Zur Ruhe kommen

Geschichten und Gedichte

Ausgewählt von Clara Paul

Insel Verlag

Inhalt

Das Erlebnis der Stille

Umberto Eco
Auf dem Weg zum Jahrtausend des Lärms. Werden wir uns Stille in Päckchen kaufen?

Max Frisch
Die Stille

Ralf Rothmann
Der klare Grund aller Erscheinungen

Mascha Kaléko
Gesucht: Ein Irgendwo von dazumal …

Andrzej Stasiuk
Ruhe

Hermann Hesse
Die Stille der Nacht

Wilhelm Schmid
Vom Segen der Stille

Teju Cole
Im Museum

Cees Nooteboom
Das Mädchen mit dem roten Hut

Wisława Szymborska
Vermeer

Erling Kagge
Stille des Geistes

Hans Magnus Enzensberger
Unter der Hirnschale

Rainer Maria Rilke
Wenn es nur einmal so ganz stille wäre

Teju Cole
Das Konzert

Erling Kagge
Das Fehlen von Tönen

Cees Nooteboom
Paradies am Rand der Zeit

Endlich Ruhe!

Cees Nooteboom
Stuhl

Julio Cortázar
Die guten Investitionen

Rainer Maria Rilke
Ein volles Schaufenster

Heinrich Böll
Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral

Italo Calvino
Das Pfeifen der Amseln

Wilhelm Schmid
Kunst der Stille, Formen des Schweigens

Eugen Gomringer
Schweigen

Hans Magnus Enzensberger
Wo sich Pilatus die Hände wusch

Robert Gernhardt
Von der Ruhe

Bewegung und Ruhe

Cees Nooteboom
Einheit der Gegensätze

Bertolt Brecht
Über die Ruhe

Peter Handke
Ich bin, während ich hier bin, woanders

Peter Handke
Im Licht der Müdigkeit

Marco Lodoli
Hotel Plaza

Erling Kagge
Den richtigen Weg finden

Amos Oz
Eine Stadt wie keine andere auf der Welt

Teju Cole
Beten

Marco Lodoli
Beim Umherschweifen in den Straßen Roms

Bertolt Brecht
Die Ruhe

Kurt Tucholsky
Irgendwas ist immer

Eva Strittmatter
Vor einem Winter

Peter Bichsel
Die heilige Zeit

Rainer Maria Rilke
Schnee

Robert Walser
Der Schnee

Johannes Roth
Was macht der Gärtner im Winter

Thomas Rosenlöcher
Die Sträucher

Anleitungen zum Entspannen

Axel Hacke
Entspannt Euch!

Lars Mytting
Holzhacken

Ella Berthoud & Susan Elderkin
Stress

Tom Hodgkinson
Das Flanieren

Erich Kästner
Die Wälder schweigen

Joachim Ringelnatz
Sommerfrische

Wilhelm Schmid
Ganz selbstvergessen

Alain
Die Kunst, zu gähnen

Lily Brett
Wie man sich bettet

Dan Kieran
In einer Hängematte liegen

Wilhelm Schmid
Der Trägheit frönen

Andrea Köhler
Pause am Tage: Stunde des Pan

Joachim Ringelnatz
Psst!

Tom Hodgkinson
Das Mittagsschläfchen

Dan Kieran
Warten, dass der Tee zieht

Dan Kieran
Abtauchen

Angela Krauß
Sei ganz ruhig

Quellenverzeichnis

Das Erlebnis der Stille

»Ich liebe diese Stunde, die anders ist, kommt und geht. Nein, nicht die Stunde, diesen Augenblick liebe ich, der so still ist. Diesen Anfangs-Augenblick, diese Initiale der Stille, diesen ersten Stern, diesen Anfang.«

Rainer Maria Rilke, Fragment von den Einsamen

Umberto Eco

Auf dem Weg zum Jahrtausend des Lärms

Werden wir uns Stille in Päckchen kaufen?

Stille ist ein Gut, das langsam verschwindet, auch aus den eigens für sie bestimmten Orten.

Ich weiß nicht, wie es in den tibetanischen Klöstern zugeht, aber ich war vor kurzem in einer großen Mailänder Kirche, in die man treffliche Gospelsänger eingeladen hatte. Stufenweise, mit Effekten nach Art einer Disko in Rimini, zogen sie die Gläubigen in eine Andacht hinein, die vielleicht mystisch war, aber in puncto Dezibel an den innersten Höllenkreis denken ließ. Als es mir zu viel wurde, bin ich gegangen, auf den Lippen die alte Formel »Non in commotione, non in commotione Dominus!« (was so viel heißt wie: Gott mag vielleicht allgegenwärtig sein, aber er ist schwerlich an Orten der allgemeinen Erregung zu finden).

Meine Generation tanzte zur gesäuselten Musik der Frank Sinatras und Perry Comos, diese muss sich mit Ecstasy vollpumpen, um die Geräuschpegel der Saturday Nights auszuhalten. Sie hört Musik in Fahrstühlen, trägt sie in Kopfhörern mit sich herum, hört sie beim Autofahren (zugleich mit dem Motorgebrumm) und arbeitet mit Musik im Hintergrund, während durchs offene Fenster der Verkehrslärm hereindringt.

Wir sind umgeben von Leuten, die terrorisiert von der Stille fortwährend nach freundlichen Tönen in ihren Mobiltelefonen suchen.

Vielleicht werden ja künftige Generationen besser für den Lärm ausgestattet sein, aber nach allem, was ich über die Evolution der Arten weiß, dauern solche Anpassungen gewöhnlich Jahrtausende, und auf ein paar Individuen, die sich anpassen, kommen Millionen, die unterwegs zugrunde gehen.

Nach dem schönen autofreien Sonntag am 16. Januar, als die Leute in den großen Städten auf Rollschuhen oder zu Pferde flanierten, hat der Dichter Giovanni Raboni im Corriere della Sera notiert, wie sich die Bürger beim Gehen auf den Straßen einer plötzlich wiedergefundenen magischen Stille erfreuten. Das ist wahr. Aber wie viele sind auf die Straße gegangen, um diese plötzliche Stille zu genießen, und wie viele sind grollend zu Hause geblieben, vor dem voll aufgedrehten Fernsehgerät?

Stille ist im Begriff, ein sündhaft teures Gut zu werden, tatsächlich steht sie schon jetzt nur noch Wohlhabenden zur Verfügung, die sich Villen im Grünen leisten können, oder hären gewandeten Mystikern im Gebirge, die sich dann so sehr am Schweigen der Gipfel berauschen, dass sie den Kopf verlieren und in Felsspalten stürzen, mit der Folge, dass die ganze Gegend vom Getöse der Rettungshubschrauber erfüllt wird.

Es wird noch so weit kommen, dass diejenigen, die den Lärm nicht mehr aushalten können, sich Stille in Päckchen kaufen, eine Stunde in einem abgedichteten Zimmer wie dem von Marcel Proust, für den Preis eines Parkettsesselplatzes in der Mailänder Scala.

Als Hoffnungsschimmer notiere ich ‒ die Listen der Vernunft sind unendlich ‒, dass abgesehen von jenen, die den Computer benutzen, um sich ohrenbetäubende Musik herunterzuladen, alle anderen die Stille noch genau vor dem lumineszierenden Bildschirm finden können, bei Tag und bei Nacht, am besten, indem sie auch die Pieptöne und kleinen Musiken ausschalten, die den Start eines Programms begleiten.

Sie werden vielleicht süchtig nach Internetsurfen, und das ist ein anderes Problem, aber sie dürfen ein paar Stunden Ruhe genießen.

Der Preis dieser Ruhe wird sein, auf den Kontakt mit ihresgleichen zu verzichten. Aber das war es schließlich auch, was einst die heiligen Väter der Wüste taten.

Max Frisch

Die Stille

Sonderbar ist die Stille, die einen keuchenden Kletterer auf dem Gipfel empfängt, eine Stille, die nicht auf ihn gewartet hat, die sich nicht um seine Ankunft kümmert und ihn auf eine unheimliche Weise fast verlegen macht, jetzt, da er sein Streben erfüllt hat und stolz sein möchte, eine Stille, die nichts von Ehrgeiz weiß …

Endlich schnallt er seinen Rucksack ab. Wie am ersten Tag, als Gott das Licht schuf, so blendet das weiße Gebirge ringsum, das sich in den hohen und blauen Himmel zackt, so klar und scharf und spitz wie lauter Kristalle, Gipfel neben Gipfel, so weit man schaut, wie Gottes steile und silberne Handschrift, hingeschrieben an den glühenden Rand dieser Welt!

Später, als er sich Stirn und Hals und Arme eingeschmiert hat und endlich seine Sonnensalbe wieder versorgt, denkt er vielleicht auch einen Augenblick lang an die junge Fremde, die ihn gestern im Bach gesehen hat; aber nur einen Augenblick lang ‒

Es ist, als löse sie alles Denken auf, diese Stille, die über der Welt ist; man hört nur noch sein eignes Herz, das klopft, oder mitunter den Wind, der in den Ohrmuscheln saust. Und wenn einmal eine schwarze Dohle um die Felsen segelt und wieder mit heiserem Schrei entschwindet, immer bleibt diese einsame Stille zurück, die um alles Leben ist und jeden Aufschrei verschluckt, als sei er nie gewesen, diese namenlose Stille, die vielleicht Gott oder das Nichts ist.

Ralf Rothmann

Der klare Grund aller Erscheinungen

Wir haben uns daran gewöhnt zu sagen, dass der Schriftsteller sich ausdrückt. In Ausdruck klingt jedoch schon Mutwillen an und Gewalt; was wirklich an den Tag will, ans Licht, das muss man nicht drücken: Es geschieht, es wächst, es blüht ‒ jeder, der schreibt oder malt oder komponiert, macht diese Erfahrung. Es ist tatsächlich eine Gnade, es kommt uns zu ‒ am wunderbarsten dann, wenn wir gar nicht daran denken, wenn wir unsere Vorstellungen und Konzepte für einen Augenblick vergessen und, zum Beispiel, einen Apfel schälen. Es kommt uns zu aus der Stille, dem Schweigen, denn man muss absehen von der Sprache, damit die Welt wieder zu einem spricht.

Das klingt vielleicht paradox, besonders, wenn es ein Schriftsteller sagt, doch wir sind konditioniert bis ins Kleinste, wir sind noch gerastert, wenn wir ausrasten, und unsere materialistische Grundhaltung, die auch die Sprache nicht verschont, hat uns vergessen lassen, dass nichts, aber auch wirklich gar nichts einen Namen hat, dass es Innen und Außen eigentlich nicht gibt und dass der Körper in der Seele wohnt, nicht umgekehrt.

Nur die Stille bringt es uns wieder bei. »Die Tümpel des Wattenmeeres gleißen wie Scherben unter dem Mond«, schrieb Max Frisch an einem Feldrand an der Nordsee. »Der Leuchtturm, der bei jedem dritten Atemzug meinen warmen Heuhaufen bescheint, hat etwas rührend Arbeitsames in dieser großen Stille. Ein anderer blinkt drüben an der dänischen Küste, aber sehr winzig. In einer Umzäunung weiden zwei Pferde. Oft hält man den Atem an, als müsse jeden Augenblick etwas Unglaubliches geschehen. Ein Pferd hat sich geschüttelt, weiter nichts. Eine erregende, unerlöste Stille, wie sie einem Engel vorausgehen müsste …«

Aber auch nach so einem Erlebnis der Stille scheint es, wie nach dem der Einheit, immer weniger Sehnsucht zu geben. Zwar wird der Lärm in den Statistiken als Ursache Nummer eins für das Gefühl mangelhafter Lebensqualität in den Städten genannt, doch kaum jemand trägt dazu bei, ihn zu verringern, im Gegenteil. Das Wort Lebensqualität ist ja eigentlich schon ein Kreischen, und so wie Geld immer alles zerstört, auch das Bewusstsein dafür, dass es alles zerstört, so zersetzten die Geräusche nicht nur die Stille, sondern auch das Bedürfnis danach. Irgendwann können wir nicht mehr still sein, also wollen wir es auch nicht, und selbst wenn alle Gesprächspartner gegangen und alle Apparate und Bildschirme ausgeschaltet und alle Türen und Fenster geschlossen sind, hört das Geplapper im Innern nicht auf, und wir fragen unser Handy, wer wir sind.

Doch Stille, der klare Grund aller Erscheinungen, also auch unserer Kontur, Stille ist nicht nur die Abwesenheit oder das Atemholen der Geräusche, sie ist nicht einmal still, und so wie ein völlig tauber Mensch es fühlt, wenn plötzlich Mozarts Musik gespielt wird, so ist auch für den, der Ohren hat, in der Stille eine Harmonie, die nicht aufzuwiegen ist von Poesie oder ihrer Sprache, einer beglückenden Assonanz etwa oder dem zartbronzenen Klang eines Genitivs. In der Stille offenbart sie sich am deutlichsten, die Idee der Vollkommenheit, denn unser Dichten und Denken ist letztlich immer nur Abgrenzung; sich der Stille überlassen aber heißt Weite gewinnen, innere Freiheit.

Ich nehme an, es gibt kaum jemanden, der die Erfahrung der absoluten Stille noch nicht gemacht hat. Es widerfährt einem nicht oft im Leben, und immer geschieht es unvermutet und meistens an ganz gewöhnlichen Plätzen mitten im alltäglichen Getriebe, dass einem plötzlich der Atem stockt und man erstarrt, weil man sich angesprochen fühlt von dieser Stille, die so verdichtet ist, dass man glaubt, sie berühren zu können; die so nachdrücklich den eigenen Namen verschweigt, dass man ihn hört. Für mich sind es immer dieselben Orte ‒ ein Hügel bei Leonberg im Schwäbischen, ein Straßenstück in dem brandenburgischen Dorf Chorin und eine ganz bestimmte Stelle der Breestpromenade in Berlin ‒, an denen sie vernehmlich wird, und jeder, den ich dorthin führe, hat ein ähnliches Erleben. In der Stille artikuliert sich das Unaussprechliche, und genau das empfindet man an solchen Orten zwischen den Zeilen und jenseits der gewöhnlichen Geräusche, zu denen ja auch die Sprache gehört. Man fühlt sich zurechtgerückt vom Geheimnis. Man wird entziffert.

Mascha Kaléko

Gesucht: Ein Irgendwo von dazumal …

Irgendwo, in diesem vom Lärm erdrosselten Leben,

Muss es, so träume ich dann und wann, ein schweigendes Wärterhaus geben,

Mit ein paar Bäumen davor, und einem Vogel, der singt.

Von fern, das Gebirg. Man meint, in den Wolken zu schweben.

Und die Stille ringsum! Es ist eine Stille, die klingt.

Wieder beglückt mich der Duft der blühenden alten Kastanien,

Den ich, unvergessen, so lang über Länder und Meere hin trug …

Rosen zieh ich mir nicht, auch keine verwöhnten Geranien.

Feldblumen frisch auf den Tisch im bäuerlich irdenen Krug!

Nachbarlich grüßt mich vom Dorf zur Vesperstunde das Läuten.

Das Eichhorn erkennt meinen Gang. Und es flieht vor mir nicht mehr das Reh.

Vier Mal spiegelt der Bach mir das wechselnde Antlitz der Zeiten.

Mein Kompass: Sonne und Wind. Meine Zeitungen: Spuren im Schnee.

‒ Wie seltsam: der erste Tag, und ich fühle mich selig, zuhause!

Vertraut ist mir die Landschaft längst. Sah alles so oft schon im Traum:

Den Brunnen, den Urväterrat und den offnen Kamin in der Klause;

Petroleumlampe zur Nacht und Bänke aus knorrigem Baum.

… Irgendwo, in diesem vom Fortschritt zertretenen Leben,

Muss es ‒ ich träume es gar zu oft ‒ ein solches Wärterhaus geben.

Dort sitze ich öfters, im Geist, an dem himmlischen Frieden mich labend,

Und Blicke, schweigend zumeist, in den sinkenden Lebensabend.

Andrzej Stasiuk

Ruhe

Zu jener Zeit gab es auf dem Dorf keine Mülltonnen. Auch Müll gab es nicht.

Man kaufte verschiedene Dinge, aber es blieb nicht viel von ihnen übrig. Von Zucker blieben Papiertüten, die man im Ofen verbrennen oder noch einmal verwenden konnte. Essig-, Öl- und Wodkaflaschen konnte man im Laden mit beträchtlichem Gewinn verkaufen. Man konnte sie auch dazu benutzen, selbstgemachten Kirsch- oder Himbeersaft aufzubewahren. Limonade- oder Bierflaschen mit Patentverschluss aus Porzellan und Draht benutzte man zum Aufbewahren von Erfrischungsgetränken, die zu Hause mit Hilfe von Hefe und Zucker hergestellt wurden. Plastik gab es praktisch nicht, es gab keine Alufolie und keinen mit Aluminium überzogenen Karton. Vom Essen blieb nichts übrig.

Ein Tier wurde geschlachtet und aufgegessen. Die Knochen bekam der Hund. Das Fell konnte man verkaufen. Fell war teuer damals. Genau wie Wolle. Der Mensch ließ nicht viel übrig. Die Reste konnte man verbrennen oder den Tieren geben. Hunden, wie gesagt, oder Schweinen, die alles fraßen. Es gab keine Mülltonnen. Es gab keinen Müll. Das weiß ich noch.

Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre verbrachte ich die Ferien fast immer bei meinen Großeltern. Von Warschau aus waren es etwa drei Stunden mit dem Bus. Man fuhr Richtung Osten. Im Bus roch es ländlich. Es war der Geruch der Sauberkeit vor der Zeit der Deodorants: Seife, frisch gewaschene Kleider, Naphthalin und menschlicher Schweiß. Die Frauen kehrten von den Märkten nach Hause zurück. Sie hatten ihren Käse, ihre Sahne und ihre Hühner verkauft; jetzt rochen ihre Körper nach all diesen Dingen, nach Stärke und nach etwas ländlich Feierlichem. Vom vorderen Teil des Busses, vom Platz des Fahrers, wehte der Geruch von dunklem Tabak nach hinten, denn damals durften die Fahrer rauchen. Niemand verbot es ihnen. Nur reden durften sie nicht. So stand es in schwarzen Buchstaben auf weißem Schild: »Nicht mit dem Fahrer sprechen.« Unter diesem Schild nahm immer wieder jemand Platz, ein Bekannter, Kumpel, Verwandter, Kollege, Nachbar, und dann wurde gequasselt wie bescheuert. Der andere saß auf der Motorhaube, die aussah wie eine umgedrehte Wanne, und begann ebenfalls zu rauchen. Sie rauchten und plauderten. Ich war damals zehn oder zwölf und träumte davon, mich dort hinzusetzen. Das war der beste Platz im ganzen Bus: unbequem, heiß, eng, die Füße zur Seite, das Genick eingezogen, und man musste sich ständig an einer Stange oder einem Griff festhalten, um nicht herunterzurutschen.

Ich war zehn Jahre alt und ein Stadtkind.

Das Haus der Großeltern stand abseits. Zum nächsten Nachbarn waren es einige hundert Meter. Ins Dorf mehr als ein Kilometer. Die Großeltern waren oft mit der Arbeit auf dem Feld beschäftigt. Ich verbrachte viele Stunden allein. Das Haus stand in einem alten Obstgarten. Es war ein düsteres Haus. Unbekannte Gerüche erfüllten es. Die Holzböden knarrten. Ich ging auf Zehenspitzen, aber das Knarren folgte mir von Zimmer zu Zimmer. Ich war allein, aber dieses Alleinsein leistete mir in gewisser Weise Gesellschaft. An den Wänden hingen Heiligenbilder und ein Hochzeitsfoto der Großeltern, alles in soliden Rahmen. Auf diese Weise vermischte sich das Heilige mit dem Vergänglichen. Die Großeltern wurden ein wenig unirdisch, die Muttergottes ein wenig menschlicher. Das Haus wirkte groß, obwohl es nur aus zwei Zimmern und einer Küche bestand. Jenseits der dunklen Diele befand sich die »Fruchtstube«, wo Großvater das Getreide aufbewahrte. In einem Bretterverschlag lagerten goldfarbener Weizen und gelbgrauer Roggen. Die Körner waren kühl und glatt. Ich tauchte die Arme bis zu den Ellbogen ein. Mir fielen Geschichten von Menschen ein, die im Getreide versunken waren. Vielleicht nicht in Roggen oder Weizen, sondern eher in Leinsamen. Der war angeblich so glatt, dass man darin ertrinken konnte wie in Wasser. Man fiel einfach nach unten.

Einsamkeit also. Ganze Tage in Stille und Einsamkeit. Im Halbdunkel des alten Obstgartens. Bei schönem Wetter drang die Sonne durch die Zweige des Apfelbaums und erhellte den grünen Schatten. Die goldenen Flecken bildeten ein Labyrinth. Wenn man langsam durch den Garten ging, spürte man auf der Haut die Berührung von Wärme und Kälte. Ein, zwei Schritte, und es wurde heller und wärmer, dann wieder dunkler und feuchter vom Tau, der an manchen Stellen nie zu trocknen schien.

Vom Küchenfenster aus konnte man den Hof sehen. Die Scheune, der Pferdestall, der Schweinestall, die gemauerte »Sommerküche« und das Haus bildeten ein Viereck. Auch hier wuchsen Bäume. Einige alte, schlanke Pappeln warfen ihre Schatten auf den Hof. Im Laufe des Tages wanderten die Schatten. Das vom Vieh niedergetretene, von den Hühnern durchwühlte rechteckige Stück Erde erinnerte an eine komplizierte Sonnenuhr. Manchmal tauchten in einem hellen Fleck die Katze auf, der Hahn oder eine Schar Spatzen. Dann verschwanden sie wieder im Schatten. Der Hof war auch eine Art unregelmäßiges Schachbrett. Dinge und Tiere tauchten auf und verschwanden wieder, als nähmen sie an einem komplizierten Spiel teil, bei dem der Einsatz das Leben war. Ich saß am Fenster und betrachtete stundenlang dieses langsame, fast bewegungslose Schauspiel. Die Sonnenuhr und das Schachbrett. Im Juli und August. Fast jedes Jahr in meiner späten Kindheit und frühen Jugend.

Manche Dinge wurden trotzdem weggeworfen. Zum Beispiel löchrige Töpfe. Mit ihnen konnte man nichts mehr anfangen. Manche waren einfach geplatzt. Bei anderen war der Boden durchgebrannt. Aluminium war noch nicht allgemein verbreitet. Die Töpfe waren aus sprödem Gusseisen oder aus schlechtem, zu Korrosion neigenden Blech, überzogen mit weißblauem Email.

Hinter dem Sommerherd war eine Art Müllhalde. Doch das ist kein gutes Wort, um diesen Ort zu beschreiben. Besser gesagt, zwischen Brennnesseln und anderem Gestrüpp befand sich eine Art Friedhof für die Dinge. Aber so kann man es auch nicht nennen, denn die Gegenstände, die dort lagen, waren nicht völlig tot. Die Töpfe hatten zwar aufgehört, nützlich zu sein, aber sie hatten ja nicht ihre äußere Gestalt verloren. Sie enthielten immer noch einen geformten Raum, bewahrten immer noch etwas auf, wenn es auch nur gleichgültige Luft, Staub oder weiße Pflanzentriebe waren, die im löchrigen, geschützten Innern der Scherben keimten.

Das Schicksal der Töpfe teilten auch die Petroleumlampen, die sogenannten Wagenlampen. Man benutzte sie zur Beleuchtung der Fuhrwerke, wenn man abends nach Hause fuhr. Außerdem halfen sie dabei, sich in der Dunkelheit des Stalls oder der Scheune zu bewegen. Allzu viel Licht gaben sie nicht, aber ihre Flamme erlosch auch im stärksten Wind nicht und war relativ sicher. Denn zu jener Zeit gab es in dieser Gegend noch keine Elektrizität.

Manchmal schaute ich abends in den Stall, wo meine Großmutter die Kühe molk. Es war fast dunkel dort. Die Lampe erhellte kaum die unmittelbare Umgebung. Sie leuchtete nur für sich. Ich spürte die Wärme und den Geruch der Tiere, hörte ihren Atem, aber sehen konnte ich nichts. Meine Großmutter murmelte etwas zu den Kühen. Ich hörte den Milchstrahl auf den Boden des Eimers schießen. Aber zu sehen war nichts. Nur an der Stelle, wo die Lampe stand, wurde das Dunkel vielleicht einen Ton heller, da bewegten sich Schatten, da tauchte für einen Augenblick ein Umriss auf und verschwand wieder. Es war ein bisschen unheimlich, ein bisschen seltsam und sehr schön. Ich stand an der Tür, in einer Wolke von Tierwärme, und stellte mir vor, die Nacht hätte keine Grenzen, sie würde nie aufhören, ewig dauern. Das war ganz einfach.