Die Geschichte enthält grafische Schilderungen von Sexualität, Gewalt, sowie Kraftausdrücke und/oder andere nicht jugendfreie Themen.
Dieses Buch beschreibt die Geschehnisse im Jahre 1942 nicht vollkommen ausführlich. Dieses Buch dient lediglich zur leichten Schilderung der damaligen Geschehnisse und ist in keinem Sinn als Verharmlosungen der Taten und des Verhaltens der Deutschen zu dieser Zeit gedacht. Nie wieder!
1942
Wie die letzten Morgen auch werde ich durch lautes Gebrüll geweckt.
Langsam richte ich mich auf, reibe mir meine verschlafenen
Augen.
„Sie sind in zehn Minuten fertig! Haben Sie mich verstanden?!",
höre ich jemanden rufen.
Wahrscheinlich ist es mein Vater. Ich strecke mich und springe vom
Hochbett. Als mir auffällt, dass mein bester Freund noch schläft,
muss ich lachen.
„Jacob! Wach auf, wir müssen gleich raus!", sage ich und rüttle
ihn.
Erschrocken wacht er auf, sieht mich mit großen Augen an.
„Guten Morgen, Langschläfer."
Jacob stößt mich weg und richtet sich auf.
„Warum müssen wir heute so früh aufstehen? Steht irgendwas an?",
fragt er verschlafen.
Ich zucke kurz mit den Schultern, mache den Knopf meiner feldgrauen
Rundbundhose zu und streife mir mein weißes Trikot über den nackten
Oberkörper, darüber meine Feldbluse. Mein bester Freund macht es
mir nach. Mein Blick schweift durch den Raum, ich kann eine
Anspannung spüren. Irgendetwas wird heute passieren. Die Uniformen
sind verschieden. Ich vermute, dass die meisten Jungen von der SS
sind. Jacob und ich, sowie ein paar andere, sind aus der Wehrmacht.
Die schiefen Blicke der anderen entgehen mir nicht.
„Sag mal, haben wir irgendetwas angestellt?", frage ich Jacob
leise.
Er sieht mich fragend an.
„Nicht das ist wüsste."
Ich nicke, versuche die Blicke der anderen zu ignorieren, gehe mit
meinem Freund nach draußen, ziehe meinen Stahlhelm auf. Als die
SS-Hauptsturmführer eintreffen, herrscht Stille unter uns. Keiner
spricht. Wir haben unsere Stimme verloren. Mein Vater scannt jeden
von uns gründlich ab. Vor Jacob und mir bleibt er stehen.
„Wie Sie bestimmt festgestellt haben, befinden sich Soldaten der
Wehrmacht unter Ihnen. Ich verlange von Ihnen, dass Sie Ihnen
zeigen, nach welchen Werten wir arbeiten, mit welcher
Disziplin."
Die Verachtung meines Vaters mir gegenüber ist nicht zu überhören.
Er akzeptiert meine Entscheidung nicht. Ich werde der SS nicht
beitreten nur weil er dazugehört. Das hier scheint meine Strafe zu
sein.
„Sie werden nun Ihren neuen Einsatzort betreten. Er befindet sich
in Mitten des Stadtzentrum Warschaus, westlich der Altstadt im
Stadtteil Wola zwischen dem Danziger Bahnhof und dem alten
Hauptbahnhof Warszawa Główna sowie dem Jüdischen Friedhof. Sie
werden schnell feststellen, dass im jüdischen Wohnbezirk, hier in
Warschau, viele Menschen leben. Das wird Ihre Arbeit jedoch nicht
beeinflussen. Denken Sie daran, wir arbeiten im Sinn der Endlösung
der Jugendfrage. Es ist wichtig, dass Sie diesem Abschaum zeigen,
dass es nur wahres Blut geben kann. Schließlich entscheiden Sie
über Leben und Tod. Handeln Sie nicht mit Mitgefühl. Tun Sie das,
was für das Vaterland am besten ist."
Ich stehe in der Reihe, sehe kurz in die anderen Gesichter, keiner
verzieht auch nur einen Muskel. Sie scheinen zu wissen, was auf uns
zukommt. Die Ungewissheit macht mir Angst.
„Denken Sie daran, Sie befinden sich im Judenabteil. Hier werden
Sie die nächsten Monate bleiben!"
Der zweite SS-Hauptsturmführer läuft nah an uns vorbei.
„Fassen Sie diese Tiere nicht an! Sie sind ungepflegt, schmutzig
und krank!", schreit er laut.
Jeder würde bei dieser Lautstärke zusammenzucken. Wir nicht. Das
dürfen wir nicht. Keine Schwäche zeigen.
„Haben Sie das verstanden?", brüllt der SS-Hauptsturmführer.
„Jawohl!", rufen wir zurück.
„Abtreten!"
Meine Kameraden laufen los. Ich warte kurz bis mein bester Freund
neben mir steht und gehe mit ihm los. Angespannt halte ich mein
Gewehr in den Händen, sehe mich um, beobachte die hektische Masse.
Ein Kamerad schaut über die Schulter zu mir. Auf seinen Lippen
entsteht ein kleines Lächeln, sein Blick ist warm, zutraulich, er
versucht mich zu beruhigen. Dankend nicke ich ihm zu.
„Schau dir das an.", flüstert Jacob.
Mein Blick hebt sich. Die drei Meter hohe Mauer ist nicht zu
übersehen, das Tor, an dem Mitglieder der SS stehen. Das Chaos
hinter diesem Eingang ist ebenfalls nicht zu übersehen. Als wir
eintreten, steigt mir ein unangenehmer Geruch in die Nase. Er ist
so widerlich, dass sich einer meiner Kameraden übergeben muss. Mir
weicht jede Farbe aus dem Gesicht, denn ich sehe Menschen, viel zu
viele Menschen, abgemagert, dreckig, kaum mit Kleidung bedeckt. Ich
bleibe so nah wie möglich an Jacob. Die anderen Kameraden sorgen
dafür, dass wir genug Platz zum Gehen haben. Einmal ist das nicht
der Fall und ich kann sehen, wie ein SS Soldat sein Gewehr mit
voller Kraft in den Magen eines alten Mannes rammt, nur damit er
Platz macht. Die Geräuschkulisse ist schrecklich. Laut, Schreie,
Gebrüll.
„Wir sind da. Jeder von euch wird jetzt eine Gruppe von zehn Leuten
zusammenstellen, wenn sie aus den Transportern kommen. Dann bringt
ihr sie zum Umschlagplatz."
Wie bei jedem Befehl gehorchen wir und bilden eine Gruppe. Ich gehe
vor, während Jacob hinten läuft. Jeder Blick, der auf mich fällt,
ist entweder gefüllt mit Hass oder Angst. Schwer schluckend führe
ich die Menschen, die mir folgen müssen, zum Umschlagplatz. Wieder
bilden wir Soldaten eine Reihe. Einer meiner Kameraden erklärt uns,
dass wir die Namen der einzelnen Menschen notieren. Jacob und ich
setzen uns hinter einen Tisch. Wir warten, bis die Nummerierung
losgeht. Ein erfahrener Soldat übernimmt die Aufgabe für uns, damit
wir beim nächsten Mal wissen, wie es geht. Innerlich hoffe ich,
dass es kein nächstes Mal gibt.
„Ihr müsst konsequent sein! Lasst euch von denen nichts gefallen!
Wenn sie nicht schnell genug reagieren, werden sie geschlagen.",
flüstert er.
Ich fahre mir durch mein braunes Haar, versuche, meine Nervosität
zu verstecken. Jacob sieht mich mit seinen grünen Augen an, schenkt
mir ein aufmunterndes Lächeln. Er hat Angst. Genauso wie ich. Auch
wenn ich dem Geschehen folgen soll, will ich nicht in die Augen der
Menschen schauen, die nichts mehr haben. Ich bin zu nett. Das hat
mir mein Vater schon unzählige Male ins Gesicht geschrien. Du musst
härter werden! Dein gutes Herz interessiert keinen. Es muss eiskalt
sein. Deswegen hat er dafür gesorgt, dass ich jetzt hier bin. Das
ist seine Art mir Disziplin beizubringen.
„Also, jetzt kommen wir zu den Frauen.", erklärt mein
Kamerad.
Als ich aufschaue, sehe ich in haselnussbraune Augen, die hinter
dem blonden Haar versteckt sind, es weht ihr leicht ins Gesicht.
Ich mustere sie, sehe die Schrammen an ihren Handgelenken, ihre
dürren Beine, sie muss schon länger nichts zu essen bekommen haben.
Ihre Haut ist hell, nicht blass, leicht rosa.
Die junge Frau sieht uns an. Ich kann ihren Blick lesen. Er ist
gefüllt mit Hass. Verachtung. Kaum zu übersehen. Ein unwohles
Gefühl macht sich in meinem Brustkorb breit.
„Dein Nachname?", fragt mein Kamerad.
Die Fremde sieht zwischen uns her. Mir wird anders, bei unserem
Blickkontakt. Ich fühle mich...komisch.
„Hast du meine Frage nicht gehört?"
Sie schaut ihn an, zieht die Mundwinkel etwas nach oben.
„Das war eine Frage?"
Ihr Tonfall. Gehässig. Provozierend. Der Kamerad erhebt sich und
gibt ihr eine Ohrfeige. Das Klatschen ist laut. Ich kann den Schlag
auf meiner eigenen Wange spüren. Sofort möchte ich aufspringen, ihn
zurechtweisen und das Mädchen fragen ob es ihr gut geht, doch mein
bester Freund hindert mich daran.
„Das ist normal. So gehen sie mit ihnen um.", flüstert er.
Ich sehe ihn verständnislos an.
„Das ist grauenhaft!", erwidere ich.
Jacob nickt.
„Ich weiß, aber das ist nun mal unsere Aufgabe. Willkommen im
Warschauer Wohnbezirk."
Ich sage nichts mehr, sehe wieder zu dem Mädchen. Mit glasigen
Augen starrt sie in die Ferne. Der Handabdruck auf ihrer Wange wird
langsam sichtbar.
„Also, dein Nachname?"
„Schmidt."
Ihr Auftreten ist noch immer gefestigt. Sie wurde verletzt, doch in
ihrer Stimme liegt eine unerklärliche Stärke. Sie ist faszinierend.
Ich kann meinen Blick kaum von ihr abwenden. Ich schaue ihr in die
Augen. Verloren. Sie wirkt so kalt und zerstört. Wer hat ihr das
angetan? Wir oder? Ich glaube ja. Nicht auszumalen, wie die anderen
Männer sie behandeln.
„Von wo kommst du?"
Sie sieht zu uns nach unten.
„Deutschland."
Ihre Stimme bereitet mir eine Gänsehaut. Es ist eigenartig und
wahrscheinlich falsch, aber dieses Mädchen hat meine volle
Aufmerksamkeit.
„Nun, willkommen in Warschau. Und jetzt geh zu den anderen.", weist
er sie an, doch daran denkt sie erst gar nicht.
Eiskalt bleibt sie vor uns stehen, greift kurz nach einer Hand und
zieht jemanden nach vorn. Mein Kamerad will ihr wieder eine
Ohrfeige verpassen, doch diesmal halte ich ihn davon ab. Kurz bevor
er zuschlägt, stoppe ich seine Hand. Wieder sehe ich in die
haselnussbraunen Augen, die vor Angst glänzen. Ist sie mir dankbar?
Ich weiß es nicht. Meine blauen Augen wollen nicht von ihr weichen.
Mein Kamerad packt mich am Kragen. Mir rauscht das Blut durch den
Kopf. Werde ich jetzt die Konsequenzen für meine Tat spüren?
„Reiß dich zusammen! Kein Mann auf dieser Welt verteidigt eine
Frau. Meine Entscheidung sie zu schlagen ist richtig. Versteh
das.", zischt er.
Seine Aussage widert mich an. Diese Denkweise, aber ich kann nichts
dagegen tun, nicke, versuche mich normal zu verhalten.
„Bringt die drei da hin."
Wir bekommen einen Zettel in die Hand gedrückt, auf dem ein Abteil
vom Wohnbezirk steht.
„Jawohl!", sage ich.
Jacob führt die drei Damen aus der Menschenmenge hinaus. Ich
versuche, einen neutralen Gesichtsausdruck aufzusetzen, auch wenn
mich das Mädchen ansieht. Sie hält die Hand der älteren Dame fest.
Direkt neben mir fällt ein Schuss, ich zucke stark zusammen, sie
sieht es, runzelt die Stirn. Beschämt sehe ich zu Boden. Jacob legt
seine Hand auf meine Schulter, fragt, ob alles in Ordnung ist. Ich
sehe zu meinen Händen, sie zittern. Neben mir werden massenweise
Menschen erschossen.
„Lass uns einfach weitergehen.", murmle ich.
Der Weg ist lang und durch ständige Pausen brauchen
wir noch länger. Ich werde ungeduldig. Jeder Soldat kann uns sehen.
Wenn mein Vater, der SS-Hauptsturmführer, uns so sieht, erschießt
er die alte Frau. Bei dem Gedanken zieht eine unangenehme Gänsehaut
über meinen Körper. Soweit darf ich es nicht kommen lassen. Ich
gehe näher zu dem Mädchen, ich merke sofort, dass sie Angst
hat.
„Keine Sorge. Ich tue euch nichts.", flüstere ich.
Unerwartet lacht sie auf. Meine Verwirrung ist nicht zu
übersehen.
„Ihr Mitleid können Sie sich sparen. Sie sind wie jeder andere von
ihnen. Ein Unmensch, sehen zu, wie wir abgeschlachtet werden und
kommen nicht auf die Idee ihre Stimme zu nutzen. Wie ein Hund der
gehorcht.", zischt das junge Mädchen.
Ich entferne mich von ihr. Diese Worte haben mich verletzt, denn
ich bin nicht so wie sie, das werde ich nie sein.
„Nein, das stimmt nicht."
„Ach wirklich? Wo widersetzen Sie sich bitte?", faucht sie.
Ihr Tonfall ist herablassend, es gefällt mir nicht, macht mich
wütend. Mit einem düsteren Blick sehe ich sie an.
„Beweg dich oder ich trete dich höchstpersönlich zu deinem
Abteil!", brülle ich.
Die drei Frauen zucken zusammen. In mir bricht etwas. Sie haben
Angst vor mir. Das will ich eigentlich nicht. Mein bester Freund
sieht mich überrascht an, geht mit den Jüdinnen weiter. Ich bleibe
kurz stehen und versuche zu verschnaufen. Die Blicke der anderen
Juden entgehen mir nicht. Um mich herum steht niemand. Sie sind
alle einen großen Schritt zur Seite gegangen. Ich sehe mich um,
treffe auf verweinte Kinderaugen, auf abgemagerte Menschen mit
zerrissenen Klamotten.
„Gut gemacht Johann!", sagt ein Soldat und klopft auf meine
Schulter.
Kurz lächle ich, doch die unzähligen Blicke der Menschen um mich
herum, machen mich fast wahnsinnig. Ich fühle mich wie ein
Ausstellungsstück, etwas, was jeder ansehen will, verachtet, aber
nicht wegschauen kann.
„Was glotzt ihr denn so?!", schreit der Soldat und schüchtert die
Juden mit seinem Gewehr ein.
Ich ertrage die Blicke, die Angstschreie, nicht und laufen mit
schnellen Schritten zu Jacob. Wir beide unterhalten uns nicht mit
den Jüdinnen. Ich weiß, dass ein Gespräch nichts bringt. Alle, die
hier sind, sind in unserer Gewalt. Ihnen wird alles genommen. Nicht
einmal die eigene Würde bleibt ihnen übrig. Es muss schlimm
sein.
„Hier ist eure Unterkunft. In dem Haus findet ihr eure Betten.",
erklärt Jacob.
Das blonde Mädchen verschwindet mit der alten Frau, doch das
braunhaarige Mädchen bleibt bei uns stehen. Sie sieht meinen besten
Freund an.
„Danke. Sie waren deutlich netter als die anderen Männer. Ich
entschuldige das Verhalten von meiner Freundin. Die Frau, die bei
uns ist, ist ihre Mutter. Und diese würde sie mit ihrem Leben
beschützen. Deswegen hat sie so einen vorlauten Mund."
Jacob und ich tauschen einen Blick aus. Wir sind beide überrascht.
Sie scheinen uns nicht zu hassen.
„Kein Problem. Sagen Sie uns, wenn Sie etwas benötigen.", flüstert
mein Freund leise.
Das Mädchen lächelt und verschwindet. Verdutzt schaut er ihr
hinterher. Nachdenklich sehe ich ihn an.
„Waren wir zu nett?", fragt er mich leise.
„Ich war alles andere als nett.", nuschle ich.
Jacob sieht mich an, wir entfernen uns ein Stück von dem Haus,
schauen uns um.
„Was ist passiert? Wieso hast du so reagiert?"
Ich zucke mit den Schultern.
„Die Worte, die sie gesagt hat, haben mich verletzt."
Jacob legt seine Hand auf meinen Unterarm.
„Diese Menschen hassen uns. Sie haben jedes Recht dazu. Aber diese
Worte, die sie gesagt hat, treffen bestimmt nicht auf dich zu,
okay?"
Kurz nicke ich.
„Ich hätte niemals gedacht, dass ich eines Tages im Warschauer
Wohnbezirk stehe. Dass ich Menschen töten soll. Dass ich Menschen
bestrafen soll, die nichts getan haben. Ich verstehe es nicht,
Johann."
Wie soll man das auch verstehen?
„Ich meine, sieh dich einmal um. Hier liegen Menschen auf den
Straßen, bedeckt mit Zeitungspapier. Die sterben hier vor sich hin
und jeder freut sich darüber. Das ist doch krank."
Zum Ende hin ist seine Stimme nur noch ein leises Flüstern. Ich
weiß, dass er recht hat. Aber was können wir schon dagegen tun?
Nichts. Wie ein Hund der gehorcht.
„Komm, wir sollten zurück zur Gruppe gehen.", sage ich und lege
meine Hand auf seine Schulter.
Als wir die Straße verlassen, drehe ich mich noch einmal um, sehe
zu dem Haus, in dem das blondhaarige Mädchen haust. Sie steht bei
ihrer Freundin und für einen kurzen Moment treffen sich noch einmal
unsere Blicke. Wieder dieses komische Gefühl in mir.
„Da seid ihr ja!", ruft mein Vater.
Augenblicklich ist meine Körperhaltung kerzengerade. Ich sehe ihm
in seine blauen Augen. Eiskalt. Keine Emotion. Er kommt zu mir,
richtet meinen Kragen und lächelt.
„Mir hat ein Soldat erzählt, dass du diese kleinen Jüdinnen
zurechtgewiesen hast. Sehr gut, mein Sohn."
Ich würde mich gerne über seine Aussage freuen, doch da ist nichts.
Nur die Frage, die ich mir selbst stelle, was bringt es dir,
anderen all ihre Rechte zu nehmen?
„Da ihr so gute Arbeit geleistet habt, gewähre ich euch Freigang.
Ihr könnt mir eure Gewehre und euren Helm geben, ich verstaue sie
für euch, wenn ihr Morgen wiederkommt. Für heute dürft ihr Heim
gehen!"
Ich muss jedes seiner Worte ganz genau untersuchen. So nette Sachen
macht er nie, ohne eine Gegenleistung zu erwarten.
„Kommt morgen früh direkt zum Umschlagplatz.", sagt mein Vater und
geht.
Ungläubig sehe ich ihm hinterher. Jacob springt freudig neben mir
her.
„Wie toll ist das denn! Los komm!"
Er zieht mich am Ärmel durch die Menschenmenge hin zum Tor. Bevor
wir nach draußen gehen können, schmeißt sich mir eine alte Frau an
den Hals. Ich erschrecke mich zu Tode. Sie bettelt mich an. Doch
ihre Sprache kann ich nicht verstehen. Ich höre nur ihr Wimmern,
sehe wie meine Kameraden die alte Frau von mir wegziehen.
Schockstarre. Ihr dünnes, faltiges Gesicht hat sich in mein
Gedächtnis gebrannt. Mein bester Freund zieht mich nach draußen,
versucht, auf mich einzureden. Ich höre nichts, spüre mein
hämmerndes Herz. Meine Hände sind schweißnass. Der Vorfall gerade
hat mir Angst eingejagt. Große Angst. Ich habe mich nicht einmal
verteidigt.
„Hey! Johann! Komm zu dir!"
Jacob hält mein Gesicht in seinen Händen, rüttelt mich.
„Ja, ich bin da...", stottere ich.
„Alles gut? Geht es wieder?", fragt er besorgt.
Ich laufe vom Wohnbezirkseingang weg.
„Hm, denke schon."
„Das wird nicht noch mal vorkommen. Keine Sorge."
Er versucht, mich zu beruhigen. Ich zucke kurz mit den Schultern
und laufe neben ihm. Was wenn mir so etwas passiert, wenn ich
allein bin? Muss ich dann schießen?
„Du kennst meine Wohnung ja, mach es dir gemütlich.",
sagt Jacob und zieht sich um.
Ich habe mich schon umgezogen und trage jetzt ein weißes T-Shirt
und eine lockere schwarze Hose. Das Wetter heute passt zu meiner
Stimmung. Es ist trist und bewölkt.
„Du bist den ganzen Tag schon in Gedanken. Was ist los?", besorgt
sieht er mich an, setzt sich vor mich.
Ich zucke mit den Schultern.
„Ich muss mich an das Ganze hier gewöhnen. Mir tut es im Herzen
weh, wenn ich die Menschen sehe. Sie haben nichts gemacht, werden
wie Tiere gehalten und abgeschlachtet. Was glaubst du, wie viel
Angst sie vor uns haben?!"
Verzweifelt streife ich durch mein braunes Haar.
„Und das willst du nicht. Du willst nicht, dass sie Angst vor dir
haben oder dich hassen.", erschließt er aus meiner Aussage.
Ich sehe ihm in die Augen.
„Ja, genau so ist es."
Jacob setzt sich neben mich, legt seinen Arm um mich.
„Wir sind nicht wie die anderen und so werden wir auch nie sein,
okay? Hiermit versprechen wir uns, dass wir keinem Menschen wehtun
werden!"
Er streckt mir seinen kleinen Finger entgegen. Lächelnd hacke ich
meinen Finger in seinen ein.
„Versprochen?"
Ich nicke.
„Versprochen."
Jacob sitzt an seinem Schreibtisch, während ich auf
dem Bett liege, an die Decke starre und überlege, was ich in den
Brief, der an meine Mutter gehen soll, reinschreibe. Die Wahrheit
kann ich nicht sagen. Zu groß ist die Gefahr, dass jemand falsches
ihn in die Hände bekommt. Soll ich sie also in Sicherheit wiegen?
Lügen? Damit sie denkt, dass es mir gut geht?
„Was schreibst du deiner Mutter?", fragt Jacob, sieht zu mir.
„Keine Ahnung. Du weißt, dass ich in sowas sehr schlecht
bin."
Mein bester Freund schnappt sich mein Blatt.
„Dann schreibe ich ihr eben etwas auf."
Dankbar lächle ich ihn an. Mein Blick schweift hinaus. Auf der
Straße läuft ein glückliches Paar. Sie lachen, küssen sich, es ist
fast zu schön um es anzusehen und ich will es nicht sehen, denn es
scheint nicht hierher zu passen.
Es ist ein warmer Morgen, gemischt mit Sonnenschein
und leichtem Nebel. Ich laufe durch die erstaunlicherweise leeren
Straßen im Wohnbezirk. Jeder von uns Soldaten hat ein bestimmtes
Abteil, was er einmal die Woche am Morgen und am Abend
patrouillieren muss. Ich kann mich erst gar nicht davor drücken.
Das gehört dazu, Johann. Hart werden. Das hier ist jetzt dein
Leben. Auch wenn du nicht wie die anderen sein willst, musst du den
Befehlen nachgehen. Wie ein Hund.
„Die Juden haben morgens nichts auf den Straßen zu suchen. Wenn ihr
jemanden seht, weist ihr ihn zurecht. Gehorcht der Jude nicht,
erschießt ihr ihn."
Meine schwitzigen Hände umklammern das Gewehr. Innerlich bete ich
dafür, dass mir keiner über den Weg läuft. Ich versuche, meinen
Blick aufrecht zu halten. Würde ich nach unten sehen, würde ich die
Leichen entdecken, oder die Menschen, die kurz vor dem Tod stehen.
Zudem ist der Gestank widerlich. Aber ich kann mir direkt erklären,
woher er kommt. Die Menschen haben keine Toiletten, nichts.
Deswegen entsorgen sie ihre Exkremente auf einem Haufen. Abartig,
aber die einzige Möglichkeit für sie. Mit langsamen Schritten laufe
ich weiter. Das Wetter macht einen so schönen Anschein, doch hier
ist nichts schön. Lachen die Menschen manchmal, oder haben sie den
Wunsch zu sterben? Gedankenabwesend stoße ich in jemanden hinein.
Ich will mich entschuldigen, aber mir wird wieder bewusst, dass
hier Manieren nichts verloren haben. Ich bereite mich darauf vor,
meine Stimme zu erheben, doch als mein Blick auf die
haselnussbraunen Augen fällt, verschwindet der Drang konsequent zu
sein. Meine Stimme ist wie erloschen. Wortlos sehe ich das Mädchen
an. Sie steht im Schein der Sonne. Ihr blondes Haar funkelt und es
macht den Anschein, als hätte sie einen Hauch von der Farbe Kupfer
im Haar. Fasziniert mustere ich sie. Ein zierliches Gesicht, hohe
Wangenknochen, Stupsnase, schmale rote Lippen. Ich stehe vor ihr
und sehe sie nur an.
„Hallo.", sage ich mit leiser Stimme.
Das Mädchen runzelt die Stirn, verschränkt ihre Arme vor dem
Brustkorb. Sie schützt sich. Ein Schritt zurück stellt einen
gesunden Abstand zwischen uns her. Ich räuspere mich, versuche, sie
ernst anzuschauen.
„Du hast hier nichts verloren."
Sie hebt eine Augenbraue. Ich bemühe mich hart zu bleiben. Ihr
starkes Auftreten macht es mir schwerer.
„Entweder sagst du mir, was du hier machst, oder ich muss
dich..."
Ich verstumme. Das Mädchen lächelt belustigt.
„Mir Manieren beibringen? Mich eigenhändig zurück in das Haus
schleifen? Oder mich erschießen?", sagt sie gehässig.
Ich schlucke. Wieder ihr Grinsen. Ich habe das Gefühl, das sie mir
nur vorspielt, so taff zu sein. In Wahrheit hat sie Angst. Niemand
kann eine solche Situation ohne Schäden überleben.
„Soll ich dich zurückbringen?", frage ich.