Anmerkungen
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit haben wir uns entschlossen, durchgängig die männliche (neutrale) Anredeform zu nutzen, die selbstverständlich die weibliche mit einschließt.
Das vorliegende Buch wurde sorgfältig erarbeitet. Dennoch erfolgen alle Angaben ohne Gewähr. Weder der Autor noch der Verlag können für eventuelle Nachteile oder Schäden, die aus den im Buch vorgestellten Informationen resultieren, Haftung übernehmen.
FORMEN FÜR FORTGESCHRITTENE
42ER-MISCHFORM UND WU-STIL-FORM
„LERNEN IST EIN SCHATZ, DER SEINEM BESITZER IMMER FOLGT.“
CHINESISCHES SPRICHWORT
Tai Chi
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der DeutschenNationalbibliografie; detaillierte bibliografische Details sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie das Recht der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form – durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren – ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, gespeichert, vervielfältigt oder verbreitet werden.
© 2020 by Meyer & Meyer Verlag, Aachen
Auckland, Beirut, Dubai, Hägendorf, Hongkong, Indianapolis, Kairo, Kapstadt, Manila, Maidenhead, Neu-Delhi, Singapur, Sydney, Teheran, Wien
Member of the World Sport Publishers’ Association (WSPA)
Gesamtherstellung: Print Consult GmbH, München
ISBN 978-3-8403-7691-7
eISBN 978-3-8403-3724-6
E-Mail: verlag@m-m-sports.com
www.dersportverlag.de
Vorwort
1Einführung
1.1Kampfkunst und Selbstverteidigung
1.2Gesundheitliche Aspekte
2Innere Aspekte des Tai Chi
2.1Philosophische Grundlagen
2.1.1Yin Yang
2.1.2Das System der acht Trigramme und das I-Ging (Yijing)
2.1.3Die fünf Elemente und die Tierfiguren
2.2Konzeption des Chi
2.3Meditation
3Der Körper als Waffe im Tai Chi
3.1Hände (Shou)
3.2Ellbogen (Zhou)
3.3Schulter (Jian)
3.4Hüfte (Kua)
3.5Knie (Xi)
3.6Füße (Jiao)
442er-Mischform
4.1Grundlagen
4.2Beschreibung der Form
537er-Wu-Stil-Form
5.1Grundlagen
5.2Beschreibung der Form
5.3Anwendungen zur 37er-Wu-Stil-Form
Schluss
Anhang
1Links und Literatur
2Bildnachweis
Wer sich längere Zeit mit Tai Chi beschäftigt hat, der weiß, es ist ein weites Feld. Dem Einsteiger in die Materie präsentiert sich eine schier unüberschaubare Fülle an Informationen: Stile, Techniken, Philosophie, Kampf, Gesundheit und vieles mehr steckt in diesem über Jahrhunderte verfeinerten chinesischen Kampfsystem. Ich habe versucht, den komplexen Charakter des Tai Chi in möglichst allen wichtigen Aspekten als eine durchschaubare Einheit im ersten Band dieser Serie vorzustellen. Essenzielle Einheiten sind für mich dabei Chi Gong, Pushing Hands und natürlich die Formen. Leider können bei so einem Projekt nicht alle Aspekte, die interessant sind, behandelt werden. Aus diesem Grund freut es mich sehr, dass mir vom Meyer & Meyer Verlag die Möglichkeit gegeben wird, dies nun in zwei weiteren Bänden nachzuholen.
Im vorliegenden zweiten Band der Serie möchte ich mich näher mit dem Umfeld des Tai Chi auseinandersetzen. Betreibt man diese Kampfkunst über eine längere Zeit, so werden einem schnell kulturelle und philosophische Fragen begegnen. Wahrscheinlich ist keine andere Kampfkunst in solch ein komplexes Netz aus Informationen eingebettet wie das Tai Chi. Selbst historische Schriften sind in einem ungewöhnlich hohen Maß vorhanden. In diesen umfangreichen Wissensschatz gilt es einzudringen und zu versuchen, ihn funktionell in das regelmäßige Training einzubinden und so vorzustellen, dass der Interessierte selbst in die Richtung weiterforschen kann, die ihn besonders interessiert.
Als ausgleichendes Gegenkonzept zu den inneren Aspekten soll in diesem Band auch verstärkt auf die Anwendungen der Techniken und das kämpferische Umfeld eingegangen werden. Zusätzlich zu einem allgemeinen Teil, der die körperlichen Aspekte in der Kampfkunst diskutiert, wird eine komplette Form mit Anwendungen versehen. Dies gleicht der japanischen Praxis des Kata Bunkai.
Die Formen, die vorgestellt werden, sind so ausgewählt, dass sie zusammen mit den zwei Formen des ersten Bandes eine möglichst große Bandbreite der Stilrichtungen des Tai Chi widerspiegeln. Deshalb stelle ich in diesem Band zum einen die Wu-Stil-Form als Beispiel für den mittleren Rahmen vor (vgl. Yang-Stil-Form für den großen Rahmen und Sun-Stil-Form für den kleinen Rahmen im ersten Band), zum anderen die 42er-Form als ein Beispiel für die Kombination verschiedener Stilelemente bzw. Charakteristika in einer einzigen Form. Beide Formen, zusammen mit den Formen, die im ersten Band vorgestellt wurden, decken damit ein breites Spektrum an Techniken und Bewegungsmustern der verschiedenen klassischen Familienstile ab.
Weitere Waffenformen, das Training mit Waffen und sonstigen Hilfsmitteln stehen dann im Fokus des dritten Bandes. Die konzeptuellen Grundsätze des ersten Bandes bleiben in den beiden Folgebänden allerdings die gleichen. In diesem Sinne verfolge ich trotz Exkursionen in die Theorie das Ziel, die Bücher als direkte praktische Trainingshilfe für die Sporttasche zu schreiben. Daher wird auf eine allzu wissenschaftliche Arbeitsweise zugunsten der leichten Anwendbarkeit verzichtet. Es gilt auch, was schon im ersten Band zur Übersetzung der chinesischen Fachausdrücke und deren Schreibung gesagt wurde: Verständlichkeit ist hierbei das wichtigste Kriterium. An dieser Stelle möchte ich mich auch für das positive Feedback bedanken, das verschiedene Leser im Hinblick auf diese Thematik beigesteuert haben.
Obwohl die beiden Folgebände so konzipiert sind, dass sie auch isoliert von Interessenten jeglichen Wissensniveaus gebraucht werden können, empfiehlt sich die Lektüre des ersten Bandes als eine gute Grundlage.
Ich freue mich, auf den folgenden Seiten mein Wissen und meine Gedanken über Tai Chi zu teilen und hoffe, den Leser auf neue Ansätze und Ideen zu bringen.
Am Anfang jeder regelmäßigen sportlichen Betätigung, ja eigentlich jeden Hobbys, steht die Frage der Motivation bzw. des Grundes, warum man sich mit der Materie auseinandersetzt. Im Bereich des Kampfsports oszilliert die Fragestellung meist zwischen den zwei Polen Selbstverteidigung und Kampfkunst.
Wer wegen der Selbstverteidigung trainiert, ist besonders an der tatsächlichen Anwendung der gelernten Techniken und Prinzipien in einer Notsituation interessiert. Für denjenigen, den die Kampfkunst fasziniert, stehen anstelle der Anwendbarkeit der Techniken andere Themen wie Kreativität, Ausdruck und Bewegungsgefühl im Vordergrund. Beschäftigt man sich intensiv mit Tai Chi, dann kommen zu den beiden oben genannten Aspekten oft noch gesundheitliche Überlegungen dazu. Ich möchte den Anfang dieses zweiten Bandes über Tai Chi nutzen, um diese Themenkomplexe ein wenig einzukreisen und zu diskutieren. Nicht nur Einsteigern in die Materie sollte damit gedient sein, sondern auch routinierte Tai-Chi-Treibende können hier unter Umständen neue Anreize und Ideen für sich entdecken.
Obwohl für die meisten Tai-Chi-Treibenden das Thema Selbstverteidigung nicht an erster Stelle steht, möchte ich trotzdem damit beginnen, da der eigentliche Kampf, sprich die Selbstverteidigung, den Ursprung aller Kampfkünste darstellt, unabhängig davon, ob sich dies im Laufe der Zeit geändert hat.
Die wohl interessanteste Frage in diesem Zusammenhang stellt sich in Bezug auf die Anwendbarkeit der Techniken: Funktionieren diese gegen einen Angreifer oder nicht? Dieser einfachen Frage steht im Hinblick auf Tai Chi eine recht komplexe Antwort gegenüber, denn zunächst gilt es hier, zu hinterfragen, wo denn eigentlich die Techniken stecken: Zum einen sind die Techniken in der jeweiligen Form versteckt, zum anderen werden sie aber auch in den Pushing-Hands-Partnerübungen trainiert. Beide Elemente sind untrennbar miteinander gekoppelt; keins der beiden Teile für sich allein genommen genügt, um den Anforderungen eines Selbstverteidigungssystems gerecht zu werden. Diese inhärente Dichotomie verdeutlicht sehr schön den Ying- und Yang-Charakter von Tai Chi und deutet schon die komplexen philosophischen und kulturellen Grundlagen an.
Was geschieht aber nun konkret? Bei den Partnerübungen wird trainiert, wie Aktionen bzw. Reaktionen des Angreifers unter den jeweiligen Bedingungen zu beantworten und auszunutzen sind. Die in der Form enthaltenen Bewegungsmuster sind dann die tatsächliche Manifestation dieser Antwort. Problematisch ist allerdings, dass diese beiden Teile des Systems keineswegs einfach zu erfassen oder zu erlernen sind. Die Techniken, die in der Form enthalten sind, können auf unterschiedliche Weise interpretiert werden. Manche Techniken und Prinzipien sind absichtlich versteckt, um nur denjenigen zugänglich zu sein, die über lange Zeit regelmäßig trainieren, sozusagen den Eingeweihten. Auch in den Partnerübungen ist eine solide Basis im Tai Chi notwendig, um sie im Kampf wirklich anwenden zu können. Diese Überlegungen deuten schon an, dass Tai Chi kein System ist, welches einen schnellen und unkomplizierten Zugang zur Selbstverteidigung ermöglicht. Dies zeigt sich unter anderem auch in der Tatsache, dass der Kampfcharakter leicht vergessen wird und Tai Chi oft aus anderen Gründen, wie z. B. zur Entspannung, betrieben wird. Hat man allerdings die Geduld, sich mit der martialischen Ausprägung des Tai Chi zu beschäftigen, wird man überrascht feststellen, dass viele realistisch anwendbare und extrem durchdachte Möglichkeiten der Kampfanwendung in dieser Vorgehensweise enthalten sind. So wird z. B. durch die taktile Schulung im Pushing Hands die Reaktionszeit auf einen Angriff extrem verkürzt. Außerdem ist es nicht nötig, zu sehen, wo der Angriff herkommt, da dieser ja erfühlt wird. Durch die Kombination der verschiedenen Spiele lernt man, auf die verschiedensten Angriffe korrekt zu reagieren, ohne sich vorher eine komplizierte Strategie überlegen zu müssen. Die in den Formen versteckten Anwendungen decken darüber hinaus ein weitgefächertes Spektrum an Technikarten ab: Würfe und Hebeltechniken sind ebenso enthalten wie Tritte, Schläge und Stöße.
Abgesehen von der Thematik, die sich mit den Techniken und Übungsformen, deren Stelle bzw. Auffindbarkeit im System beschäftigt, wird man im Tai Chi mit einem weiteren Punkt konfrontiert, der in anderen Kampfsystemen so nicht existiert: Alle Techniken, einerlei, ob in der Form oder den Partnerübungen, werden normalerweise extrem langsam trainiert. Demgegenüber steht die Tatsache, dass Angriffe explosiv, schnell und gewaltsam erfolgen. Wie also erklärt sich dieses seltsame Vorgehen? Es ist natürlich klar, dass bei manchen Techniken eine gewisse Geschwindigkeit notwendig ist, um diese erfolgreich anwenden zu können. Schläge und Tritte beispielsweise funktionieren nur schnell.
Was in dieser Hinsicht oft vergessen bzw. verwechselt wird, ist, dass Training und Kampf sich unterscheiden. Das zeitlupenhafte Ausführen der Bewegungen im Tai Chi ermöglicht eine außerordentlich feine Lernkontrolle und garantiert eine fehlerfreie Bewegungsausführung nach genügender Trainingszeit. Außerdem fördert diese Art des Trainings die Entspannung und lässt die Atmung als trainierbare Größe mit in die Übungen einfließen; korrekte Atmung und Entspannung wiederum sind Fähigkeiten, die sich in einer Kampfsituation sehr positiv auswirken.
Abgesehen von der Übungssituation ist Geschwindigkeit im Kampf oft auch eine Fähigkeit, die eher mit dem Erkennen des richtigen Zeitpunkts zu tun hat, als mit der Schnelligkeit der Technikausführung, denn nicht alle kampfentscheidenden Techniken müssen schnell ausgeführt werden. Wird sie zum richtigen Zeitpunkt eingesetzt, zum Beispiel, wenn der Angreifer ein labiles Gleichgewicht hat, dann kann auch eine Technik wie langsames Schieben zum Erfolg führen. Eng verknüpft mit dieser Thematik ist die Anwendung von innerer Energie auf die Technik, sprich deren Projektion auf den Gegner. Dieses Konzept möchte ich an dieser Stelle noch nicht ansprechen, sondern später zusammen mit der Theorie des Chi in den chinesischen Kampfkünsten abhandeln.
Es bleibt ein wichtiger Aspekt zum Thema Selbstverteidigung und Kampf, der allgemein in allen Wettkampfsportarten einen hohen Stellenwert einnimmt: die mentale Einstellung. In Sportarten wie Tennis oder Golf wird oft gesagt, dass die mentale Komponente meist wichtiger sei, als die eigentliche Technikausführung. Unter dieser Prämisse wird leicht verständlich, dass sie in einer Selbstverteidigungssituation, bei der es ja um die eigene körperliche Unversehrtheit geht, mindestens ebenso wichtig ist. Diese mentale Komponente lässt sich meiner Meinung nach in drei Unterkategorien einteilen: Angst, Körperspannung und Taktik.
Wie der Einzelne in einer bedrohlichen Situation mit Angst und Panik umgeht, ist natürlich zu einem großen Teil subjektiv. Es gibt aber Hilfsmittel, die dazu dienen, diese Gefühle zu nutzen oder zumindest so zu verändern, dass man nicht von ihnen gelähmt wird. Tai Chi nutzt hier zum einen die Atmung und zum anderen die Vertrautheit mit der langjährig trainierten Technik, um dem Kämpfer Sicherheit zu geben. Durch die im Tai Chi geübte Ein-Drittel- zu Zwei-Drittel-Atmung, die im Trainierenden automatisiert ist, kann durch unbewusste Entspannungsprozesse im Körper die Aufregung reduziert werden; man denke in diesem Zusammenhang an die Idee der progressiven Muskelentspannung von Jacobson, die ganz ähnlich funktioniert. Sollte die Atmung sich durch die Stresssituation stark beschleunigen, so sollte der Tai-Chi-Trainierte dies durch seine lange im Training wiederholten Atemübungen schnell bemerken und beheben können.
Ein damit sehr eng zusammenhängendes Thema ist die Problematik der verstärken Anspannung in Stresssituationen. Im Kampf hat dieses Stresssymptom die ungute Auswirkung, dass alle Aktionen stark verlangsamt sind und die Feinkoordination der Muskeln beeinträchtigt ist. In der chinesischen Lehre der Körperenergie (Chi) hat dies außerdem den Stau von Chi zur Folge, darüber wird später ausführlich berichtet. Tai-Chi-Training befasst sich mit diesem Problem dadurch, dass besonders im Formentraining darauf geachtet wird, in welchem Maß die Körperspannung vorhanden ist. Normalerweise ist die Vorgabe so, dass versucht wird, gerade so viel Spannung zu erzeugen, dass die jeweilige Figur korrekt ausgeführt werden kann, aber nicht mehr. Das Stichwort in diesem Zusammenhang ist „sanfte Berührung“ (soft touch), ein Terminus, der den meisten Tai-Chi-Treibenden geläufig ist.
Ein letztes, natürlich ebenfalls eng mit den oben genannten Punkten verknüpftes Problem, ist die Tatsache, dass Stress die taktischen Fähigkeiten, d. h. die Planbarkeit von Aktionen, stark beeinträchtigt. Die Tai-Chi-Antwort darauf ist, die Abfolge der Techniken in den Formen in ein entsprechendes logisches Muster einzubauen. Dies wird unterstützt durch die taktilen Fähigkeiten, die im Pushing-Hands-Training geübt werden. Durch die in den Formen vorgegebenen Technikabfolgen wird dem Tai-Chi-Kämpfer ein klares Repertoire an Antworten auf Angriffe zur Verfügung gestellt, sodass er diese automatisch auch unter Stress abrufen kann. Voraussetzung dafür ist natürlich ein langjähriges regelmäßiges Training der Formen, das auch das Üben der Anwendungen miteinschließt. Die Pushing-Hands-Partnerübungen unterstützen dies, indem sie automatisch, durch das taktile Training programmiert, die korrekte erste Abwehr auf den Angriff vorgeben, z. B. bei übermäßigem Druck nachgeben, bei gefühlter Schwächen schieben etc.
Das Fazit, welches ich zum Thema Selbstverteidigung im Tai Chi ziehe, ist: Tai Chi als System bietet durchaus die Möglichkeit zur Selbstverteidigung an. Inwieweit dies natürlich angestrebt wird, bleibt jedem selbst überlassen. Stellt Selbstverteidigung allerdings die Hauptmotivation für das Tai-Chi-Training dar, dann muss entsprechend trainiert werden; dies umfasst z. B. schnelles Üben von Schlägen und Tritten (unter Umständen an Pratzen oder am Sandsack), Situationen trainieren, Stresssituationen bewältigen und vieles mehr. Meiner Ansicht nach wird dies in den meisten Gruppen nicht durchgeführt. Ich selbst räume der Selbstverteidigung in meinem Training ebenfalls einen eher geringen Stellenwert ein. Das hat mit der historischen Entwicklung des Tai Chi vom Kampfsystem hin zur Bewegungsschulung ebenso zu tun, wie mit der Vorstellung, die sich in den Köpfen der Trainierenden über Tai Chi festgesetzt hat. Trotzdem finde ich, bleibt die tatsächliche Möglichkeit, die das Tai Chi zur Selbstverteidigung bietet, ein faszinierendes Thema, das ich auch immer wieder gerne ins reguläre Training einbringe, um die Routine aufzulockern.
In seinem Bestseller Flow (1990) beschreibt Mihaly Csikszentmihalyi das gleichnamige Phänomen als ein völliges Aufgehen in einer bestimmten Tätigkeit. Dieses extreme Einswerden mit dem, was man tut, erzeuge, so Csikszentmihalyi, ein bleibendes Glücksgefühl. In Bezug auf Kampfkünste wie Tai Chi schreibt er, dass in diesem Sinne das Ausführen der Kampfkunst eine glücklich machende Kunstform sei, in der sich die Dualität von Körper und Geist in einer gleichsam ekstatischen Verschmelzung zu einer einzigen zielgerichteten Einheit vereine (vgl. Csikszentmihalyi, 1990, S. 106).
Dieser kurze Exkurs soll als Einführung in den anderen Pol des Kampfaspekts des Tai Chi dienen.
Was damit gesagt werden soll: Man kann natürlich auch den Fokus auf Kampf als Kunstform, also Kampfkunst anstelle von Selbstverteidigung legen, so wie es in Flow beschrieben wird.
Der ausschlaggebende Aspekt ist die Idee eines persönlichen Wachstums und einer Verbesserung des Daseins im Sinne der Selbstverwirklichung. Gerade in einem so komplexen System wie Tai Chi kann man sehr gut seine Fortschritte sehen. Bewegungssequenzen, die einem am Anfang unmöglich schienen, werden nach einiger Zeit ohne Probleme ausgeführt. Auch die bei Csikszentmihalyi angesprochene Fokussierung des Geistes ist sehr attraktiv, da gerade im modernen Leben eine Verzettelung im Beruf oder im Privatleben oft unvermeidlich scheint. In diesem Sinne steht sozusagen nicht das Werk, sondern der Künstler im Mittelpunkt, da er es ist, der die Vorteile der Aktivität nutzt und nicht der Zuschauer.
Doch nicht nur die ernsthafte Fokussierung auf das Tun ist von Bedeutung, sondern der Spaß an der Bewegung an sich, ist ebenso wichtig für diejenigen, die Kampfkunst betreiben. Gerade die hohe Komplexität im Tai Chi stellt eine Herausforderung für Bewegungsenthusiasten dar. Obwohl die Bewegungen natürlich die gleichen sind, die auch in der Selbstverteidigung verwendet werden, liegt nun der Schwerpunkt auf dem Spaß, den diese Bewegungen bieten. Die gleichförmig ruhigen und grazilen Bewegungen erzeugen aber nicht nur Freude bei der Person, die sich bewegt, sondern auch beim Zuschauer. Tai Chi bietet in dieser Hinsicht auch einen hohen Anspruch an die Ästhetik, wie wir sie oft in den Tanzsportarten finden. Oft werden die Formen im Tai Chi von Musik begleitet, um dies zu verstärken. Hier scheiden sich allerdings oft die Geister, ob die Musikuntermalung eher passend ist oder nicht. Musik-CDs für Tai Chi gibt es zumindest massenweise!