Die Druckvorstufe dieser Publikation wurde vom Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung unterstützt.
Zugl.: Phil. Diss. Univ. Halle-Wittenberg, 2018
Julia Kiesler
Der performative Umgang mit dem Text
Ansätze sprechkünstlerischer Probenarbeit im zeitgenössischen Theater
Recherchen 149
© 2019 by Julia Kiesler, lizenziert unter CC-BY 4.0
Verlag Theater der Zeit
Verlagsleiter Harald Müller
Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany
www.theaterderzeit.de
Lektorat: Erik Zielke
Gestaltung: Sibyll Wahrig
Umschlagabbildung: Probenfoto von Faust. Der Tragödie erster Teil in der Regie von Claudia Bauer am Konzerttheater Bern. © Annette Boutellier
Printed in Germany
ISBN 978-3-95749-240-1 (Taschenbuch)
ISBN 978-3-95749-228-9 (ePDF)
ISBN 978-3-95749-229-6 (EPUB)
ISBN 978-3-95749-251-7 (Open Access)
Ansätze sprechkünstlerischer Probenarbeit
im zeitgenössischen Theater
DANKSAGUNGEN
EINLEITUNG
FORSCHUNGSLAGE
1Zum Begriff des zeitgenössischen Theaters
2Semiotische und performative Perspektiven
3Theorie des Performativen
4Klassifizierung von Spiel- und Sprechweisen
5Fazit: Der performative Umgang mit dem Text – Versuch einer Definition
METHODENDESIGN
1Theaterproben als Untersuchungsgegenstand
2Probenprozessbeobachtung
3Probenprozessanalyse
KONZEPTIONELLE UND INSZENATORISCHE ASPEKTE DREIER PROBENPROZESSE
1Konzeptionelle Aspekte der Probenarbeit von Laurent Chétouane im Rahmen des Workshops „Shakespeare-Sonette“ an der Hochschule der Künste Bern
2Konzeptionelle Aspekte der Produktion Biedermann und die Brandstifter von Max Frisch in der Regie von Volker Lösch am Theater Basel
3Konzeptionelle Aspekte zur Faust-Inszenierung von Claudia Bauer am Konzerttheater Bern
4Fazit: Aspekte performativer Situationsanordnungen
DIE BEHANDLUNG DES TEXTES ALS MATERIAL
1Problemstellung
2Kontingenz als Kennzeichen einer entstehenden Textfassung
3Intertextuelle Arbeitsweisen
4Kompositionsprozesse
5Fazit: verstärkte Autorschaft von Schauspieler/-innen und Regieteams
PERFORMATIVE ANSÄTZE DER TEXTERARBEITUNG
1Einführung ins Kapitel
2Methodischer Referenzrahmen
3Interperformative Bezüge
4Sprechen auf der Basis von Nicht-Wissen: methodische Aspekte der Textarbeit im Probenprozess von Laurent Chétouane
5Die musikalische Arbeit am Text: Musikalisierungsprozesse in den Probenarbeiten von Claudia Bauer, Peer Baierlein, Volker Lösch und Bernd Freytag
6Weitere methodische Aspekte der chorischen Textarbeit
7Intervokale Herangehensweisen
8Die Trennung von Spiel und Sprache
9Dimensionen performativer Texterarbeitungsansätze und ihrer vielstimmigen und polysemantischen Erscheinungsformen
SPRECHKÜNSTLERISCHE PHÄNOMENE
1Rhythmus als sprechkünstlerisches Phänomen
2Zäsur, Pause und Sprechgeschwindigkeit als sprechkünstlerische Phänomene
3Stimmklang als sprechkünstlerisches Phänomen
4Fazit: die performative Funktion sprechkünstlerischer Phänomene
FÄHIGKEITEN FÜR EINE PERFORMATIVE SPIELPRAXIS
1Zwischen Virtuosität und Persönlichkeit
2Bewusstsein für ein relationales Raumkonzept und performatives Situationsverständnis
3Offenheit und Erlebnisbereitschaft als Gelingensbedingungen für die Entfaltung eines transformatorischen Potentials
4Reflexionsfähigkeit und Autorschaft als Kompetenzen der Schauspielerpersönlichkeit
5Bewusstsein für verschiedene Spiel- und Sprechweisen und deren Brüche
6Kompetenzen für einen performativen Umgang mit Texten und gesprochener Sprache
7Umgang mit Emergenzen und den Ambivalenzen von Tun und Nicht-Tun
8Fazit: Rückschlüsse für die Schauspielausbildung
ZUSAMMENFASSUNG, AUSBLICK UND DESIDERATA
QUELLENVERZEICHNIS
ANHANG
An erster Stelle möchte ich all den Menschen danken, die sich dazu bereit erklärt haben, dass ich ihre Probenprozesse beobachten und ihnen bei ihrer Arbeit über die Schulter schauen durfte. Mein Dank gilt den Schauspieler/-innen und Akteur/-innen der drei untersuchten Produktionen sowie den Regisseur/-innen Claudia Bauer, Laurent Chétouane und Volker Lösch, dem Chorleiter und Regisseur Bernd Freytag und dem Musiker Peer Baierlein, deren Arbeitsprozesse ich begleitet habe. Ohne sie wäre die vorliegende Studie nicht zustande gekommen.
Ebenfalls nicht zustande gekommen wäre diese Arbeit ohne mein Forschungsteam. Ich bedanke mich bei Herrn Prof. Dr. Thomas Strässle und bei Frau Dr. Priska Gisler, die sich an der Hochschule der Künste Bern sehr dafür eingesetzt haben, dass das Forschungsprojekt, aus dem die vorliegende Untersuchung hervorgeht, durchgeführt werden konnte. Sie standen mir über den gesamten Zeitraum unterstützend und beratend zur Seite, ebenso wie Herr Prof. Wolfram Heberle, der mir als Leiter des Studienbereichs Theater der Hochschule der Künste Bern zugleich die Möglichkeit gab, dieses Projekt überhaupt durchzuführen. In dieser Hinsicht sei auch dem Leiter des Fachbereichs Theater der Hochschule der Künste Bern Herrn Florian Reichert gedankt, der das Vorhaben ebenfalls unterstützte. Mein ganz besonderer Dank gilt meiner Kollegin Frau Dipl.-Sprechwissenschaftlerin Claudia Petermann, die mit mir gemeinsam an diesem Forschungsprojekt arbeitete. Ihre fachliche Unterstützung und inhaltlichen Anregungen trugen maßgeblich zum Entstehen dieser Arbeit bei.
Dem Schweizerischen Nationalfond, der das Forschungsprojekt „Methoden der sprechkünstlerischen Probenarbeit im zeitgenössischen deutschsprachigen Theater“, aus dem die vorliegende Untersuchung hervorgegangen ist, im Zeitraum von März 2014 bis November 2017 finanziell gefördert hat, ebenso wie die Open-Access-Publikation, sei an dieser Stelle ebenfalls gedankt.
Ganz herzlich möchte ich mich bei Frau Prof. Dr. Ursula Hirschfeld von der Abteilung Sprechwissenschaft und Phonetik des Instituts für Musik, Medien- und Sprechwissenschaften der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg für ihre engagierte und hilfreiche Betreuung meiner Dissertation bedanken, ebenso bei Frau Dr. Martina Haase, die mich zur Bearbeitung dieses Themas inspirierte und mir in vielen inhaltlichen Fragen beratend zur Seite stand. Den Fotografinnen Annette Boutellier und Judith Schlosser sowie der Illustratorin Giovanna Bolliger danke ich für die Genehmigungen zur Veröffentlichung der Fotos und Illustrationen im Anhang, außerdem danke ich meinem Lektor Erik Zielke vom Verlag Theater der Zeit für seine Unterstützung.
Bei meiner Familie bedanke ich mich für alles!
Ich hatte einmal die Illusion, theatralisches Wissen sei etwas, das man sich aneignen und dann besitzen könne. Also schaute ich mich um. Zuerst ging ich zu einem, der noch lebte. Drei Jahre lang saß ich da und beobachtete die Arbeit von Jerzy Grotowski. Dann ging ich nach Indien. Später wandte ich mich an die Toten, an die Quellenwerke der „Lehre“ vom Theater: Stanislawskij, Meyerhold, Brecht, die alten Schriften von Zeami und der Natyashastra. Sie standen alle auf meinem Schreibtisch aufgereiht. Eisenstein war auch dabei. So hatte ich mich vorbereitet, bis an den Tag, an dem ich mit meinen Kollegen vom Odin Teatret die Arbeit aufnahm. Liegt es an diesem Wissen, an dem ich als Zuschauer oder als Leser teilhatte, daß heute einige Menschen mit mir arbeiten möchten und mir Fragen über die Arbeit des Schauspielers stellen? Oder liegt es an den Ergebnissen, die von unseren Schauspielern erreicht wurden? (Barba 1985, 90)
Diese kleine Anekdote des italienischen Theatermachers Eugenio Barba fragt danach, ob künstlerisches Wissen erlernbar ist oder ob es vielmehr aus der Erfahrung eines kreativen Prozesses hervorgeht, der zugleich ein Prozess der Erforschung künstlerischer Arbeit ist. Sie wirft die Frage nach der Sinnhaftigkeit von Probenbeobachtungen auf und verweist damit auf ein Untersuchungsgebiet, dem sich die vorliegende Studie widmet.
Jeder Probenprozess im Theater lässt sich als ein künstlerischer Forschungsprozess betrachten, in dem spezifische Vorgehensweisen entwickelt werden bzw. zum Einsatz kommen. Wie Matzke schreibt, wird innerhalb von Proben nicht nur eine Aufführung vorbereitet, es wird auch ein spezifisches Wissen generiert (vgl. Matzke 2012, 19). Jeder Probenprozess charakterisiert sich durch den Rückbezug auf bestehende künstlerische Praktiken einerseits sowie auf das Entwickeln neuer Herangehensweisen, Formen und Ästhetiken andererseits. „Als Prozess der Wissensgenerierung trifft sich im Begriff des Probens das Theater mit der Wissenschaft.“ (ebd.) Die Reflexion des Einsatzes und der Entwicklung künstlerischer Praktiken innerhalb eines Produktionsprozesses steht im Zentrum der vorliegenden Untersuchung. Eine solche Reflexion kann dazu beitragen, eine veränderte Perspektive auf die schauspielerische Darstellung zu eröffnen. Sie kann zum einen Impulse für die Weiterentwicklung der eigenen künstlerischen Arbeit setzen, zum anderen kann sie der Vermittlung künstlerischer Verfahren, Methoden und Arbeitsweisen im Rahmen von Ausbildungsprozessen dienlich sein.
In seiner wissenschaftlichen Ausrichtung ist die Probenprozessbeobachtung noch jung. Insbesondere innerhalb der angewandten Theaterwissenschaft ist seit einiger Zeit ein Paradigmenwechsel von der Aufführungsanalyse zur Aufarbeitung unterschiedlicher Probenprozesse zu verzeichnen (vgl. Kurzenberger 2009b, 7). Melanie Hinz und Jens Roselt sondieren in ihrer Publikation Chaos und Konzept ein neues Forschungsfeld, indem sie nach den Poetiken sowie nach konkreten Techniken und Verfahren des Probierens im Theater fragen (vgl. Hinz/Roselt 2011, 9). Im Fokus stehen einzelne Regisseurinnen und Regisseure und ihre individuellen Arbeitsweisen mit Schauspielerinnen und Schauspielern sowie ihr Umgang mit Texten und Situationen. Daran schließt die hier vorliegende Arbeit an.
Ihre Untersuchungen bewegen sich im Umfeld des zeitgenössischen deutschsprachigen Theaters und gehen aus einem Forschungsprojekt hervor, das ich an der Hochschule der Künste Bern ins Leben rief. Das Forschungsprojekt mit dem Titel „Methoden der sprechkünstlerischen Probenarbeit im zeitgenössischen deutschsprachigen Theater“ ging von der Beobachtung aus, dass sich die Anforderungen an Schauspielerinnen und Schauspieler in der Theaterpraxis sowohl im darstellerischen als auch im sprachlichen bzw. sprecherisch-stimmlichen Bereich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten stark verändert haben. Texte werden chorisch, simultan oder monologisierend statt dialogisch gestaltet und sind nicht mehr unbedingt in die Repräsentation von Handlungen und schauspielerische Vorgänge auf der Bühne eingebunden. Ausdrucksmöglichkeiten wie Körper, Raum, Licht, Bewegung, Bild, gesprochene Sprache und Stimme treten als gleichberechtigte Mittel neben den Text. Sowohl in Inszenierungen, denen ein postdramatischer Theatertext zugrunde liegt, der dramatische Kategorien wie Figur, Dialog, Handlung, Raum- und Zeitgestaltung auflöst und demnach einen veränderten Umgang der Schauspielerinnen und Schauspieler mit dem Text erfordert, als auch in Inszenierungen klassischer Dramen avancieren die Sprache und ihre Erscheinungsweise auf der Bühne als gesprochene Sprache, als Stimmklang, als Rhythmus, als Melodie von einem Mittel zu einem Thema.
Auf der Grundlage dieser Beobachtungen stellte das Projekt die Frage, wie derartige Sprechweisen und Darstellungsformen innerhalb von Probenprozessen entstehen bzw. entwickelt werden und welche Methoden und Arbeitspraktiken dabei zum Einsatz kommen. Durch die teilnehmende Beobachtung an insgesamt fünf mehrwöchigen Probenprozessen sollte herausgefunden werden, wie der Erarbeitungs- und Gestaltungsprozess eines Textes im zeitgenössischen Theater in der Zusammenarbeit von Schauspieler/-innen und Regisseur/-innen erfolgt. Den Untersuchungsgegenstand des gesamten Forschungsprojekts bildeten die folgenden Probenarbeiten:
–ein Workshop des Regisseurs Laurent Chétouane mit Studierenden der Hochschule der Künste Bern, in dem die Erarbeitung von Shakespeare-Sonetten sowie die Annahme des Regisseurs: „Der Text spricht, nicht ich!“ im Zentrum der Beobachtung standen,
–der Probenprozess zur Inszenierung Biedermann und die Brandstifter von Max Frisch in der Regie von Volker Lösch am Theater Basel, in der insbesondere die chorische Textarbeit fokussiert wurde,
–eine Produktion der Regisseurin Claudia Bauer, die Goethes Faust. Der Tragödie erster Teil am Konzerttheater Bern auf die Bühne brachte und darin einen speziellen Figurenansatz verfolgte,
–der Probenprozess zur Inszenierung Warum läuft Herr R. Amok? nach dem Film von Rainer Werner Fassbinder in der Regie von Susanne Kennedy an den Münchner Kammerspielen, einer Produktion, die mit einem aufgenommenen Playbacktext arbeitete,
–schließlich der Probenprozess zur Inszenierung Wut von Elfriede Jelinek in der Regie von Nicolas Stemann an den Münchner Kammerspielen, in dem die Transformation eines postdramatischen Theatertextes im Zentrum der Beobachtung stand.
Die Auswahl dieser Produktionen ging von der Vermutung aus, dass die aufgeführten Regisseurinnen und Regisseure den Konflikt mit traditionellen, etablierten Theaterpraktiken suchen und mit neuen Darstellungs- und Sprechformen sowie Texterarbeitungsansätzen experimentieren.
Dieser Studie liegen nur die drei erstgenannten Produktionen von Laurent Chétouane, Volker Lösch und Claudia Bauer als Untersuchungsgegenstand zugrunde, da ich selbst an diesen drei Probenprozessen als teilnehmende Beobachterin beteiligt war und diese auf Basis der dort erhobenen Daten in eigenständiger Arbeit ausgewertet und analysiert habe (zu den Ergebnissen der anderen zwei untersuchten Probenprozesse vgl. Kiesler/Rastetter 2017 sowie Rastetter 2017a und 2017b). Die zunächst allgemeine Fragestellung nach der Entstehung „veränderter“ Spiel- und Sprechweisen und deren Herstellungsprozessen wurde spezifiziert, in dem nach den Entstehungsprozessen speziell performativer Praktiken des Spielens und Sprechens auf der Bühne des Theaters gefragt wurde. Der Fokus wurde in der Beobachtung dieser drei Probenprozesse auf Ansätze der Texterarbeitung gelegt, die keine realistische, also wirklichkeitsabbildende Spiel- und Sprechweise hervorbringen, sondern sich im weitesten Sinne einer performativen, d. h. wirklichkeitskonstituierenden Spielpraxis zuordnen lassen.
Dabei stand vor allem der sprechkünstlerische Gestaltungsprozess der Schauspielerinnen und Schauspieler im Zentrum der Beobachtung, da insbesondere der Umgang mit sprecherischen und stimmlichen Gestaltungsmitteln in früheren Inszenierungen der drei genannten Regisseur/-innen auffiel, so die chorische Sprechweise in den Produktionen von Volker Lösch, das verlangsamte, Wort für Wort deklamierende Sprechen innerhalb von Chétouanes Inszenierungen oder die vielfältigen Brüche und Wechsel von Sprechweisen in den Produktionen von Claudia Bauer.
Ziel der vorliegenden Studie ist es, Ansätze der Textarbeit, wie sie in der zeitgenössischen Theaterpraxis zum Einsatz kommen, exemplarisch zu beschreiben und methodisch als „performative Ansätze der Textarbeit“ herauszuarbeiten sowie zu definieren. Darüber hinaus ist es das Ziel, Fähigkeiten und Kompetenzen für die Schauspielausbildung abzuleiten, die im Umgang der Schauspielerinnen und Schauspieler mit performativen Herangehensweisen und Erscheinungsformen beobachtet wurden. Die Studie kommt damit der Forderung nach, Ausbildungsinhalte im Hinblick auf die Theaterpraxis zu überprüfen und zu überdenken. Beobachtete künstlerische Praktiken, Erscheinungsformen und Phänomene werden demnach nicht nur theoretisch, sondern auch anwendungsorientiert betrachtet. Darüber hinaus ist es dieser Studie ein Anliegen, die sprechkunsttheoretische Debatte voranzubringen und Impulse für weiterführende sprechkünstlerische Untersuchungen innerhalb der Sprechwissenschaft zu geben.
Die Arbeit gliedert sich in neun Kapitel. Nach der thematischen Einführung der Untersuchung innerhalb der Einleitung wirft das zweite Kapitel einen Blick auf die sprech- und theaterwissenschaftliche Forschungslage. Es werden theoretische Positionen beider Fachgebiete erörtert mit dem Ziel, ein Verständnis für die Formulierung eines „performativen Umgangs mit dem Text“ zu erlangen. Das dritte Kapitel widmet sich dem Untersuchungsdesign und stellt methodische Schritte vor, die im Rahmen der Probenprozessbeobachtungen und -analysen vollzogen wurden. Im Zentrum der Kapitel vier bis acht steht die Analyse der empirischen Probenprozessuntersuchungen, deren Ziel es war, methodische Ansätze eines performativen Umgangs mit dem Text herauszuarbeiten. Die Gliederung der Kapitel vier bis sechs folgt in Ansätzen der Struktur eines Probenprozesses, an dessen Beginn konzeptionelle Überlegungen zu einer Inszenierung sowie ein oder mehrere Texte als Ausgangsmaterial stehen, das im Rahmen der Probenarbeit performativ transformiert wird.
So stellt das vierte Kapitel zunächst die drei der Untersuchung zugrunde liegenden Produktionen vor, deren Probenprozesse beobachtet wurden. Es werden konzeptionelle und inszenatorische Gesichtspunkte der drei Probenarbeiten beschrieben, auf deren Basis Aspekte performativer Situationsanordnungen herausgearbeitet werden. Das fünfte Kapitel beschäftigt sich mit der Frage, welche Texte den drei Produktionen zugrunde lagen und auf welche Weise diese als Material für die jeweilige Inszenierung bearbeitet wurden. Kontingenzmerkmale, intertextuelle Arbeitsweisen sowie Kompositionsprozesse werden hier als künstlerische Ansätze beschrieben, die eine Textvorlage als Material behandeln und die Autorschaft von Schauspieler/-innen und Regieteams herausfordern.
Das sechste Kapitel bildet das Herzstück und größte Kapitel der vorliegenden Studie. Im Zentrum stehen verschiedene Texterarbeitungsansätze, die als performative definiert und herausgearbeitet werden. Dabei untergliedert es sich in neun Teilkapitel. Nach einer Kapiteleinführung stellen die Teilkapitel 2 und 3 allgemein methodische und speziell interperformative Bezugsgrößen vor, um den nachfolgenden Ausführungen einen referentiellen Zusammenhang geben zu können. Kapitel 4 beschreibt methodische Ansätze der Textarbeit, wie sie im Rahmen der Probenprozessuntersuchung des Workshops von Laurent Chétouane beobachtet wurden. Das Unterkapitel 5 untersucht anhand der Probenarbeiten von Claudia Bauer und Volker Lösch sowie ihrer Ensembles musikalische Ansätze der Textarbeit. Exemplarisch werden einzelne methodische Schritte sowie erforderliche Fähigkeiten der Schauspielerinnen und Schauspieler für eine musikalische Texterarbeitung herausgearbeitet. Im Anschluss daran beschreibt das Unterkapitel 6 methodische Aspekte speziell der chorischen Textarbeit, wie sie insbesondere in der Arbeit von Volker Lösch und dem Chorleiter Bernd Freytag zu beobachten war. Auch hier werden am Ende des Teilkapitels Fähigkeiten herausgestellt, die Schauspielerinnen und Schauspieler für das Chorsprechen benötigen. Das Teilkapitel 7 beschäftigt sich mit einem Texterarbeitungsansatz, der als „intervokale Herangehensweise“ bezeichnet werden soll und in diesem Zusammenhang einen neuen Blick auf das Zitieren und Markieren von Figuren und Sprechweisen wirft. Im Unterkapitel 8 steht die Trennung von Spiel und Sprache zum einen als methodischer Ansatz der Probenarbeit, zum anderen hauptsächlich als ästhetische Herangehensweise, wie sie insbesondere im Rahmen der Faust-Produktion von Claudia Bauer zu beobachten war, im Zentrum. In diesem Kapitel wird auch der Einsatz medialer Techniken durch Videoprojektion oder Mikrofon thematisiert. Im letzten Teilkapitel 9 werden schließlich das darstellerische Potential sowie Wirkungsdimensionen der beschriebenen Texterarbeitungsansätze und deren Erscheinungsformen erörtert.
Die Kapitel sieben und acht nehmen eine verstärkte Reflexionsebene ein. Im Kapitel sieben werden auf Basis der empirischen Untersuchungen ausgewählte sprechkünstlerische Gestaltungsmittel als sprechkünstlerische Phänomene beschrieben und damit Überlegungen zu einer erweiterten Theoriebildung hinsichtlich prosodischer Merkmale angestellt. Das Kapitel acht beschäftigt sich abschließend mit der Frage, welche Fähigkeiten und Kompetenzen aufgrund der Untersuchungsergebnisse für eine performative Spielpraxis abgeleitet werden können und welche Rückschlüsse für die Schauspielausbildung zu ziehen sind. Im neunten und letzten Kapitel der vorliegenden Studie werden die Untersuchungsergebnisse zusammengefasst, methodenkritisch reflektiert sowie Perspektiven für nachfolgende Untersuchungen aufgezeigt.
Die Arbeit richtet sich an Sprechwissenschaftlerinnen und Sprechwissenschaftler, an Sprecherzieherinnen und Sprecherzieher, an Dozierende innerhalb der Schauspielausbildung ebenso wie an Schauspielstudierende, an Theaterwissenschaftlerinnen und Theaterwissenschaftler sowie an Theaterpraktikerinnen und Theaterpraktiker. Eine Schauspielausbildung sollte angehende Schauspielerinnen und Schauspieler auf die vielfältigen Anforderungen, die der Beruf mit sich bringt, vorbereiten. Voraussetzung dafür ist die Wahrnehmung der Theaterrealität und der Anforderungen, die auf der Bühne des zeitgenössischen Theaters gestellt werden. Sich verändernde Anforderungen machen das Überdenken und ein Erweitern bestehender Lehrinhalte nötig. Der vorliegenden Studie kommt demnach eine methodische Bedeutung zu, wenn es gelingt, ihre Forschungsergebnisse direkt in die Theaterpraxis und/oder in die Lehre und Ausbildung von Schauspiel- und Regiestudierenden sowie Studierenden der Sprechwissenschaft als zukünftige Sprecherzieher/-innen an Schauspielschulen und Theatern einfließen zu lassen.
Wissenschaftliche Bedeutsamkeit erlangt die Arbeit durch die Erweiterung des Methodenkanons sowohl für die Theaterwissenschaft als auch für die Sprechwissenschaft. Durch die Methode der teilnehmenden Beobachtung, fokussiert auf den Umgang mit gesprochener Sprache, können Aspekte des Probenprozesses, die sich auf den Erarbeitungsprozess von Texten im zeitgenössischen Theater und die Entstehung von bestimmten Sprechweisen beziehen, untersucht werden. Dank der auditiven Analyse gelangt man auch zu einer genaueren Beschreibung von sprecherischen und stimmlichen Phänomenen. Ebenso wie es allgemein in der Methodologie der Kulturwissenschaft und Sprachphilosophie und speziell innerhalb der Theaterwissenschaft einen Perspektivwandel gegeben hat (vgl. Kolesch/Krämer 2006, 10), nimmt auch die vorliegende Arbeit eine performative Perspektive ein und fokussiert nicht mehr allein Strukturen und Werke, sondern Ereignisse sowie Prozesse der Produktion und Rezeption. Sie leistet damit einen Beitrag zum sich neu konstituierenden Forschungsfeld der Probenforschung innerhalb der Theaterwissenschaft. Die Sprechwissenschaft hat erst in jüngerer Zeit wieder begonnen, sich dem Gegenstand des Theaters zu widmen, ausgehend davon, dass Sprechkunst u. a. am Theater stattfindet. Die vorliegende Arbeit möchte als systematische sprechwissenschaftlich orientierte Untersuchung einen wesentlichen Beitrag in der Diskussion um das zeitgenössische Theater leisten.
Vor dem Hintergrund der Performativität kultureller Prozesse untersucht die vorliegende Studie nicht in erster Linie Aufführungsprozesse, sondern Probenprozesse unter dem Aspekt der Texterarbeitung. Es werden performative Ansätze der Textarbeit herausgearbeitet sowie die damit im Zusammenhang stehenden Anforderungen, vor denen die Schauspielerinnen und Schauspieler im Zuge dieser Herangehensweisen standen. Um zu erläutern, was unter einem „performativen Umgang mit dem Text“ überhaupt zu verstehen ist, widmet sich das folgende Kapitel dem Begriff der „Performativität“. Im Zentrum stehen das Klären von Begrifflichkeiten und die Einordnung der Arbeit in die theater- und sprechwissenschaftliche Forschung. Nachdem zunächst der Begriff des „zeitgenössischen Theaters“ in Abgrenzung zum Begriff des „postdramatischen Theaters“ begründet wird, soll anschließend ein Verständnis des Begriffs „performativ“, wie er im Rahmen der hier vorliegenden Untersuchung Anwendung findet, etabliert werden.
Das zeitgenössische Theater zeichnet sich durch eine Vielzahl an Arbeitsweisen, Darstellungsformen und, damit verbunden, auch Sprechweisen aus. Die Grenzen zwischen Theater, Performance, Tanz, bildender Kunst, Musik und der Arbeit mit neuen Medien sind schon seit einiger Zeit fließend geworden. Nicht mehr der Text steht im Zentrum zeitgenössischer Inszenierungen, sondern theatrale Zeichen wie Licht, Raum, Bühnenbild, Körper, Bewegung, Stimme, Zeit und Musik treten als gleichberechtigte Elemente einer Inszenierung nebeneinander. Text tritt als gesprochene Sprache in besonderer Weise hervor, wobei sich gesprächsferne Redeformen bzw. nicht-illusionistische Figuren- und Handlungskonzepte wiederfinden und die Dialogform radikal infrage gestellt wird. Monologische sowie chorische Möglichkeiten des Theaters werden neu bewertet (vgl. Roselt 2005, 69 f.). Birkenhauer spricht vom Theater der Gegenwart als einem „Ort polyphoner Diskurse und entbundener Signifikanten“ (Birkenhauer 2013, 7).
Hans-Thies Lehmann subsumiert derartige Erscheinungsweisen in seiner gleichnamigen Publikation unter dem Begriff des „postdramatischen Theaters“ und etabliert damit ein Verständnis von Theater, das jenseits des Dramas operiert (vgl. Lehmann 1999, 30). Der Begriff „postdramatisch“ wurde bereits 1987 von Andrzej Wirth, jedoch ohne weitere Ausdifferenzierung, zur Charakterisierung zeitgenössischer Theaterformen verwendet (vgl. Weiler 2005, 245) und auch Gerda Poschmann analysierte bereits 1997 in ihrer Publikation Der nicht mehr dramatische Theatertext angesichts einer „postdramatischen Theaterkunst“ (Poschmann 1997, 1) Texte u. a. von Werner Schwab, Peter Handke, Heiner Müller und Elfriede Jelinek, „die mit dem, was im Allgemeinen unter ‚Drama‘ verstanden wird, nichts mehr zu tun haben“ (ebd. 4). Der Begriff „postdramatisch“ wird demnach einerseits für die Beschreibung von Theaterformen gebraucht, die sich „vom Gebrauch dramatischer Literatur als Vorschrift für ein Inszenierungsgeschehen“ (Weiler 2005, 245) lösen, andererseits für Texte, denen dramatische Kategorien wie Figur, Dialog, Handlung, Raum- und Zeitgestaltung fehlen. Daran anschließend trifft Haase die Unterscheidung zwischen „postdramatischen Theatertexten“ und „postdramatischen Inszenierungsweisen“ (vgl. Haase 2013d, 6).
Der Begriff des „postdramatischen Theaters“ zielt jedoch nicht auf ein Theater jenseits des Textes. Vielmehr werden mit ihm Theaterformen umschrieben, die den Text als theatrales Material begreifen, mit dem Sprache in ihrer jeweils spezifischen Performativität zur Geltung gelangt. Ausdruckselemente wie Körper und Stimme „verbinden sich nicht in psychologischer Absicht zu Zeichen für eine außertheatrale Wirklichkeit, sondern sind selbst ‚Aufmerksamkeit fordernde Manifestationen‘, die als je Besondere wahrgenommen werden wollen, ohne dass sie sich auf den ersten Blick zu einem übergeordneten Sinn zusammenschließen lassen“ (Weiler 2005, 247 f.). Theatermittel treten in postdramatischen Inszenierungsweisen nicht nur in ihrer Referentialität, sondern insbesondere in ihrer Phänomenalität hervor. In Bezug auf stimmliche Erscheinungsformen konstatiert Jenny Schrödl:
Im postdramatischen Theater hat eine Verschiebung der Inszenierungs- und Präsentationsweisen von Stimmen stattgefunden, auch als Resultat verschiedener künstlerischer Bemühungen seit den historischen Avantgarden und den 1960er Jahren. Im Vordergrund steht nicht mehr allein das, was verlautbart wird und somit die Artikulation von Sprache und Rede, die Darstellung von Figuren, die Erzählung und Repräsentation von Geschichte. Man konzentriert sich vielmehr darauf, wie etwas verlautbart wird, und setzt so den Fokus auf die Ausstellung der Stimme und den Vollzug des Sprechens selbst, auf die Hervorbringung von materiellen Erscheinungen von Stimmen im Hier und Jetzt einer Aufführung. Die Stimme als theatrales Element erhält so einen autonomen Status diesseits von Sprache und Subjekt, diesseits von semantischen, expressiven und instrumentellen Funktionen. (Schrödl 2012, 16 f.)
Für die Zuschauerinnen und Zuschauer ergeben sich aufgrund der Uneindeutigkeit, Polyvalenz und Simultanität postdramatischer Erscheinungsformen Schwierigkeiten im Prozess der Sinnfindung. Ihre Wahrnehmungs- und Verstehensleistungen sind innerhalb postdramatischer Inszenierungen stark herausgefordert und werden als solche im Prozess der Aufführung thematisiert (vgl. Weiler 2005, 248).
Haase weist auf die Unschärfe des Begriffs „postdramatisch“ hin (vgl. Haase 2013d, 2), der lediglich deskriptiv als „Arbeitsformel zur Beschreibung verschiedener neuer, performance-naher Theaterformen, die anderen Prinzipien folgen als dem der Werkinszenierung“, gebraucht werden sollte (Primavesi 2004, 9 zit. nach Haase 2013d, 2). Festzustellen ist auch, dass sich das Theater zu Beginn des 21. Jahrhunderts erneut der dramatischen Literatur zuwendet. Zum einen findet sich eine Vielzahl zeitgenössischer Theaterstücke auf den Bühnen des Gegenwartstheaters wieder, zum anderen bindet sich der Umgang mit klassischen Texten auf neue Weise an Figuren- und Handlungskonzepte (vgl. Weiler 2005, 248). „Klassische Werke“ werden dabei oftmals in performative Prozesse aufgelöst. Diese Auflösung findet zum einen durch die Dekonstruktion von Stückvorlagen statt, die mit einer Durchsetzung anderer bruchstückhafter Elemente oder Fremdbestandteile das aktuelle „Werk“ als „Material der Aufführung“ neu formieren (vgl. Ritter 2013c, 68). Zum anderen erscheinen Figuren auf Inszenierungsebene fragmentiert, chorisch aufgelöst oder wechseln als „agierende Subjekte“ von einer „Aktions- auf die Meta-Ebene“ (vgl. ebd.). Aufgrund dieser Vielfalt bevorzugt die vorliegende Studie den weiter gefassten Begriff des „zeitgenössischen Theaters“, wenngleich immer wieder auch auf den Begriff „postdramatisch“ zurückgegriffen wird (für eine eingehendere Beschäftigung mit dem Begriff „postdramatisch“ vgl. u.a. Lehmann 1999, Weiler 2005, Stegemann 2009, Haase 2013d).
Kennzeichnend für das zeitgenössische Theater ist das Existieren unterschiedlichster Spiel- und Sprechweisen. Eine Figur realistisch auf der Bühne zu verkörpern, aus seiner Figur herauszutreten und selbstreferentiell zu agieren, mal darzustellen, mal zu spielen, einen Text gestisch zu gestalten oder ihn nur zu (re-)zitieren, dramatische Texte szenisch zu transformieren oder Textflächen musikalisch aufzulösen, sich in die Welt eines Textes hineinzubegeben ebenso wie die Differenz zwischen dem Text und sich selbst als Spielerin oder Spieler zu markieren, sich einen Text leibhaft anzueignen und die Einheit von Sprache und Körperlichkeit in einer Figur zusammenfließen zu lassen oder aber diese Einheit zu zerstören – all diese Strategien der Darstellung und des Sprechens finden sich auf den deutschsprachigen Theaterbühnen der vergangenen Jahre wieder. Sie eröffnen die Frage, was überhaupt zum Handwerk einer zeitgenössischen Schauspielkunst gehört bzw. was es erfordert. Vor welchen Herausforderungen stehen die Schauspielerinnen und Schauspieler aufgrund der sich verändernden Theaterpraxis? Und darüber hinaus: Vor welchen Herausforderungen steht die sprecherzieherische Arbeit im Angesicht der aktuellen Ästhetiken und Umgangsformen mit Texten und gesprochener Sprache im Theater der Gegenwart?
Diesen Fragen wird im empirischen Teil dieser Arbeit nachgegangen. Es wird der Erarbeitungsprozess von Texten innerhalb verschiedener Probenprozesse untersucht, wobei der Fokus insbesondere auf Herangehensweisen gelegt wird, die eine performative Spielpraxis hervorbringen. Was darunter zu verstehen ist, erläutert das nun folgende Kapitel.
Nicht nur, dass beim Sprechen etwas gesagt und beim Gegenüber ein Eindruck hinterlassen wird, ist von Bedeutung, sondern auch die Tatsache, dass im Sprechen und durch das Sprechen die soziale Wirklichkeit und somit die Welt verändert wird. (Kranich 2016, 11)
Dieser von Kranich umschriebene Sachverhalt gilt nicht nur für die Alltagskommunikation, sondern kann ebenso auf die Kommunikation innerhalb bestimmter theatraler Prozesse übertragen werden. Das Sprechen auf der Bühne ist auch hier nicht nur als Ausdruck einer inneren Befindlichkeit von Figuren zu verstehen oder als Abbild einer dargestellten Welt, sondern es konstituiert Wirklichkeiten zwischen Bühne und Zuschauerraum, die es zuvor nicht gegeben hat. Die Theaterwissenschaft greift die wirklichkeitskonstituierende Funktion theatraler Handlungen im Rahmen einer Performativitätstheorie auf, die als theoretische Ausgangsbasis der vorliegenden Arbeit zugrunde liegt. Sie soll im folgenden Kapitel umrissen sowie mit theoretischen Ausgangspositionen sprechwissenschaftlicher Betrachtungen in Zusammenhang gebracht werden.
Dabei soll ein Verständnis des Begriffs „performativ“ aus historischer, theoretisch-terminologischer und theaterpraktischer Sicht etabliert werden. So beleuchten die nachfolgenden Ausführungen zunächst die Entwicklung zweier Fachgeschichten und ihrer Forschungsinteressen, die mit Aspekten des Performativen im Zusammenhang stehen. Im Anschluss daran wird der Begriff theoretisch-terminologisch sowie theaterpraktisch im Zusammenhang mit der Spielweisenklassifikation, wie sie Bernd Stegemann (vgl. Stegemann 2011, 102 ff. sowie 2014, 163 ff.) vorgeschlagen hat, erläutert. Das Ziel ist, den Begriff für die vorliegende Arbeit zu definieren und ihn nicht nur für Aufführungen, sondern auch für verschiedene Zugänge der Texterarbeitung innerhalb von Probenprozessen anwendbar zu machen.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vollzogen viele geisteswissenschaftliche Fächer nacheinander zwei Wenden: zum ersten den „linguistic“ bzw. „semiotic turn“ in den 1970er Jahren, zum zweiten den sogenannten „performative turn“ in den 1990er Jahren (vgl. Fischer-Lichte 2001, 9). Während der „linguistic/semiotic turn“ einzelne kulturelle Phänomene ebenso wie ganze Kulturen1 als einen strukturierten Zusammenhang von Zeichen begriff, bahnte sich in den 1990er Jahren ein Perspektivwechsel an, der „Kultur als Performance“ fokussierte (vgl. ebd.). Fischer-Lichte konstatiert:
Das Interesse verlagerte sich nun stärker auf die Tätigkeiten des Herstellens, Produzierens, Machens und auf die Handlungen, Austauschprozesse, Veränderungen und Dynamiken, durch die sich bestehende Strukturen auflösen und neue herausbilden. Zugleich rückten Materialität, Medialität und interaktive Prozeßhaftigkeit kultureller Prozesse in das Blickfeld. (ebd.)
Eine erste performative Wende wurde bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts vollzogen, die dann jedoch in den 1930er Jahren mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland wieder rückläufig wurde. Diese erste performative Wende ist insofern erwähnenswert, als dass sie mit der Gründung der Theaterwissenschaft als eigenständige Universitätsdisziplin um 1900 zusammenfällt. Ihr Begründer Max Herrmann verstand sie als „Wissenschaft von der Aufführung“ (vgl. Fischer-Lichte 2004, 43). Die Theaterwissenschaft spaltete sich zu dieser Zeit von der Literaturwissenschaft ab und rückte, ähnlich wie die Religions- und Altertumswissenschaften, die eine Theorie des Rituals entwickelten, den Begriff der Aufführung ins Zentrum (vgl. Fischer-Lichte 2001, 14). Nicht mehr der aufgeführte Text stand im Mittelpunkt des Interesses, sondern die Aufführung als Ereignis (vgl. ebd. 17). Aber nicht nur die sich neu formierende Theaterwissenschaft attackierte die allgemein gültige Vorstellung vom Primat des Textes über die Aufführung, sondern vor allem die europäische Theateravantgarde. Theaterkünstler wie Edward Gordon Craig, Adolphe Appia, Max Reinhardt, Wsewolod Meyerhold u. a. forderten eine „Retheatralisierung“ des Theaters.
Sie verlangten eine totale Umstrukturierung der theatralen Materialien, Mittel, Zeichensysteme. Nicht länger mehr sollte die Sprache dominieren, sondern an ihrer Stelle der Körper des Schauspielers im Raum sowie flüchtige asemantische Mittel wie Musik, Licht, Farbe, Geräusche. Die performativen Qualitäten der Aufführung sollten in den Vordergrund treten. (Fischer-Lichte 2001, 16)
Auch das Verhältnis zwischen Darsteller/-innen und Zuschauer/-innen wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts thematisiert. Der Theatermacher Max Reinhardt u. a. definierte das Theater neu, nämlich „als ein Fest, als ein festliches Spiel“, in dem die „Teilnahme des Zuschauers an der Aufführung bzw. ihre Wirkung auf ihn“ im Vordergrund des Interesses stand (ebd.).
Etwa zur selben Zeit wie die Theaterwissenschaft gründete sich auch die Sprechwissenschaft als eigenständige Fachdisziplin. Was Max Herrmann in Berlin für die Etablierung der Theaterwissenschaft war, war Ewald Geißler in Halle für die Gründung der Sprechwissenschaft.2 Geißler übernahm im Sommersemester 1906 das Lektorat für Vortragskunst an der Universität Halle und bereitete den Boden für die künftigen Entwicklungen des Fachs (vgl. Krech 2007, 33). Sein Nachfolger Richard Wittsack, der von 1919 bis 1952 in Halle tätig war, baute das Fach inhaltlich aus und fügte den bisherigen Fachinhalten der Rhetorik, Stimmbildung und Vortragskunst die Teildisziplinen Stimm- und Sprachheilkunde sowie Phonetik hinzu (vgl. ebd.). Dieser Fächerkanon prägt die inzwischen wissenschaftliche Disziplin bis heute (zur Entwicklung der Fachgeschichte vgl. u. a. Krech 1999, 2007; Geißner 1997 sowie Haase/Meyer 1997).
Die Forschungen der halleschen Sprechwissenschaft zeichnen sich bis in die Gegenwart durch eine enge Verbindung von Theorie und Empirie sowie durch interdisziplinäre Kooperationen aus (vgl. Krech 2007, 40). Zudem ist die sprechwissenschaftliche Forschung, wie auch die vorliegende Studie, anwendungsorientiert. Bereits zur Zeit der Gründung der Fachdisziplin erhoffte man sich, dass sie „unverzichtbare Aufgaben für die Stimmgesundheit, für die Sprach- und Sprechkultur, für die Ausbildung der Lehrer und andere Berufssprecher erfüllen konnte“ (ebd. 32). Schwerpunkte waren seit den 1950er Jahren u. a. Forschungen auf dem Gebiet der Sprach-, Sprech- und Stimmstörungen, Forschungen auf dem Gebiet der Phonetik, wobei insbesondere die Orthoepieforschung zu nennen ist, die 1953 von Hans Krech begründet wurde und bis in die Gegenwart reicht. So wurde mit der Publikation Deutsches Aussprachewörterbuch zuletzt 2010 eine völlig neue Kodifizierung der deutschen Standardaussprache vorgelegt (vgl. Krech et al. 2010).
Außerdem bildete die Sprechwirkungsforschung von Mitte der 1970er bis Ende der 1980er Jahre ein groß angelegtes intra- und interdisziplinäres Forschungsprojekt (vgl. Krech 2007, 42). Die von Eberhard Stock initiierten psycholinguistisch und sozialwissenschaftlich fundierten empirischen Untersuchungen „bezogen sämtliche sprechwissenschaftliche Teildisziplinen ein und ermöglichten Einblicke in bis dahin unbekannte hörerseitige Verarbeitungsprozesse von unterschiedlichen Merkmalen gesprochener Sprache“ (ebd.). Allgemein widmete sich die Sprechwirkungsforschung der Frage, wie verschiedene Formen der Aussprache innerhalb unterschiedlicher Kontexte hörerseitig bewertet werden. Grundfragen, Forschungsmethoden und Ergebnisse der Untersuchungen finden sich in der Publikation Sprechwirkung. Grundfragen, Methoden und Ergebnisse ihrer Erforschung wieder (vgl. Krech et al. 1991). Die sprechwissenschaftliche Kommunikationstheorie wurde durch die Untersuchungsergebnisse erweitert und präzisiert, außerdem wurde ein Methodeninventar entwickelt und erprobt, mit dessen Hilfe nachvollziehbar Reaktionen von Hörerinnen und Hörern gemessen und verglichen werden können. Dies ermöglichte das Entwickeln von Verfahren, mit denen Lehr- und Behandlungsmethoden evaluiert und Ergebnisse pädagogischer Prozesse objektiviert werden können. Die Methoden der Sprechwirkungsforschung werden seit den 1990er Jahren in Projekten zu verschiedenen Forschungsthemen eingesetzt (vgl. Bose et al. 2013b, 4). Größere sprechwissenschaftliche Forschungsprojekte der Gegenwart beschäftigen sich u. a. mit der kontrastiven Phonetik und interkulturellen Kommunikation, mit der Entwicklung der kindlichen Kommunikationsfähigkeit, mit Untersuchungen zur Telekommunikation und professionellen Telefonie sowie im Bereich der Medienrhetorik mit der Hörverständlichkeit von Radionachrichten (vgl. u. a. Bose 2001, 2003, 2006 sowie Bose/Schwiesau 2011). Die Sprechwirkungsforschung im Bereich der Sprechkunst bewegt sich im Grenzbereich zwischen eher theoretisch-empirischen und eher künstlerischen Beschreibungsmodalitäten (vgl. Hirschfeld et al. 2008, 783 f.).
Gemessen am Gegenstand erscheinen beide Betrachtungsweisen sinnvoll, da das Sprechen literarischer Texte einerseits hohe Anteile an individueller künstlerischer Leistung und ausgeprägte ästhetische Rezeptionsfähigkeit verlangt, andererseits aber auch als Subform sprechsprachlicher Kommunikationsprozesse systematisch untersucht werden kann. (ebd. 784)
Hirschfeld et al. weisen darauf hin, dass Hörerinnen und Hörer in sprechkünstlerischen Kommunikationsprozessen mit Äußerungen konfrontiert sind, die sich nicht primär einem kommunikativen Gebrauch unterordnen, sondern vor allem ästhetischen Äußerungs- und Rezeptionsbedürfnissen gerecht werden sollen (vgl. ebd.). Auf dem Gebiet der Vortragskunst, die lange Zeit als „Kunst der sprechgestaltenden Dichtungsinterpretation“ verstanden wurde (vgl. Krech 1991, 193), fragt die Sprechwirkungsforschung nach der Wirkung und den Wirkungsbedingungen sprechkünstlerischer Äußerungen. Wirkungen sprechkünstlerischer Äußerungen sind jedoch seit den 1970er Jahren ausschließlich hinsichtlich sprechkünstlerischer Gedichtinterpretationen (vgl. z. B. Schönfelder 1988, Krech 1991, Anders 2001) oder in jüngerer Zeit hinsichtlich der Wirkung vorgelesener Prosa im Bereich von Hörbüchern untersucht worden (vgl. z. B. Travkina 2010). Bisher bildeten kaum Theateraufführungen den Untersuchungsgegenstand, sondern das Sprechen von Lyrik und Epik. Die sogenannte „Vortragskunst“, wie sie Eva-Maria Krech 1987 in ihrer gleichnamigen Publikation (vgl. Krech 1987) definiert und beschrieben hat, wollte sich immer wieder von der dramatischen Kunst und dem Theater abgrenzen.
Im heutigen Verständnis der Sprechwissenschaft wird diese klassische Grenzziehung zwischen Schauspielkunst und Vortrags- bzw. Sprechkunst nicht mehr getroffen, da im zeitgenössischen Theater Aufführungspraktiken existieren, in denen weniger der schauspielerische Darstellungsprozess und mehr das gesprochene Wort bzw. die sprachliche Gestaltung eines Textes im Vordergrund steht. Umgekehrt bedienen sich sprechkünstlerische Produktionen, in denen die Konzentration auf dem Sprechausdruck als Hauptgestaltungsmittel liegt, theatraler Mittel wie Bewegung, Kostüm, Maske, Licht und Musik im Sinne eines „Sprechspielens“ (vgl. Haase 2013b, 193). Sprechkunst bezieht sich heutzutage nicht mehr nur auf die sprechkünstlerische Dichtungsinterpretation von Lyrik und Prosa, sondern schließt das Sprechen von Schauspielerinnen und Schauspielern auf der Bühne ein. Haase definiert „Sprechkunst“ als
das bewusst gestaltete, gesprochene künstlerische Wort in unterschiedlichen Kommunikationssituationen für ein Publikum (bzw. für einen oder mehrere Hörer), „live“, d. h. direkt im Sinne einer auditiv-visuellen Kunstkommunikation oder medienvermittelt, d. h. indirekt (Haase 2013a, 177).
Dabei sind die Ereignishaftigkeit und damit der performative Charakter der Sprechkunst zu betonen, die sich letztlich im Vollzug des Sprechens u. a. auf der Bühne ereignet.
Mit Ausnahme der Publikationen von Martina Haase, die Bertolt Brechts Theorie des Gestus bereits seit den 1980er Jahren untersucht und ihre Bedeutung für die Sprechwissenschaft beschrieben hat (vgl. Haase 1985, 1987, 1997), sowie mit Ausnahme der Veröffentlichungen von Hans Martin Ritter, der sich seit den 1980er Jahren mit dem Sprechen von Schauspielerinnen und Schauspielern auf der Bühne des Theaters beschäftigt (vgl. Ritter u. a. 1986, 1989, 1998, 1999, 2014, 2013d, 2015a, 2015b, 2016, 2018), nehmen sprechwissenschaftliche Arbeiten das Theater erst seit jüngster Zeit in den Fokus der Betrachtung (vgl. Kiesler 2013b, 2016, 2017; Kiesler/Rastetter 2017, Rastetter 2017a, 2017b; Wessel 2016, 17). Beispielsweise widmet sich ein großes Teilkapitel des Lehrbuchs Einführung in die Sprechwissenschaft dem Gebiet der sprechkünstlerischen Kommunikation, auch im Hinblick auf sprechkünstlerische Prozesse im Theater (vgl. Haase 2013a, 2013b, 2013c, 2013d, 2013e, 2013f; Hollmach 2013a, 2013b, 2013c; Kiesler 2013a; Neuber 2013b; Kranich 2013; Ziegler 2013).
Darüber hinaus sind natürlich sämtliche Publikationen aus der praktischen Theaterarbeit sowie sämtliche Lehrbücher zur Sprecherziehung von Schauspielerinnen und Schauspielern zu erwähnen, die sich deren stimmlichen und sprecherischen Ausbildung unter methodischen Gesichtspunkten widmen (vgl. u. a. Aderhold 1995, 2007; Aderhold/Wolf 2002; Bernhard 2014; Coblenzer/Muhar 1997; Ebert 1999; Ebert/Penka (Hg.) 1998; Hofer 2013; Klawitter/Minnich 1998; Ritter 1986, 1989, 1999; Schmidt 2010; Stegemann (Hg.) 2010; Vasiljev 2000, 2002). In ihnen findet man neben den Ausführungen zur Atem-, Stimm- und Artikulationsschulung auch Methoden zur sprechkünstlerischen Erarbeitung dramatischer und nicht-dramatischer Texte beschrieben (vgl. S. 178 ff.). Die dort aufgeführten Übungen und Methoden basieren meist auf den individuellen Erfahrungen der Autorinnen und Autoren mit Schauspielstudierenden innerhalb der Ausbildung zum Schauspieler bzw. zur Schauspielerin. Was fehlt, sind aktuelle systematische Untersuchungen zum Sprechen auf der Bühne im zeitgenössischen Theater und methodische Ansätze, mit denen man zeitgenössischen postdramatischen Texten und ihrer Erarbeitung gerecht wird. In dieser Hinsicht versucht die vorliegende Arbeit eine Lücke zu schließen.