Willkommen in der Welt der Sch’tis
Gewogen und zu leicht befunden
Mit Presslufthammer und Spitzhacke
Stürmische Zeiten und Turbulenzen
Fotos einer Bilderbuchkarriere
Lautsprecher der Spielerrevolte
In München zwölf Jahre ein König
»Isch
abe gemacht
fünf Jahre
mehr.«
Balsam für die geschundene
Bayern-Seele.
»Wenn man jemanden verstehen will, muss man den Ort besuchen, aus dem er kommt.«
Die Siedlung, in der fast jeder Zweite keine Arbeit hat, liegt am Ärmelkanal im Norden Frankreichs: der Chemin-Vert (Grüner Weg) in Boulogne-sur-Mer. Wie viele Einheimische tatsächlich arbeitslos sind, weiß niemand. Franck Ribéry wurde 1983 in ebenjener Siedlung, einem sozial abgehängten Viertel, als Sohn eines Erdarbeiters und seiner Frau Marie-Pierre geboren. In der Plattenbausiedlung mit rund 10.000 Einwohnern haben die Leute das Herz auf dem rechten Fleck, allerdings stößt deren Zunge offenbar an Hindernisse, was nicht etwa an einem Zungenpiercing liegt. Und das ergibt dann einen Akzent mit Zischlauten, der in weiten Teilen des Landes, nun ja, als ungebildet gilt. Franck Ribéry, den alle nur »Ti-Franck«, kleiner Franck, nennen, wuchs mit drei Geschwistern und wenig Geld in einfachen Verhältnissen auf. Die Bezeichnung Grüner Weg ist irreführend, geradezu aberwitzig. Überall Beton, ringsum das gleiche trostlose Bild: Satellitenschüsseln, wohin man blickt, der Putz bröckelt von den Fassaden, eingeschlagene Scheiben, mancher Jugendliche lungert perspektivlos in den Tag hinein, Rost nagt an den Eingängen.
Das Stade de la Libération, das Stadion der Befreiung - allein dessen politische Namensgebung deutet auf die Nachkriegsarchitektur hin -, hat schon bessere Zeiten erlebt. Da spielte der Ortsverein namens Union Sportive Boulogne Côte d’Opal noch in der Ligue 1, der höchsten Spielklasse, mittlerweile herrscht Totengräberstimmung. Was nicht nur am Friedhof - gleich nebenan - liegt, auch der derzeitige Drittligist schlägt auf die Gemütslage, ganz zu schweigen vom andauernden Nieselregen im Winter. Eine Tribüne trägt Ribérys Namen; früher hat er in der Jugend erfolgreich für die Schwarz-Roten gekickt. Aber früher ist lange her.
Die Gefahr, dass sich die soziale Dauerkrise zu einer Katastrophe auswächst, ist hier besonders groß. Die einsturzgefährdeten Wohnsilos aus den Fünfzigerund Sechzigerjahren wurden mittlerweile zum großen Teil abgerissen und Neubauten errichtet, um die Siedlung aufzuwerten - die Armut ist geblieben. Man hat sie nur besser versteckt.
Ribérys Bolzplatz auf den Klippen oberhalb der Stadt fiel der Sanierung zum Opfer. Auf dessen Spielfeld wirbelte einst »Ti-Franck«, hier oben spielte er seine Gegner schwindlig - so, als wäre er an der Copacabana geboren. Der Fußball ließ ihn nicht mehr los. Er hatte nur Fußball im Kopf. Fußball war sein Leben, sein Leben war Fußball. Die Schule war ihm ein Gräuel. Entsprechend schlecht waren seine Noten.
Franck konnte minutenlang mit einem Ball jonglieren und kickte in seiner Freizeit mit einer bunt zusammengewürfelten Truppe meistens im K.o.-Modus, wobei der Sieger gleich auf dem Platz blieb und auf den Gegner aus einem anderen Wohnblock traf. So waren die Regeln. Schon damals fiel es ihm schwer, Niederlagen wegzustecken, selbst wenn nichts auf dem Spiel stand. An manchen Tagen kämpfte er geradezu verbissen, ja mit einer aufgestauten Wut im Bauch. Warum nur?
Ribéry - das ist auch die Geschichte einer Narbe. Als Zweijähriger saß er, nicht angeschnallt, im Wagen seines Vaters und prallte bei einem Unfall mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe. Die Eltern kamen mit einem Schock davon, Franck dagegen erlitt Schnittverletzungen. Die Narbe auf der rechten Gesichtshälfte ist fünfzehn Zentimeter lang, die auf der Stirn zehn. »Eine Anschnallpflicht auf der Rückbank gab es noch nicht«, sagt sein Vater François. »Ti-Franck« schwebte in Lebensgefahr - und überlebte knapp.
Er wurde wegen der markanten Narben komisch angeguckt, dumm angemacht. Gleichaltrige verhöhnten und provozierten ihn. Er musste viel einstecken. Die Kränkungen taten ihm sehr weh, sodass er heulte, wenn er allein war. »Quasimodo«, »hässliche Krähe« waren seine spöttischen Namen. Oder er wurde als »Scarface« gedemütigt, eine Anspielung auf den Film »Toni, das Narbengesicht«. Sie demütigten ihn mit Worten. Er sie mit dem Ball. »Ich habe meine Wut ins Spiel gepackt«, sagt er rückblickend. Als er heranwuchs, flogen auch schon mal die Fäuste. Seine Narben waren mehr nützlich als schädlich. Ribéry ohne Narben? Das wäre eigentlich undenkbar. Er mag sein Gesicht mit den schief geratenen Zähnen und möchte die »Andenken« nicht missen. Sie prägten ihn. Sie machten ihn stärker. Sie sind seine Marke.
Ti-Franck war sechs, da kickte er für den FC ContiAOC Aiglon