Für Conny, Rebecca und Tobias
Copyright 2011 Franz-Rudolf Woll, 2. Auflage 2015
Titelfoto: Franz-Rudolf Woll
Verlag: Premieren-Verlag, 91541 Rothenburg
Druck: Books-on-Demand GmbH-Verlag, Norderstedt
ISBN: 978-3-8448-3797-1
„In welcher Art mit dem Farbigen verkehren?
Soll ich ihn als gleich, soll ich ihn als unter mir stehend behandeln?
Ich soll ihm zeigen, dass ich die Menschenwürde in jedem achte.“
Albert Schweitzer, Gesammelte Werke, Bd. I, S. 435f.
“Überall fand ich immer wieder Menschen in Gemeinden und Krankenhäusern, Schulen und Sozialeinrichtungen, die im Geiste des Nazareners sich engagieren und bei allen Schwächen unendlich viel Gutes tun…. An allen Fronten der Welt habe ich Seelsorger getroffen, die sich aufreiben im Dienst an den Menschen. Ungezählte Männer und Frauen, die sich einsetzen für Junge und Alte, für Arme, Kranke, Zukurzgekommene, Gescheiterte.”
Hans Küng, Ist die Kirche noch zu retten?, Piper-Verlag München, 2011, S. 63f.
“Im Jahr 2011 überschreitet die Weltbevölkerung nach Angaben der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung die Sieben-Milliarden-Grenze. Rund 80 Millionen Menschen mehr als im Jahr zuvor. Wachstum besonders in den Entwicklungsländern, wo 82 % der Weltbevölkerung leben. Höchster Bevölkerungsanstieg in Afrika.”
Hans Küng ebd., S. 145f.
Das folgende Buch ist entstanden auf der Basis persönlicher Aufzeichnungen in den Jahren 1976 und 2005. Beide Male habe ich Tansania, genauer gesagt den Süden Tansanias, das Gebiet des Makonde-Stammes, besucht. Der Ort war beide Male derselbe, nämlich Ndanda, tansanische Ortschaft und zugleich Missionsstation der Missionsbenediktiner.
Die Reise dorthin und die Arbeit vor Ort tragen auf den ersten Blick nicht den Charakter von Abenteuerhaftem, weshalb dieses Buch auch keine Reiseerzählung im üblichen Sinne ist. Denn Reisen in unseren Tagen sind etwas Alltägliches geworden, wenn es sich nicht gerade um eine außergewöhnliche Reise wie eine Tour per Fahrrad zum Nordpol, eine Kajaktour über den Atlantik oder einen Pferderitt durch die Sahelzone handelt.
In diesem Sinn geht es also in diesem Buch nicht um Abenteuer.
In beiden Fällen liegt das Besondere der Reisen darin, dass es keine Reisen zur Erholung und vordergründig auch keine nur zur Ergründung einer fremden Kultur waren. Die Reisen waren der „Zubringer“ für medizinische Arbeit in einem Missionshospital. Das Abenteuer, wenn man überhaupt von Abenteuer sprechen kann, bestand darin, sich überhaupt für die Arbeit dort zu entscheiden. Erstmals 1976, noch als Medizinstudent, sich vor Ort den medizinischen Anforderungen zu stellen, die teilweise auf einen jungen Europäer sehr fremdartig wirken mussten, darin lag das Besondere. Nicht minder beim zweiten Mal 2005, als längst fertiger und niedergelassener Facharzt für Allgemeinmedizin.
War es beim ersten Mal noch das Neue und Unbekannte für einen jungen Mittzwanziger, den fremde Völker und Kulturen reizten, so war es beim zweiten Mal auch das Motiv - zumindest für ein paar Wochen -, der gut situierten deutschen Medizin und den endlosen Diskussionen über sie zu entfliehen, um deren Wert und Qualität handgreiflich wieder neu zu spüren. Aber auch, um mal wieder hoffentlich Medizin ohne aufreibende Bürokratismen zu erleben, also dem Zentrum medizinischen Arbeitens näher zu kommen. So ganz en passant würde sich mein Horizont erweitern; denn wo und wie kann man der Seele eines Volkes näher kommen als am Krankenbett?
Freimütig gebe ich zu, dass beide Male über allem auch ein bisschen der Geist eines Albert Schweitzer schwebte - seinerseits wiederum auf meinem Erststudium der Theologie basierend -, auch wenn seine damalige Tätigkeit in Afrika und moderne medizinische Arbeit in einem bereits gut funktionierenden Hospital neueren Datums total unterschiedlich sind. Der Geist eines Albert Schweitzer ist wohl eher in der persönlichen Motivlage zu suchen und auch zu finden.
Darüber hinaus war es reizvoll, Unterschiede zwischen 1976 und 2005 zu beobachten, weswegen die meisten Kapitel des Buches diese Unterschiede der beiden Jahre 1976 und 2005, also eine Distanz von fast dreißig Jahren, einander gegenüber stellen.
„Habari gani? Wie geht es?“
Gereist bin ich nach Afrika per Flugzeug und Auto, zurück gelegt haben aber auch viele Patienten einen langen und meist sicher anstrengenderen Weg als ich zum Hospital - nämlich zu Fuß.
Seit Kindheitstagen hatte Afrika es mir angetan. Für Asien, Südamerika oder andere Länder der sogenannten Dritten Welt konnte ich nie besonderes Interesse bei mir feststellen.
An diesem sonnigen Morgen in der veranstaltungsfreien Zeit der Universität saß ich nach dem Frühstück mit meiner Mutter zusammen am Küchentisch, als mir eine Ausgabe des „ruf in die zeit“ in die Hände fiel. Ich blätterte die Informationszeitschrift der Münsterschwarzacher Benediktiner zunächst oberflächlich durch, als meine Aufmerksamkeit unvermittelt durch ein Photo und den dazu gehörenden Artikel in Beschlag genommen wurde.
Zu sehen war das Bild einer Frau in Nonnentracht mit der Bildunterschrift „Sr. Dr. med. Birgitta Schnell OSB. Leitende Chirurgin des Missionskrankenhauses der Benediktiner in Ndanda ( Tansania )“. Der von ihr verfasste Artikel handelte von ihrer Tätigkeit als Chirurgin im Süden Tansanias, wo die vom Rhein stammende Chirurgin seit vielen Jahren tätig war.
Zu meiner Mutter gewandt sagte ich: „Du, ich glaube, ich hab den richtigen Platz für meine nächste Famulatur gefunden! In Afrika nämlich!“
Kritisch dreinblickende Augen meiner Mutter verrieten mir, was sie dachte und dann auch zu mir sagte: „Einen entfernteren Ort für die Famulatur hast Du wohl nicht finden können? Afrika? Warum ausgerechnet dort? Willst Du unbedingt in einem großen Suppentopf landen? Woher hast Du nur dieses Zigeunerhafte? Von uns sicher nicht.“
In der Tat, so dachte man vielfach noch im letzten Jahrhundert. Afrika gleich Kannibalismus.
Mich hatte es schon immer in die Fremde gezogen. Raus aus dem dörflichen Ambiente meines Heimatortes, nicht aus Verachtung ihm gegenüber, sondern mehr aus allgemeinem Wissensdurst.
Nachdem ich mein Theologiestudium (in Trier und Strasbourg) Mitte 1973 mit dem Diplom in Trier abgeschlossen hatte, folgte unmittelbar das Medizinstudium ab dem Herbst 1973 an der Universität Saarbrücken bzw. an der dazu gehörenden medizinischen Fakultät in Homburg. Heute bin ich mir sicher, dass die Beschäftigung mit dem Sinn des Lebens, Horizonterweiterung, karitative Motive und das Bedürfnis, anderen ein bisschen vom eigenen Wohlstand in dieser Form abzugeben, mitentscheidend waren bei der Wahl einer Famulatur in einem der ärmsten Länder Afrikas. Die Einflüsse des voran gegangenen Theologiestudiums sind unverkennbar.
Zum Zeitpunkt der Lektüre dieses Missionsblättchens aus Münsterschwarzach im Sommer 1975 hatte ich also gerade ein Jahr der klinischen Semester des Medizinstudiums hinter mich gebracht. Um Theologie und Medizin beruflich sinnvoll miteinander verbinden zu können, schwebte mir damals durchaus als eine mögliche Option eine Tätigkeit als Tropenmediziner in einem Land der sogenannten „Dritten Welt“, vor allem in Afrika, vor. Ich denke, es waren Vorstellungen eines Lebens, wie es von einem Albert Schweitzer, wenn auch auf höherem Niveau, praktiziert wurde. Theologiestudium in Verbindung mit Medizin, und dazu noch Interesse für klassische Musik, sogar mit aktiver Ausübung als Geiger. Diese Trias hatte Albert Schweizer auch geprägt.
Während meine Mutter diesem Aufenthalt in Afrika von Anfang an eher kritisch gegenüber stand - ich hatte in der Zeit des Medizinstudiums wieder mein ehemaliges Zimmer im elterlichen Haus bezogen - und dies auch deutlich zum Ausdruck brachte, wurde mein Plan, wenigstens eine Famulatur in Afrika zu absolvieren, durch den Artikel von Sr. Dr. Birgitta schnell deutlich befördert.
In den folgenden Stunden las ich den eben erwähnten Artikel bestimmt mehr als zehn Mal immer wieder durch und malte mir vor meinem geistigen Auge die Arbeit als Missionsarzt aus. Dadurch empfand ich nach kurzer Zeit ein Gefühl der Vertrautheit mit Ndanda, diesem Ort an der Grenze zwischen Tansania und Mozambique, als ob ich schon einmal dort gewesen sei.
Zu einer Zeit, als es noch keine E-Mails gab, schritt ich schnellstens zur Tat, kramte meine Schreibmaschine hervor und schrieb einen Brief an Sr. Birgitta in Ndanda, in dem ich mich vorstellte und von meinen Plänen berichtete. Ich hoffte natürlich auf positive Nachricht von ihr. Wenn aber nicht, so sollte es wohl so sein, dass ich mein Vorhaben begraben müsse.
Briefe von und nach Afrika waren damals, Mitte der Siebziger, einige Wochen unterwegs. Zwischenzeitlich hatte ich meine Pläne sogar wieder ad acta gelegt, als sechs Wochen später tatsächlich ein Brief von Sr. Birgitta eintraf, in dem sie in sehr freundlicher Art und Weise nicht nur alle meine über den Artikel hinaus gehenden Fragen beantwortete, sondern mir auch eine klare Zusage gab, dass man mich gerne in Ndanda begrüßen würde.
Ich war ganz aus dem Häuschen, schwenkte den Brief überschwänglich vor den Augen meiner Mutter hin und her, die nun feststellen musste, dass es mir Ernst war mit meinen Plänen, zumal sie mitbekommen hatte, dass ich meinen Freund und Semesterkollegen Bernd, heute Oberarzt der Kinderklinik Neunkirchen/Kohlhof, auch zu diesem Trip hatte motivieren können.
Alles wurde von langer Hand geplant. Vor allem wollten wir medizinisch optimal vorbereitet an das Unternehmen „Ndanda“ herangehen.
Also meldeten wir uns erst einmal zu einer vorgeschalteten Famulatur am Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin und dem daran angeschlossenen Krankenhaus in Hamburg an, wozu die nächsten kleinen Semesterferien herhalten mussten. Von den typischen Krankheiten, wie sie in den Tropen zu erwarten waren, lernt man nämlich während des normalen Medizinstudiums sehr wenig. Und so erwiesen sich diese Wochen in Hamburg als fruchtbringendes Intermezzo im Kreise hochtalentierter Ärzte und der international geprägten Patientenschar.
Nach weiteren Monaten der Vorbereitung sollte es dann Anfang September 1976 endgültig losgehen. Wir hatten uns bewusst für das Ende der Trockenzeit entschieden; in der Regenzeit muss man mit dem Versinken im Schlamm rechnen. Und das wollten wir uns nicht antun.
Die entsprechenden Impfungen gegen Gelbfieber, Tetanus, Diphtherie, Polio, Cholera und Typhus ließen wir uns direkt am Tropeninstitut verpassen, die damalige Malariaprophylaxe bestand aus Resochintabletten, die vor, während und nach unserer Afrikatour, eingenommen werden mussten.
Unsere größte Angst war, wie wir uns gegen Schlangenbisse schützen könnten. Zur Vorbereitung gehörte deshalb der Kauf von sogenannten Boots, die bis zur Hälfte der Unterschenkel reichten. Gott sei Dank hatten wir auch an einen großen breitkrempigen Sonnenhut gedacht, der sich als sehr nützlich erweisen sollte. Wir gaben so eher das Bild eines Einzelkämpfers ab als das eines medizinischen Helfers. Die Angst meiner Mutter - im Suppentopf zu landen - und die eigene Angst - mörderische Schlangen auf Schritt und Tritt - waren so weit nicht voneinander entfernt. Auf jeden Fall waren beide Befürchtungen nicht zutreffend. Den Flug mit EGYPT AIR von Frankfurt über Nairobi nach Daressalam zahlten wir aus eigener Tasche, erhielten aber im Nachhinein einen Zuschuss von der AGEH, bzw. dem DAAD1.
Viele Jahre später, als ich längst schon als Allgemeinarzt in einer Gemeinschaftspraxis bei Trier tätig war, fragte mich mein ehemaliger Chef einer urologischen Abteilung, mit dem ich seit meiner Tätigkeit in seiner Abteilung auch freundschaftlich verbunden war, ob ich nicht Lust hätte, mit ihm zusammen in einem Krankenhaus in Tansania einige Wochen zu arbeiten. Ein anderer Kollege, der selbst mehrere Jahre in Tansania tätig gewesen sei, habe ihn auf die Idee mit Tansania gebracht. Nach einigen Gesprächen stellte sich heraus, dass es zufällig um das gleiche Krankenhaus in Ndanda ging, das ihm da ans Herz gelegt worden war, in dem ich 1976 schon famuliert hatte. Dieser Kollege war nicht direkt in Ndanda, aber in Mnero - in der Nähe Ndandas - als Chirurg tätig gewesen und hatte meinem Freund und ehemaligen Chef Rudolf die dortige Arbeit in den eindrucksvollsten Farben geschildert. Rudolf war mittlerweile aus dem aktiven Praxisdienst ausgeschieden, berentet und auf der Suche nach sinnvoller Betätigung.