Gregor Müller
Völkerschau
Kriminalroman
Tod im Charlottenhof Kriminalcommissar Kreiser kann sich vor Aufgaben kaum retten: Aus der Leipziger Völkerschau verschwindet ein Afrikaner und kurz darauf bekommt er seinen ersten Mordfall zugewiesen. Bei dem Toten handelt es sich um den stadtbekannten Fabrikanten Carl August Georgi. Mit dem kauzigen Staatsanwalt Möbius und der scharfsinnigen Vermieterin Hannah an seiner Seite macht er sich auf die Jagd nach dem Mörder. Schnell gerät der vermisste Afrikaner unter Verdacht. Ist er geflohen, um einer Strafe zu entgehen? Als klar wird, dass Georgi bei seinen Mitmenschen alles andere als beliebt war, steigt die Zahl der Verdächtigen. Die Suche nach dem Täter führt Kreiser in die stark hierarchisierte Gesellschaft einer Großstadt während der Hochindustrialisierung. Zwischen sozialem Wandel und technischem Fortschritt versuchen die Ermittler zu ergründen, wen hier die Schuld trifft …
Gregor Müller wurde 1987 in Lichtenstein geboren und lebt seit über 10 Jahren in Leipzig. Nach einem Studium der Klassischen Archäologie arbeitete er mehrere Jahre als Rechercheur und Redaktionsassistent für Fernsehdokumentationen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. „Völkerschau“ ist seine erste Publikation und der Auftakt zu einer Reihe historischer Kriminalromane, die in Leipzig an der Wende zum 20. Jahrhundert angesiedelt sind.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2020
Lektorat: Teresa Storkenmaier
Herstellung: Julia Franze
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Z0008413.jpg und https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Fotothek_df_roe-neg_0006580_014_Bild_Litfaßsäule_mit_Filmplakaten_für_%22Ernst_Thä.jpg; Stadtgeschichtliches Museum Leipzig, Inventarnummer PK 3003
Druck: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-8392-6370-9
Für Hilenia
Er stand unter einer alten Linde in der Sonne und schaute einem Vogelschwarm hinterher, der aufgeschreckt davonflatterte. Sein Blick folgte den Vögeln, bis sie im Süden hinter den Bäumen verschwanden, und er fragte sich, ob sie wohl in seine Heimat fliegen würden, die er schon so lange nicht mehr gesehen hatte. Ein bitteres Lächeln legte sich um seine Lippen, als er daran dachte, dass in dieser Richtung nicht nur seine Vergangenheit, sondern auch seine Zukunft lag. Einzig wenige Kilometer trennten ihn von dem Mann, den er nun schon fast sein ganzes Leben lang suchte, und er bildete sich ein, ihn beinahe riechen zu können.
Den Gedanken als widersinnig verwerfend, wandte er sich schließlich ab und ließ seinen Blick fast wehmütig über seine Leidensgenossen gleiten, die eingeschüchtert vor ihren Hütten standen. Noch vor wenigen Monaten hatte er keinen aus der Gruppe gekannt, doch im Laufe ihrer Reise waren sie ihm zu Brüdern und Schwestern geworden. Zu Beginn hatten sie viel untereinander gestritten und gekämpft. Schnell hatten sie begriffen, dass sie ihr gemeinsames Ziel nur erreichen würden, wenn sie zusammenhielten und sich gegenseitig unterstützten. Noch bevor sie ein Viertel der Wegstrecke hinter sich gebracht hatten, war die Gruppe auf weniger als die Hälfte ihrer ursprünglichen Größe zusammengeschrumpft. Jetzt waren nur noch die Stärksten und Zähesten übrig: Neben den Männern umfasste die Gemeinschaft nur noch eine einzige Alte, wenige Frauen und eine Handvoll Kinder.
Er hatte nicht zu den Stärksten gehört, aber dennoch überlebt. Allein seine Willenskraft hatte es ihm erlaubt, sich so lange zu behaupten und weit genug zu kommen, dass sein Ziel nun fast zum Greifen nah war. Sein ganzes Leben hatte er darauf hingearbeitet, in dieses Land, diese Stadt zu kommen. Um in Leipzig den zu treffen, der dafür verantwortlich war, dass er nun hier unter der Linde stand.
Als er den großen hageren Mann in dem weißen Leinenanzug seinen Namen rufen hörte, kam er schlagartig ins Hier und Jetzt zurück. An dem wutverzerrten Gesicht des Weißen sah er sofort, dass er heute Abend Schläge würde ertragen müssen. Anscheinend hatte er wieder einmal nicht gleich gehört, dass sein Name aufgerufen worden war.
Er wusste, dass er die Züchtigungen aushalten würde, dass sie seinen Willen unmöglich brechen konnten, nicht so kurz vor dem Ziel. Aber da er für sein Vorhaben körperlich in bester Verfassung sein musste, musste er sich hüten, den Hageren nicht noch weiter zu reizen. Keinesfalls durfte er es so weit kommen lassen wie vor einem Jahr, als er fast unter dem Stock krepiert war.
Also drehte er sich um und ging bedrohlich auf den Zaun zu, vor dem die dumpfe Masse stand, die ihn mit offenen Mündern angaffte. Breitbeinig stellte er sich vor den Zaun und ging ganz leicht in die Hocke, als wollte er mit einem Satz darüberspringen. Er biss die Zähne zusammen, bis sie knirschten, und riss die Augen so weit auf, dass sie schmerzten.
Er stierte zurück, musterte den Mob auf der anderen Seite und kostete den Augenblick aus. Immerhin würde es das letzte Mal sein, dass ihn ein Zaun von den davorstehenden Menschen trennte. Morgen früh würde er in ihre Welt abtauchen und unbekannt darin herumschleichen, bis er sein Ziel erreicht hatte. Die Schmach, angestarrt und beschimpft zu werden, würde er sicherlich nicht vermissen. Aber sie war in den letzten Monaten ein so großer Bestandteil seines Alltags geworden, dass er sich ein Leben ohne kaum noch vorstellen konnte.
Je länger er den wilden Blick auf die Gruppe gerichtet hielt, umso mehr stachen einzelne Gesichter daraus hervor. Hier und da sah er ein Augenpaar, das ihm keine Sekunde standhalten konnte und fast sofort beschämt auswich. Weitaus häufiger waren jedoch die, die jede seiner Bewegungen mit kaltem, emotionslosem Interesse verfolgten.
Und dann gab es da die Gruppe der Gesichter, die ihn mit unverhohlener Abscheu anstarrte. Sie stellte nicht die Mehrheit dar, aber sie war groß genug, um ihm Schauer über den Rücken zu jagen. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn und jede Faser seines Körpers schrie förmlich danach, sich endlich abzuwenden, wegzurennen und irgendwo zu verstecken.
Er dachte an eine Geschichte zurück, die er als Kind einmal gehört hatte: Ein mächtiger Krieger seines Stammes hatte behauptet, einen Löwen allein mit wildem Blick und Gebrüll in die Flucht geschlagen zu haben. Also riss er selbst die Augen noch weiter auf und bleckte seine Zähne. Die Muskeln, die seine Kiefer aufeinanderdrückten, waren bis zum Bersten gespannt und mit einem einzigen markerschütternden Schrei schleuderte er seinen Betrachtern ihren Hass zurück über den Zaun.
Wie jedes Mal verfehlte der Auftritt seine Wirkung nicht. Die Menge wich erschrocken zurück und eine zierliche Dame fiel auf der Stelle in Ohnmacht. Während sie von den einfühlsameren Herren umsorgt wurde, rückten die gewaltbereiten unter Drohgebärden noch näher an den Zaun heran.
Gerade als die Stimmung zu kippen drohte, sprang der Hagere zwischen ihn und die tobende Menge und sprach besänftigend auf sie ein. »Meine Herren, bitte beruhigen Sie sich. Es wird Ihnen nicht gelingen, diesen Wilden zu bändigen, da er dem Tier doch näher steht als dem Menschen. Was sagen Sie, Sie glauben nicht, dass er eine Bestie ist? Dann will ich es Ihnen beweisen! Betrachten wir einmal ganz genau sein Gebaren.«
Der Hagere drehte sich um und gab ihm ein für die anderen unsichtbares Zeichen. Er beendete seinen wilden Schrei, streckte den Rücken durch und sog die Luft durch die Nase, als würde er eine Witterung aufnehmen. Dann lief er an dem Zaun auf und ab, wobei er die Arme wild an seinen Seiten schwingen ließ – eine Bewegung, die er sich von den Menschenaffen im Nachbargehege abgeschaut hatte.
Plötzlich traf ihn etwas Nasses im Gesicht: Einer der noch immer aufgebrachten Besucher hatte ihn angespuckt!
Unwillkürlich bohrten sich seine Füße in den Boden und er hielt in seinen Bewegungen inne. Die Anspannung kroch seine Beine herauf und nahm seinen ganzen Körper in Besitz. Unter Mühen kämpfte er den Instinkt zurückzuspucken schnell wieder hinunter. Er konnte es sich nicht erlauben, den Hageren zu sehr zu verärgern – nicht heute. Also vergaß er seinen Stolz, machte auf dem Absatz kehrt und ging an dem Zaun zurück, als hätte er die Beleidigung nicht bemerkt.
Ein letztes Mal ließ er sich noch demütigen, bevor er morgen ein neues Leben beginnen würde. Ein Leben, in dem er nicht mehr Mawuwe, der wilde Neger vom Stamm der Ewe sein würde, den man im Zoologischen Garten begaffen konnte, sondern ein richtiger Mensch. Alles, was ihn davon noch trennte, war ein einziges Treffen.
Er hatte keine Ahnung, wie sehr er sich irrte.