafür auch etwas mit der Zeit zu tun hat, in der wir leben. Ich beobachte, dass viele Menschen ihr Privat- und Berufsleben als zunehmend schnelllebig und leistungsorientiert erleben und sich dadurch oft dauerhaft gestresst, erschöpft, überstimuliert oder unter Druck gesetzt fühlen. Die Grenze zwischen der privaten und der öffentlichen Sphäre verschwindet mehr und mehr, und Persönlichkeitseigenschaften, die wir typischerweise nicht mit sensiblen, introvertierten und zurückhaltenden Menschen in Verbindung bringen, werden in unserer westlichen Gesellschaft scheinbar stärker verlangt und zelebriert. Es wird zunehmend als wichtig erachtet, in der Lage zu sein sich durchzusetzen, schnell zu arbeiten und noch schneller Entscheidungen zu treffen, viele Dinge gleichzeitig zu erledigen und ein extrovertiertes, selbstsicheres Auftreten in und vor Gruppen zu beherrschen – sei es bereits bei Kindern im Kindergarten oder in der Grundschule oder bei Erwachsenen im Berufsleben. Hinzu kommt die Wichtigkeit des ersten Eindrucks, die ständige Erreichbarkeit durch E-Mails und Mobiltelefone, die Kunst des Sich-präsentieren-Könnens, ob in sozialen Netzwerken oder im realen Leben. Manche Psychologen und Psychiater bezeichnen diese zu beobachtende gesellschaftliche Entwicklung sogar als eine „Epidemie des Narzissmus“4 und sprechen von der „narzisstischen Gesellschaft“5.
Es scheint, als würden in der westlichen Gesellschaft mehr und mehr Verhaltensweisen und Eigenschaften bevorzugt, die hochsensiblen Menschen eher schwerfallen oder diese schneller überreizen oder ermüden. Dennoch sind die Qualitäten und positiven Eigenschaften vieler hochsensibler Menschen, wie etwa ein hohes Empathievermögen, Differenziertheit, Tiefgründigkeit, eine Tendenz zum ethischen Handeln und eine feine Wahrnehmungsfähigkeit, für die zahlreichen politischen, sozialen und ökonomischen Herausforderungen der heutigen Welt vielleicht sogar wichtiger als jemals zuvor.
Ich glaube, dass ein selbstverständlicher und authentischer Umgang mit der eigenen Sensibilität nicht nur für jeden Mann selbst, sondern auch für unsere gesamte Gesellschaft von zentraler Bedeutung ist. Wenn es hochsensiblen Männern gelingt, in Balance mit ihrem Temperament zu leben, ihre Fähigkeiten positiv und offensiv zu nutzen und sich nicht länger dafür zu schämen, zu verstecken oder minderwertig zu fühlen, dann wird dies die Beziehung, die sie mit sich selbst haben, tief greifend verändern. Aber auch die Beziehung und die Interaktion mit anderen Menschen, ob Familie, Freunde oder Kollegen, wird eine andere werden, was eine weitreichende Konsequenz haben könnte. Denn dadurch könnte sich das gesellschaftliche Verständnis von „Mann-Sein“ ebenfalls verändern – weniger rigide und eng, hin zu einem freieren, vielfältigeren Verständnis von Männlichkeit. Ein realistischeres und ehrlicheres Männerbild könnte das Ergebnis dieser bereits begonnenen Veränderung sein, sodass männlich sein und gleichzeitig sensibel sein sich in den Köpfen der Menschen nicht länger ausschließen muss. Meiner Meinung nach sind es hier besonders die sensiblen Männer, die diesen Veränderungsprozess unterstützen, vorantreiben und sogar anführen können, vorausgesetzt, sie haben die eigene Hochsensibilität angenommen und spüren, dass sie für die Gesellschaft als Ganzes und für die Evolution des Mannes und seiner Identität von Bedeutung sind.
Dieses Buch verknüpft in zwei Teilen „Theorie und Praxis“: Anhand von theoretischen Ansätzen aus den Bereichen Psychologie und Medizin gebe ich Ihnen im ersten Teil eine Einführung zur gegenwärtigen Situation des Mannes in der westlichen Gesellschaft. Dabei beleuchte ich, welche negativen Konsequenzen ein traditionelles, antiquiertes Männerbild haben kann und warum hier speziell sensible Männer eine nötige Veränderung vorantreiben können und somit einen großen gesellschaftlichen Wert haben. Ich werde Ihnen einen Überblick darüber geben, wie das Konzept Hochsensibilität entstanden ist, und beschreibe, was Hochsensibilität ist, was es nicht ist und woran Sie erkennen können, ob Sie hochsensibel sind. Sie werden verstehen, was typische Merkmale, aber auch Herausforderungen und Bereicherungen hochsensibler Menschen sind und wie Sie Hochsensibilität von psychischen Erkrankungen abgrenzen können.
Im zweiten Teil des Buches werde ich Ihnen praktische Übungen vermitteln, die Ihnen dabei helfen werden, mit den Herausforderungen einer hohen Sensibilität und den damit verbundenen typischen Problembereichen besser umzugehen. Ich werde Ihnen zeigen, wie Sie mithilfe von Emotionsregulation, Achtsamkeit, Akzeptanz, Entspannung, Selbstmitgefühl und Selbstfürsorge eine ganz wesentliche Verbesserung Ihrer Lebensqualität im alltäglichen Leben erreichen können und wie Sie diese Strategien am besten einsetzen können. Hierbei mache ich konkrete Übungsvorschläge und biete zahlreiche Strategien an, die sich für viele meiner hochsensiblen Klienten in den letzten Jahren als besonders hilfreich erwiesen haben.
An jedes Kapitel schließen sich Gespräche mit hochsensiblen Männern an. Darin beschreiben sie, wie sich ihr Temperament auf verschiedene Lebensbereiche wie Beruf, Sexualität und Beziehungen auswirkt und wie sie gelernt habe, damit gut umzugehen und ihre Disposition bestmöglich für sich zu nutzen. Den Abschluss des Buches bildet ein persönliches Gespräch zwischen Elaine Aron und mir über hochsensible Männer.
Als Psychotherapeut liegt es natürlich auch in meiner Natur, Ihnen im Verlauf des Buches viele Fragen zu stellen und dadurch eine Auseinandersetzung, einen inneren Prozess in Ihnen anzuregen, anstatt Ihnen ausschließlich direktiv Strategien zu vermitteln. Was ich mir letztlich aber hauptsächlich wünsche, ist, dass Sie sich nach dem Lesen des Buches darin bestärkt fühlen, sich als hochsensibler Mann so anzunehmen, wie Sie sind, und gelernt haben, für sich selbst in Ihrem Alltag gut zu sorgen. Dabei würde mich besonders freuen, wenn durch das Buch ein vielleicht bisher vorhandenes Gefühl von „nicht richtig sein“ bei Ihnen abnehmen würde und Sie Ihre sensible Seite mehr mögen würden. Auch wenn mir die Grenzen eines Ratgebers bewusst sind, so glaube ich auch an die Kraft und Wirkung von Büchern, die oft feine, aber weitreichende Spuren in uns hinterlassen können.
In diesem Kapitel beschäftigen wir uns mit den Fragen, was die besonderen Herausforderungen sind, mit denen sich viele hochsensible Männer im Alltag konfrontiert sehen, und warum Akzeptanz der erste Schritt zur Veränderung ist. Außerdem setzen wir uns mit der Unterscheidung zwischen Hochsensibilität und psychischen Störungen auseinander. Dieses Kapitel bildet den Abschluss des auf Theorie fokussierten ersten Teils des Buches und stellt den Übergang zum praxisorientierten zweiten Teil dar, in dem Sie zahlreiche Strategien für einen besseren Umgang mit Ihrer Hochsensibilität kennenlernen werden.
Ich hoffe, dass Sie an dieser Stelle ein gutes Verständnis dafür entwickelt haben, was Hochsensibilität ist, wie es sich wissenschaftlich erklären lässt und was die vier DOES-Indikatoren für ein besonders feinfühliges Temperament sind. Wenn Sie sich nun als hochsensibler Mann erkannt haben, bleibt herauszufinden, welche Konsequenzen daraus für Ihren Alltag entstehen und was der nächste Schritt zu einem verbesserten Umgang mit dem eigenen Temperament sein könnte.
Ein hochsensibler Mann zu sein bedeutet, feinfühliger und empfindsamer zu sein als andere, nicht hochsensible Männer. Nicht hochsensible Männer können natürlich auch feinfühlig und empfindsam sein, und es gibt zahlreiche Situationen, in denen hochsensible Männer alles andere als sensibel reagieren, nämlich meistens dann, wenn sie übererregt oder gestresst sind. Dann können auch hochsensible Männer ungerecht, gereizt, kritisch, wütend, genervt oder ungeduldig werden. Genau wie alle anderen Männer auch. Und dennoch wird sich ihre Tendenz, ihr Muster, allgemein sensibler auf Ereignisse, Erfahrungen, Situationen, Personen und ihre Umwelt zu reagieren, als weniger sensible Männer das tun, klar zeigen.
Dieses Muster kann alle Bereiche Ihres Lebens betreffen – Ihre Beziehungen, Ihren Beruf, Ihre Freizeit, Ihre Vorlieben, Ihre Hobbys, Ihr Selbstbild und die Beziehung, die Sie mit sich selbst haben. Sie erleben Ihre Hochsensibilität wahrscheinlich nicht konstant und in allen Lebensbereichen als problematisch. Sie lässt sich aber als roter Faden in Ihrem Leben erkennen, auch wenn Sie sie vielleicht erst jetzt benennen und Ihre emotionale Reaktion und Ihre Verhaltensmuster unter dem Aspekt Ihres Temperaments verstehen können. Dabei ist es ganz egal, ob Sie zu den 30 Prozent der hochsensiblen Menschen gehören, die einen extrovertierten Persönlichkeitsstil pflegen, oder ob Sie zur Mehrheit der 70 Prozent aller hochsensiblen Menschen zählen, die introvertiert im sozialen Auftreten sind.
All das wird Sie auch in Zukunft weiterhin begleiten, denn Sie werden Ihr hochsensibles Temperament nicht loswerden oder es sich „abtrainieren“ können. Aber das brauchen Sie auch gar nicht. Was Sie jedoch durchaus können, ist, die Beziehung zu Ihrem sensiblen Temperament und Ihren Umgang damit im Alltag zu verändern. Ihre Temperamenteigenschaft braucht keine positive oder negative Bewertung, aber sie braucht Ihre Akzeptanz. Je früher Sie zu einem Punkt der Akzeptanz kommen, desto besser für Sie und Ihre Lebensqualität, weil es das Leben für Sie einfacher und angenehmer macht. Einfacher dadurch, da Sie – vorausgesetzt, Sie lehnen diese sensible Seiten an sich ab – den Kampf, das Hadern mit sich selbst, das Ablehnen von einem zentralen Teil Ihrer Person loslassen können und dadurch zu mehr Freiheit und Flexibilität gelangen.
Ich beobachte in meinem Alltag als Psychotherapeut häufig, dass es das Gegenteil von Akzeptanz ist, also ein Ablehnen, ein Nichtannehmen, ein „Etwas-nicht-haben-Wollen“, das Probleme und Leiden im Leben der Menschen verursacht. Der amerikanische Psychiater und Gestalttherapeut Arnold Beisser fasste die Wichtigkeit von Akzeptanz für den Beginn von Veränderung unter der „Paradoxen Theorie der Veränderung“ zusammen: „Veränderung geschieht, wenn jemand wird, was er ist, nicht wenn er versucht, etwas zu werden, das er nicht ist.“74
Sein Zitat erscheint mir an dieser Stelle deshalb so passend, weil ich glaube, dass diese Haltung auch im Umgang mit der eigenen Hochsensibilität wichtig ist. Wenn Sie annehmen und akzeptieren, dass Sie schneller übererregt sind oder emotionaler reagieren als die meisten anderen Männer, anstatt damit zu hadern, dann ist das an sich schon eine elementare Veränderung. Nur aus dieser Freiheit heraus werden sich weitere, positive Veränderungen ergeben können. Wenn Sie jedoch krampfhaft versuchen, anders zu sein, als Sie eigentlich sind, dann erzeugen Sie dadurch nur noch mehr Leiden und inneren Druck in Ihrem Leben.
Deshalb möchte ich Ihnen ans Herz legen, den Prozess der Selbstakzeptanz zu beginnen. Jetzt. Wenn Sie sich selbst mehr akzeptieren können, wie Sie sind, werden Sie im nächsten Schritt, fast automatisch, Ihr feinfühliges Temperament in Ihrer Lebensführung mehr berücksichtigen und genießen können. Erlauben Sie sich die Freiheit, so zu sein, wie Sie sind. Sie müssen nicht anders sein, sondern die Person akzeptieren lernen, die Sie ohnehin schon längst sind.
Ich erwähne die Wichtigkeit von Akzeptanz mehrmals in diesem Buch, weil ich den Eindruck habe, dass sehr viele hochsensible Männer mit dem Gefühl aufwachsen, aufgrund ihrer Sensibilität „nicht richtig“, „nicht in Ordnung“ zu sein oder „als Mann nicht zu genügen“. Ich glaube, dass das weitreichende, oft lebenslange Konsequenzen für den Selbstwert, das Selbstbild und den eigenen Lebensweg haben kann. Aber egal, was Ihre Erfahrungen waren, Sie können durch Ihre Selbstakzeptanz eine ganz wesentliche Veränderung in Ihrem Leben erzielen.
Ich möchte Ihnen die Akzeptanz der eigenen Hochsensibilität am Beispiel eines Gartens, insbesondere seines Bodens und seiner Beschaffenheit, verdeutlichen. Die Beschaffenheit der Erde und die Ausrichtung des Gartens, ob Norden, Osten, Süden oder Westen, sind gegeben und nicht zu verändern. Gut, man könnte die Erde düngen und vertikutieren, aber wir können einen Garten, der nach Norden zeigt, nicht so bepflanzen wie einen Garten, der in die südliche Himmelsrichtung zeigt. Doch wenn wir den Garten erst einmal kennengelernt haben und wissen, um welche Art von Garten es sich handelt, dann können wir ihn nach unseren Wünschen und Vorstellungen gestalten und genau die Blumen und Pflanzen kaufen, die besonders gut zu diesem Stückchen Erde passen und die dort sehr gut wachsen werden. Nur dann werden wir uns an unserem Garten erfreuen können. Wenn wir aber unglücklich den Nachbarn um seinen Garten beneiden, weil sein Garten scheinbar schöner geschnitten ist oder in eine andere Himmelsrichtung zeigt, dann nehmen wir unseren eigenen Garten nicht so an, wie er ist. Dann werden wir nicht das sehen, was ihn so besonders macht, was er uns bietet und was er braucht, um ihn zu einem besonders schönen Garten werden zu lassen.
Was sind die größten Herausforderungen im Alltag eines hochsensiblen Mannes? Auch wenn es eine große Vielfalt unter hochsensiblen Männern gibt und ich hier natürlich verallgemeinern muss, so habe ich im Lauf der Jahre den Eindruck bekommen, dass sich folgende Problembereiche wiederholen:
1. Übererregung und emotionale Intensität
Durch Überstimulation häufig und schnell in einen Zustand der Übererregung und des „Stresses“ zu geraten, oft gekoppelt an das Erleben von starken Gefühlen und vielen Gedanken, wird von vielen hochsensiblen Männern als unangenehm und teilweise einschränkend erlebt. Zum einen ergibt sich daraus für viele Männer der Wunsch, „sich ruhiger, gelassener und entspannter“ zu fühlen, besonders in stimulationsreichen Situationen. Zum anderen spielen hier die Auseinandersetzung und der Umgang mit den eigenen Gefühlen, in Form von deren Identifikation (Was fühle ich?), Bewertung (Wie finde ich das Gefühl?), Ausdruck (Kann ich das Gefühl ausdrücken oder verbalisieren?) und Regulation (Kann ich das Gefühl beeinflussen und verändern?), eine wichtige Rolle. Sich den eigenen Gefühlen zuzuwenden und zu lernen, mit ihnen umzugehen und sie zu verstehen, sich aber gleichzeitig nicht von jedem Gefühl jederzeit kontrollieren zu lassen, das ist die Kunst. Anders ausgedrückt, müssen hochsensible Männer besonders gut darin werden, sich selbst zu beruhigen und ihre intensiven Emotionen zu regulieren.
2. Selbstwertproblematik und fehlende Selbstakzeptanz
Wie bereits oben erwähnt, lässt sich das wiederkehrende Gefühl, „nicht in Ordnung zu sein“, „nicht männlich genug zu sein“, „nicht o. k. zu sein“ oder in irgendeiner anderen Form weniger sensiblen, „typischen“ Männern unterlegen zu sein, bei vielen hochsensiblen Männern beobachten. Daran geknüpft sind häufig eine Vielzahl von negativen Selbstbeurteilungen und Grundannahmen über die eigene Person (zum Beispiel: „Ich bin nicht liebenswert“, „Ich bin nicht belastbar“, „Ich bin zu sensibel“, „Ich bin zu weich“ etc.), eine Tendenz zur Selbstkritik und wiederkehrende Schamgefühle. In der Lebensgeschichte vieler hochsensibler Männer lässt sich oft explizite Abwertung durch andere Männer finden, etwa durch einen Vater, der den sensiblen, „verweichlichten“ Sohn ablehnte oder zumindest seine Sensibilität nicht schätzte, oder durch Mobbingerfahrungen und Beschämungen durch Gleichaltrige. Ich denke hier an Väter, die ihre Söhne als „Sensibelchen“ beschimpfen oder zu ihnen sagen, dass sie sich „nicht so anstellen“ sollen, oder an Klassenkameraden, die zu einem hochsensiblen Jungen sagen, er sei wie „ein Mädchen“. Implizite Abwertung, unausgesprochen und weniger direkt das Gefühl von wichtigen anderen zu bekommen, nicht in Ordnung oder „anders“ zu sein, ist jedoch ebenfalls häufig. Hierbei geht es um eine subtilere Form der Ablehnung, die oft nicht offen ausgesprochen wird: etwa das Ausgegrenztwerden beim Schulsport, weil man vielleicht bei Mannschaftsspielen vorsichtiger und zurückhaltender ist als andere Jungen, oder das verärgerte Verstummen des Vaters, weil der hochsensible Sohn schnell weint.
Daraus resultiert häufig der Wunsch von hochsensiblen Männern, sich selbstbewusster fühlen zu wollen und sich selbst mehr annehmen zu können.
3. Mangelnde Selbstfürsorge – das Führen eines Lebensstils, der nicht zum eigenen Temperament passt
Da Menschen sich in der Stärke ihrer Sensibilität unterscheiden und die Mehrheit der Menschen nicht hochsensibel ist, ist viel von dem, was das Alltagsleben prägt und bestimmt, nicht unbedingt „hochsensiblenfreundlich“. Hochsensible Menschen sind eine Minderheit, und das an sich ist nicht leicht und mit einigem emotionalen Stress verbunden. Gesellschaftliche Ideale, Normen, Veränderungen und Bewegungen werden von der Mehrheit bestimmt und vorgegeben. Das hat zur Folge, das hochsensible Männer, bewusst oder unbewusst, oft versuchen, so zu leben, wie es von der Mehrheit verlangt wird und wie es Männer tun, die weniger sensibel in ihrer Disposition sind. Ein Lebensstil, der nicht zum eigenen Temperament passt, ist häufig die Konsequenz und kann sich auf das Arbeitsumfeld, die Freizeitplanung, den Wohnort, die Familie und die sozialen Kontakte beziehen. Unzufriedenheit, Gereiztheit, Erschöpfung, ungesunde Verhaltensweisen (etwa Alkohol- oder Drogenmissbrauch als Versuch des Reduzierens der eigenen Anspannung), ein Gefühl der Daueranspannung oder sogar eine ängstlich-depressive Verstimmung lassen sich hier bei manchen hochsensiblen Männern als Konsequenz beobachten.
Daraus resultieren meist folgende Entwicklungsaufgaben: Das Verbessern der eigenen Selbstfürsorge, der Ausdruck emotionaler Bedürfnisse und eigener Grenzen gegenüber anderen, sich mehr Auszeiten und Ruhe zu gönnen und konkrete Veränderungen im Alltag vorzunehmen, um mehr das Gefühl zu haben, das eigene Leben als hochsensibler Mann wahrhaftig und authentisch leben zu können.
ÜBUNG
Fragen zu typischen Problembereichen im Alltag
Bevor wir uns im zweiten Teil des Buches mit diesen Herausforderungen praktisch auseinandersetzen, möchte ich Sie zunächst an dieser Stelle bitten, sich zu überlegen, ob auch bei Ihnen die drei Problembereiche Übererregung und emotionale Intensität, Selbstwert und Selbstakzeptanz sowie Lebensstil und Selbstfürsorge auftauchen. Und wenn ja, mit welchem dieser Bereiche hadern Sie in Ihrem Leben derzeit am meisten?
Lassen Sie mich Ihnen dazu einige Fragen stellen, für die es keine richtigen oder falschen Antworten gibt, die Ihnen aber beim Nachdenken helfen können:
Nehmen Sie sich etwas Zeit und denken Sie in Ruhe über die Fragen nach und machen sich ein paar Notizen. Manchmal hilft uns das bereits, erste Veränderungswünsche, die bisher nur als vage Ideen oder Vermutungen existierten, zu konkretisieren.
Neben den drei genannten Problembereichen kann es natürlich noch weitere Herausforderungen im Alltagsleben geben, wie etwa die hohe sensorische Empfindlichkeit gegenüber Geräuschen, Licht, Gerüchen oder Temperaturen. Hier beobachte ich jedoch oft, wie etwa bei dem Beispiel des Therapeutenteams in der Londoner Klinik, dass hochsensible Menschen schnelle und gute Lösungen finden, die Situation zu verändern oder zu umgehen, wie etwa das Tragen von Ohrstöpseln, der Umzug in eine ruhige Wohngegend, das Verändern der Lichtverhältnisse oder das ausschließliche Kaufen von Kleidung aus bestimmten Materialien.
Die von mir genannten drei Problembereiche Übererregung / emotionale Intensität, Selbstwert / Selbstakzeptanz und Lebensstil / Selbstfürsorge sind jedoch in der Regel hartnäckiger und bestehen meist seit vielen Jahren oder werden bereits seit der Kindheit oder der Jugend als problematisch erlebt. Hierfür lassen sich oft keine schnellen, kreativen Lösungen finden, denn die hier angestrebten Veränderungen stellen einen längeren inneren Prozess dar, der von Ihnen Geduld und Mut verlangt.
Lassen Sie uns zum Abschluss des Kapitels noch anschauen, was Hochsensibilität nicht ist und wie Sie sie von einigen psychischen Störungen gut abgrenzen können. Wie bereits erwähnt, kann ein hochsensibles Temperament mit einer psychischen Störung zwar einhergehen, ist aber keine psychische Störung an sich.
Definitionen dessen, was in unserer Gesellschaft als psychisch „krank“ oder psychisch „gesund“ eingestuft wird, sind nicht immer ganz einheitlich, teilweise subjektiv und durch den gesellschaftlichen Wandel und die öffentliche Meinung veränderbar. So wurde etwa Homosexualität bis 1973 in den USA offiziell als psychische Erkrankung diagnostiziert, während die Soziale Phobie bis 1980 keine offizielle Diagnose der American Psychiatric Association (APA) war. Wenn wir von einer psychischen Störung sprechen, dann gehen wir aber im Allgemeinen von einer Ansammlung von kognitiven (also die Wahrnehmung, das Erinnern und Denken betreffenden), emotionalen und behavioralen (also auf das Verhalten bezogenen) Symptomen aus, die bei der betroffenen Person zu einem deutlichen Leidensdruck führen und mit Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen einhergehen.
In seinem Wesen besonders empfindsam und feinfühlig zu sein ist zwar nicht immer leicht und mag sich in bestimmten Situationen des Alltags manchmal wie eine große Herausforderung oder ein Nachteil anfühlen, aber es führt nicht zwangsläufig zu einem hohen Leidensdruck oder zu einer Beeinträchtigung in wichtigen Funktionsbereichen. Das ist wichtig zu beachten.
Hochsensible Menschen, wenn sie psychisch gesund sind, sind genauso belastbar wie nicht hochsensible Menschen – hier macht viel mehr die Art der Belastung den Unterschied. Schauen wir uns das anhand eines Beispiels an: Zwar ist es durchaus denkbar, dass ein hochsensibler Mann an einem für ihn „unpassenden“ Arbeitsplatz schneller mit einer depressiven Verstimmung, Erschöpfung oder Stimmungsschwankungen reagiert, als dies ein nicht hochsensibler Mann am gleichen Arbeitsplatz tun würde, weil er mit den dortigen Arbeitsbedingungen besser zurechtkommt. Doch macht diese höhere Empfindsamkeit gegenüber der Umwelt den hochsensiblen Mann nicht automatisch krank, denn es gibt andere, zu seinem Temperament „passendere“ Arbeitsbedingungen, unter denen er aufblühen würde. Die Tatsache, dass eine hohe Empfindsamkeit auch bedeutet, dass man stärker auf positive Reize, Erfahrungen, Beziehungen und Ereignisse reagiert, sollte an dieser Stelle ebenfalls erneut erwähnt werden. Deshalb, weil dies ein wichtiger Bestandteil der psychischen Widerstandsfähigkeit des Menschen (die sogenannte Resilienz) darstellt. Ebenso bin ich der Meinung, dass eine höhere Empfindsamkeit und Reaktivität auf die Umwelt und andere Menschen sogar einen Schutzfaktor für psychische Gesundheit darstellen kann, weil hochsensible Menschen schneller spüren und registrieren, wenn etwas in ihrer Umwelt für sie nicht stimmt oder ihnen nicht guttut. Dies ist eine wichtige Voraussetzung für eine potenzielle Modifikation des eigenen Verhaltens – sei es am Arbeitsplatz, in Beziehungen oder beim Treffen von Entscheidungen.
Manchmal werde ich in meiner Praxis von Klienten aufgesucht, die über Hochsensibilität gelesen haben, sich in dem Konzept wiedererkennen und der Meinung sind, dass sie damit eine Erklärung für ihre erlebten Schwierigkeiten und Probleme gefunden haben. Wenn wir uns dann jedoch im Verlauf von einigen Sitzungen ihre Probleme genauer anschauen, wird durch die Diagnostik und Problemexploration oft deutlich, dass zwar ein hochsensibles Temperament vorliegen mag, jedoch von einer akuten psychischen Störung überlagert wird, die zunächst dringend therapiert werden muss. Es kommt auch vor, und das nicht selten, dass ich nicht alle vier DOES- Indikatoren für Hochsensibilität bei der Person feststellen kann und ich auch sonst keine Anzeichen auf Hochsensibilität in der Präsentation des Klienten wahrnehmen kann. Stattdessen leidet die Person jedoch deutlich an einer psychischen Störung, ist selbst aber fest davon überzeugt, eigentlich „nur hochsensibel“ zu sein. Die Unterschiede zwischen einem hochsensiblen Temperament und allen psychischen Störungen, die im ICD-10, dem derzeitigen Diagnosemanual der Weltgesundheitsorganisation (WHO), aufgelistet sind, nun zu erläutern, würde an dieser Stelle natürlich zu weit führen.75 Trotzdem möchte ich Ihnen einen kurzen Überblick geben, mit welchen psychischen Störungen bei Erwachsenen, meiner Erfahrung nach, Hochsensibilität am häufigsten verwechselt wird:
Affektive Störungen
Bei den sogenannten affektiven Störungen handelt es sich um Erkrankungen, die sich in einer Veränderung der Stimmung äußern, entweder als Depression – mit oder ohne begleitende Angst – oder als gehobene Stimmung (Manie oder die abgeschwächte Form der Hypomanie).
Im Mittelpunkt einer depressiven Erkrankung stehen gedrückte Stimmung, Verminderung von Antrieb, der Verlust von Konzentration und Interessen. Häufig kommt es außerdem zu Schlafstörungen (etwa in Form von Früherwachen), Libidoverlust, Verlust des Selbstvertrauens und des Appetits bis hin zu Gedanken an Tod und Selbstmord.
Wie wir aus der Forschung wissen, neigen hochsensible Menschen nur dann stärker zu Depressionen, wenn sie eine schwierige Kindheit hatten. Wenn wir die beschriebenen Symptome von depressiven Erkrankungen mit den Eigenschaften und Indikatoren der Hochsensibilität vergleichen, werden die Unterschiede schnell deutlich. Gegebenenfalls haben beide eine gewisse „Dünnhäutigkeit“, fehlendes Selbstvertrauen und eine Tendenz zum sozialen Rückzug gemeinsam, aber auch hier muss man zwischen einer für die Person eher untypisch und oft schleichend auftretenden Symptomatik und einem generellen, dauerhaft existierenden Wesenszug unterscheiden. Gedanken an Selbstmord, Verlust von Freude und Alltagsaktivitäten nicht mehr bewältigen zu können hat nichts mit einer Temperamenteigenschaft zu tun, sondern ist ein klares Indiz für eine ernsthafte psychische Erkrankung.
Soziale Phobie
Unter einer Sozialen Phobie versteht man die deutliche Furcht, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen. Das führt häufig zu einem Vermeiden von Situationen, bei denen die Angst besteht, sich peinlich oder erniedrigend zu verhalten. Oft ist eine Soziale Phobie mit einem niedrigen Selbstwertgefühl und Angst vor Kritik und negativer Beurteilung durch andere verbunden. Es können Angstsymptome wie Zittern, Erröten, Übelkeit oder Drang zum Wasserlassen auftreten. Es liegt eine deutliche emotionale Belastung durch die Angstsymptome oder das Vermeidungsverhalten vor, und die Symptome beschränken sich ausschließlich auf die gefürchteten sozialen Situationen oder Gedanken an diese. Man könnte also die Soziale Phobie als die große Schwester der nicht pathologischen Schüchternheit oder des verbreiteten „Lampenfiebers“ sehen, das sicher die meisten von Ihnen kennen.
Wie wir wissen, sind über zwei Drittel aller hochsensiblen Menschen introvertiert, und viele von ihnen sind auch schüchtern, vorausgesetzt, sie hatten negative Erfahrungen in Ihrer Kindheit76. Wenn wir das damit kombinieren, dass hochsensible Menschen auf subtile Reize, darunter auch die zwischenmenschlichen Reize, schneller und stärker reagieren, liegt es nahe, dass das daraus resultierende Verhalten sozial ängstlich oder schüchtern wirken kann oder sie in manchen Situationen tatsächlich auch mit sozialer Angst reagieren. Wenn wir allerdings von der psychischen Störung Sozialer Phobie sprechen, dann bedarf es zusätzlich einer deutlichen emotionalen Belastung durch die klar definierten, oben genannten Angstsymptome und durch das daraus entstehende Vermeidungsverhalten, um eine Diagnose zu rechtfertigen. Dennoch sollte an dieser Stelle die Theorie erwähnt werden, dass Hochsensibilität oder Sensory Processing Sensitivity (SPS) als wissenschaftlicher Begriff eine angeborene Temperamenteigenschaft ist, die einen Risikofaktor für die Entwicklung einer Sozialen Phobie darstellen könnte. Eine Studie zu SPS mit sozial phobischen Menschen konnte zwar keine Korrelation zwischen SPS und sozialer Ängstlichkeit finden, doch scheint hier mehr Forschung notwendig zu sein, um einen möglichen Zusammenhang besser zu verstehen.77
Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)
Im ICD-10 wird eine Posttraumatische Belastungsstörung als „eine verzögerte oder protrahierte [über eine längere Zeit hinweg wirkende] Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde“, beschrieben.78 Auftretende Symptome sind u. a. sich aufdrängende Erinnerungen in Form von Nachhallerinnerungen, Flashbacks, Träumen oder Albträumen, Gefühle von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit, Teilnahmslosigkeit, Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten, aber auch ein Zustand vegetativer Übererregtheit, übermäßige Schreckhaftigkeit und Schlafstörungen. Häufig kann man auch Angst und Depression sowie Gedanken an Suizid beobachten.
Die Hochsensibilitätsforschung verweist auf die genetische Komponente von Sensibilität als angeborene Temperamenteigenschaft, die evolutionär sinnvoll ist und sich bereits im Säuglingsalter zeigt. Auch Kinder mit einer „guten“ Kindheit, ohne deutliche Belastungen oder Bindungsabbrüche mit wichtigen Bezugspersonen, zeigen Eigenschaften eines hochsensiblen Temperaments. Das spricht gegen das Argument, dass Hochsensibilität, wie sie von Aron definiert wird, ausschließlich die Konsequenz einer Traumatisierung sei. Die mit der Traumatisierung im Zusammenhang stehenden Symptome einer psychischen Sensitivität und Erregung waren vor der Belastung beim Betroffenen nicht vorhanden und treten oft in Situationen auf, die der Belastung ähneln oder mit ihr im Zusammenhang stehen. Dies ist bei Hochsensibilität nicht der Fall, wo die Tendenz zur Übererregung deutlich breiter gestreut ist und langfristig besteht. Außerdem zeigen traumatisierte Menschen, anders als hochsensible Menschen, weder zwangsläufig ein außerordentlich hohes Maß an Empathie noch eine dauerhafte tiefere Informationsverarbeitung.
Persönlichkeitsstörungen (PST): Emotional instabile (Borderline-Typ), ängstlich vermeidende und narzisstische PST
Persönlichkeitsstörungen werden als „schwere Störungen der Persönlichkeit und des Verhaltens der betroffenen Person“ verstanden. „Sie erfassen verschiedene Persönlichkeitsbereiche und gehen beinahe immer mit ausgeprägten persönlichen Leiden und sozialen Beeinträchtigungen einher. Persönlichkeitsstörungen treten meist in der Kindheit oder in der Adoleszenz in Erscheinung und bestehen während des Erwachsenenalters weiter“.79 Bezüglich der verschiedenen Persönlichkeitsstörungen möchte ich zunächst Hochsensibilität von der Borderline-Persönlichkeitsstörung abgrenzen, die von emotionaler Instabilität, mangelnder Impulskontrolle, Störungen des Selbstbilds, chronischer Leere und oft selbstdestruktivem Verhalten geprägt ist. Auch wenn hochsensible Menschen ebenfalls die Tendenz zur emotionalen Intensität aufzeigen, ist aus klinischer Sicht das Level an Wut und Ärger, die Angst vor dem Verlassenwerden sowie die Tendenz zu Impulsivität etwas, das wir bei Borderline-Patienten sehen können, das aber bei psychisch stabilen hochsensiblen Menschen nicht der Fall ist. Hochsensible Menschen neigen in der Regel nicht zur Impulsivität und selbstverletzenden Handlungen.
Wenn die Soziale Phobie die große Schwester der nicht pathologischen Schüchternheit ist, dann ist die ängstlich vermeidende Persönlichkeitsstörung die Mutter der beiden. Gekennzeichnet von andauernder und umfassender Anspannung und Besorgtheit, der Überzeugung, sozial unbeholfen, unattraktiv oder minderwertig zu sein, und der Sorge, in sozialen Situationen kritisiert oder abgelehnt zu werden, führt diese Störung bei Betroffenen zu einem eingeschränkten Lebensstil und zur Vermeidung von beruflichen oder sozialen Aktivitäten aus Angst vor Missbilligung. Potenzielle Überschneidungen zur Hochsensibilität sehe ich in der Selbstwertproblematik, die viele hochsensible Männer beschreiben, und der Tendenz, sich in manchen sozialen Situationen unwohl oder übererregt zu fühlen, mit der möglichen Tendenz des Rückzugs. Der Unterschied ist aber auch hier wieder die Stärke der beschriebenen Symptome und die hohe zeitliche Stabilität des Auftretens. Außerdem reagieren hochsensible Menschen mit starken positiven wie negativen Gefühlen ganz allgemein im Leben und nicht nur mit ängstlichen Gefühlen in sozialen Situationen, in denen eine mögliche Abwertung droht. Ebenso ist die zu beobachtende sensorische Empfindlichkeit kein Diagnosekriterium bei der ängstlich vermeidenden Persönlichkeitsstörung.