Für meinen Lebenspartner, Liebhaber, besten Freund und nun auch Mann. Du bist das Yang zu meinem Yin und auch wenn du mich nicht immer verstehst, versuchst du es. Trotz großer Skepsis hast du schließlich doch eingesehen, dass mein Schreiben nicht nur ein zeitintensives, unnötiges Hobby ist. :-)
Ich danke dir für die vielen Stunden, die du meinen Schwärmereien und Problemen zum Buch gelauscht hast – ich bin mir sicher, das war nicht immer leicht für dich.
Ich liebe dich.
Jamie
Die Sonne war bereits untergegangen, als Jamie das Auto abstellte, die Tür aufsperrte und in das Haus trat, in dem er von Beginn an eine Familie gründen wollte. Doch das Leben verlief nicht immer so, wie man es plante. Vielmehr ging es seinen eigenen, starrsinnigen Weg und man musste sich an sein Schicksal anpassen. Anders funktionierte es nicht.
Leise stellte er seine Aktentasche neben die Garderobe und schlich zur Wohnzimmertür, um Loreen nicht aufzuschrecken. Er hatte sie bereits gehört, als er aus dem Auto gestiegen war und er liebte es, ihr beim Spielen ihrer Instrumente zuzuhören, ohne, dass sie sich seiner bewusst war. Dann war ihr Gesicht ruhig, ihre Sorgenfalten frei von ihrem immerwährenden schlechten Gewissen glatt gestrichen und sie wirkte glücklicher, froher als sonst. Heute spielte sie ein ruhiges, gefühlvolles Klarinettenstück, dass er selbst gut kannte. Mit verschränkten Armen vor der Brust, lehnte sich Jamie an den Rahmen der halb geöffneten Tür und lauschte.
Jamie war heute müder als sonst, was sehr wahrscheinlich daran lag, dass er lange beim Arzt auf die Untersuchung warten musste und auch das Ergebnis ließ all seine Lebensgeister noch weiter versiegen. Es sah schlecht aus, noch schlechter als vor einem halben Jahr, als er die Diagnose Gehirntumor bekommen hatte. Damals war er am Boden zerstört gewesen, obwohl er nach dem Tod seiner Mutter, insgeheim immer damit gerechnet hatte. Er wäre fast soweit gewesen, es auch Loreen zu erzählen, aber er wollte ihr das nicht antun. Jamie wollte nicht, dass sie sich die letzten gemeinsamen Monate ständig Sorgen machte oder etwas an ihrem Leben änderte. Nicht noch etwas, dass er sich vorwerfen müsste, wenn er am Ende vor seinem Richter zu stehen hatte. Dafür hatte er schon genug Schlamassel angerichtet und das eine wollte er richtig machen und zwar Loreen noch so lange aus allem heraushalten, bis es nicht mehr anders ging.
Der Arzt hatte ihm heute geraten, sich die Welt anzusehen und sein Leben zu genießen, denn es wäre sehr wahrscheinlich, dass er das nächste Jahr nicht mehr miterleben würde. Der Tumor saß an einer inoperablen Stelle und das Mistding war bösartiger als Luzifer höchstpersönlich. Natürlich konnte er diesen Ratschlag nicht befolgen, ohne dass Loreen einen Verdacht schöpfen würde. Wenn sie nichts davon wusste, hätte sie noch etwas Zeit, um ihre Fähigkeiten zu trainieren und sich weiter vorzubereiten, auf den Tag, an dem sie zu ihresgleichen zurückgehen würde. Darin bestand für ihn nie ein Zweifel, auch wenn er es zuerst verleugnet hatte. Wenn er nicht so ein egoistischer Arsch gewesen wäre, dann hätte er sie schon damals gehen lassen. Im Grunde hatte er schon zu jener Zeit ihr Herz ein Stück weit verloren, doch er hatte sie nicht aufgeben können. Er hatte sie unbedingt haben müssen. Er wusste selbst nicht mehr, ob es daran gelegen hatte, dass er sie so sehr liebte oder weil er nicht alleine sein wollte. Vielleicht war er einfach eifersüchtig auf diesen Slash gewesen und konnte es sich nicht vorstellen, sie einem anderen zu überlassen.
Der Antrag in dem heruntergekommenen Haus war mehr als nur spontan gewesen, obwohl er zumindest im Voraus soweit gedacht hatte, schnell einen Ring in einem Laden an einer Ecke zu besorgen. Bei ihrem letzten Telefonat hatte er gespürt, dass sie sich innerlich bereits von ihm abgekapselt hatte, dass sie plante für immer wegzugehen. Und das hatte er als Jugendlicher nie und nimmer zulassen können, trotz seines Wissens, dass sie sich bereits ein wenig in den Halbgott verguckt hatte und er damit vielleicht ihr Glück zerstörte. Ihm wurde immer noch ganz übel, wenn er daran dachte, dass er den Brief, den Loreen am Bett hinterlassen hatte, mitgenommen und weggeworfen hatte. Wie gesagt, er war ein alleingelassener, selbstsüchtiger junger Kerl gewesen, der nicht loslassen wollte. Manchmal war er auch heute noch so, wenn er ihren Blick in die Ferne sah, wenn sie von einer Welt träumte, die er ihr genommen hatte. Auch wenn sie es nicht zugab. Ehrlich gesagt, sprachen sie überhaupt nicht mehr über das Thema.
Wenn er sie nun betrachtete, wie das Licht auf ihrem Haar glänzte, das mit ihren rhythmischen Bewegungen vor und zurück schwang, war er sich sicher, dass er sie liebte. Aber liebte er sie auch wirklich so sehr, wie sie es verdiente, wie man es von ihm als ihrem Ehemann erwartete? Oder hatte er immer nur Angst gehabt, seine beste Freundin zu verlieren und alleine zu sein, wenn sie ging? Noch immer konnte er sich keine ehrliche Antwort darauf geben, da ihn sonst sein schlechtes Gewissen auffressen würde – oder vielleicht hatte es das schon in Form des Tumors getan.
Mit einem Ruck ging die Tür auf und Loreen drehte den Kopf zu ihm, während sie die Klarinette senkte. »Hey. Du bist schon Zuhause. Ich habe dich nicht kommen hören.«
Sein schmutziges Herz zog sich zusammen, als er in ihre offenen Augen und ihr Lächeln blickte. Jamie hatte sie nicht verdient, das wusste er. Trotzdem konnte er sie nicht gehen lassen – noch nicht. »Hey Schatz. Ja, ich bin gerade eben reingekommen.«
Die Kälte war überall. Bereits vor zehn Minuten hatte ich zu Hause sein wollen, aber wir standen immer noch vor einem der Intershops und Charlotte schaute mit unfassbarer Ausdauer auf die Auslagen. Sie durfte die Shops noch nicht betreten, deshalb konnten wir nur hier in der Kälte verharren und von außen hineinsehen, was meine Geduld strapazierte.
Zudem machte mich schon seit einer Weile der Beamte nervös, der auf unserer Straßenseite patrouillierte. Ich fühlte mich immer unwohl, wenn einer von ihnen auftauchte. Ich hoffte, dass Charlotte sich bald von dem Schaufenster lösen würde.
Es wurde bald dunkel und ich spürte meine Zehen kaum noch. Auch wenn es noch nicht so kalt war, dass man die Wohnungen heizte, hatte ich bereits nach wenigen Minuten genug von jeder frischen Luft hier draußen. Ich war kein Wintermensch und würde nie einer sein. Ich hoffte, dass es nicht mehr allzu lange dauerte, bis die Öfen in Betrieb genommen wurden.
Ich sehnte diesen Moment herbei, denn ich fror erbärmlich – selbst in der Wohnung, genau wie meine Mutter und meine Schwester. Doch meine Mutter zu überreden, bereits im November zu heizen, war ein aussichtsloses Unterfangen. Wir versuchten es schon lange nicht mehr.
Als Kind hatte ich noch beharrlich gejammert, doch irgendwann eingesehen und sogar verstanden, dass es schlichtweg nicht möglich war. Selbst wenn wir etwas mehr Öl und Holz hätten bezahlen können, hätte es uns nicht über den gesamten Winter gebracht. Derart viel Geld besaß niemand.
Heute trug ich zwei Pullover übereinander, zusätzlich zu meinem Mantel. Er war vielleicht abgenutzt und auch nur noch verwaschen rot, doch ich war stolz um jedes Jahr, in dem er mich begleitete. Meine Mutter hatte mir diesen Mantel an meinem fünfzehnten Geburtstag geschenkt und er war damals schon alt gewesen. Sie erklärte mir, dass er aus einem der Intershops stamme und natürlich war ich stolz darauf. Manchmal verkauften sie auch Kleidung aus dem Norden, aber einen roten Mantel hatte ich nie wieder gesehen.
Bevor ich sechzehn wurde, hielt sich noch die Hoffnung, dass ähnliche Stücke vielleicht weiter hinten aufbewahrt wurden und man sie vom Schaufenster aus einfach nicht sehen konnte. Aber als ich das Geschäft endlich betreten durfte, war ich enttäuscht. Hinten im Laden war die Kleidung genauso farblos wie irgendwo anders.
Es lag jedoch nicht nur an dieser einen Enttäuschung, dass ich nicht die gleiche Begeisterung für die Intershops teilte, wie es jeder andere mit siebzehn tat. Die Wahrheit war, dass es mich traurig machte, all diese Dinge zu sehen, die ich mir nie würde leisten können. Charlotte war jetzt vierzehn und konnte noch stundenlang vor den Schaufenstern stehen ohne die Begeisterung zu verlieren. Sie deutete gerade auf eine Haarspange, die direkt hinter der Scheibe lag. Sie war groß, silbern und mit Schmetterlingen verziert. Mein Blick dagegen wanderte immer wieder auf die Auslagen im Nebenraum. Von hier aus konnte ich bei weitem nicht all das sehen, was sie anboten, aber ich erkannte Äpfel und Brot. Meine Mutter buk ihre eigenen Brote, doch die aus dem Intershop wurden mit Salz gebacken.
»Wenn ich zur Spende gehe, kauf ich mir diese Spange!«, hörte ich Charlotte sagen. Ich grinste.
»Wenn du fünfzehn wirst, kannst du dir von Mama eine wünschen.«
»Glaubst du denn, dass ich die bekommen würde?«
Ich überlegte kurz, dann nickte ich.
»Ich denke schon. Ich habe an meinem Geburtstag damals auch was aus dem Intershop bekommen.«
Charlotte seufzte.
»Aber das dauert noch so lange.«
Jetzt musste ich lachen.
»Du hast in drei Monaten Geburtstag! So lang ist das nun auch nicht!«
»Doch, das ist lang!« Sie verzog das Gesicht. »Was mach ich denn, wenn sie die Spange bis dahin schon verkauft haben?«
In diesem Moment wünschte ich, ihr die Haarspange kaufen zu können. Ich wünschte, zur Spende gehen zu können und mit der Entlohnung im Intershop einzukaufen, wie jeder andere um mich herum. Meiner ganzen Familie ginge es besser, wäre ich zugelassen worden. Ich durfte nicht immer darüber nachdenken, denn es war nicht meine Schuld. Ich wusste es, aber niemand hatte damit gerechnet.
Ich würde niemals das Gesicht von Charlottes Vater vergessen, als uns das Ergebnis der Einstufung mitgeteilt wurde und feststand, dass mein Blut nutzlos war. Gesagt hatte er nichts, doch ich sah es in seinen Augen. Ich sah, wie er begriff, was das bedeutete: dass die Familie für viele weitere Jahre kein zusätzliches Geld bekommen würde, dass wir weiterhin keine Intershop-Einkäufe machen konnten. Dass wir auch in Zukunft im Winter frieren mussten. Ich glaube, dass ich danach stiller wurde. Ich fragte nie wieder nach einer extra Scheibe Brot oder bat meine Mutter darum, etwas Obst zu kaufen.
Meine Mutter hatte die Sache eher nüchtern aufgenommen, aber ich war mir lange Zeit nicht sicher, ob ich auch für sie eine Enttäuschung war. Charlottes Vater, der Mann, der mich als sein Kind angenommen hatte, starb kurz nach meiner Einstufung. Und zwar frierend im Winter. Mich hatte es nur wenig berührt. Da war kaum ein Verhältnis – weder ein gutes noch ein schlechtes. Charlotte hatte in den ersten Monaten gelitten, doch dann griff die Normalität der Mitte. In diesem Teil der Stadt schwieg man die Dinge aus. Ich war mir nicht immer sicher, ob die Leute überhaupt irgendetwas empfanden, wenn jemand aus ihrem Leben verschwand.
In dieser Hinsicht war auch meine Mutter ein Kind der Mitte. Getrauert hatte außer Charlotte, die noch zu jung war, niemand. Auch über die Sache mit meinem Blut sprach niemand.
Die Chance, dass man nicht zur Spende zugelassen wurde, war gering, wenn die Eltern schon gespendet hatten. Es war reine Genetik. Also warteten wir auf Charlottes Geburtstag und hofften, dass sie die Zulassung bekam. Ich ging davon aus, dass meine Schwester verstand, wie unsere Armut mit mir zusammenhing. Ob sie von mir enttäuscht war, wusste ich nicht. Anmerken ließ sie sich nie etwas. Auch nicht, wenn wir wie jetzt vor dem Schaufenster standen.
Ich wusste schon in meiner Schulzeit, dass dort noch andere waren, deren Familien auf die Spende warteten. In einigen Familien lebte nur ein Kind, auch wenn mehrere Kinder gleichzeitig mehr Wohlstand bedeuteten. Ich kannte jedoch niemanden in unserer Situation.
Nicht in der Mitte.
Für Menschen, die nicht an der Spende teilnehmen konnten, gab es kaum eine andere Möglichkeit, als an den Rand zu gehen. Dort, wo alles bis hin zu den Wohnungsmieten billiger war. Meine Mutter hatte das nie in Betracht gezogen. Auch für Charlottes Vater stand es nicht zur Debatte. Wir seien nicht wie die am Rand. Seine Arbeit hatte uns immer genug Geld gebracht. Nach seinem Tod arbeitete meine Mutter als Näherin, aber Frauenarbeit wurde natürlich schlechter bezahlt. So kamen wir aber über die Runden, selbst wenn es nicht immer warm war. Wir hungerten nie. Am Rand ging es den Menschen schlechter, wir durften das einfach nicht vergessen.
Ich war nun seit zwei Jahren mit der Schule fertig und da ich mich nicht auf die Spende vorbereiten musste, konnte ich ebenfalls arbeiten. Es gab nur leider nicht viel, was ich tun konnte oder durfte. Nicht in der Mitte. Ich hatte etwas in einer gesetzlichen Grauzone gefunden.
Drei Mal in der Woche fuhr ich mit dem PTS zum Rand und unterrichtete dort Lesen und Schreiben. Sonntags hatte ich sogar eine richtige kleine Klasse von fünf Schülern. Dieser Tag brachte natürlich das meiste Geld, doch viel zahlen konnte mir keine der Randfamilien, selbst wenn meine Preise weit unter der Norm lagen. Unterricht in der Mitte, etwa an einer richtigen Schule, hätte niemand von ihnen zahlen können. Die Einzelstunden der anderen Tage brachten mir noch weniger und trotzdem, ich mochte sie lieber. Besonders den Dienstag.
Heute war Dienstag und das war auch der Grund, warum ich endlich weitergehen wollte. Ich wusste nicht genau, wie spät es war, doch ich ging davon aus, dass ich weniger als eine Stunde hatte, bis der Transit fuhr. Wenn ich ihn verpasste, würde ich so schnell nicht mehr an den Rand kommen. Der PTS – was für Passanger Transport System stand – verließ die Mitte nur fünf Mal am Tag: der Erste am Morgen um acht und der Letzte um Mitternacht. Andersherum fuhr der letzte Zug vom Rand in die Mitte bereits um neun am Abend. Der Mitternachtszug war immer besonders voll, denn mit ihm fuhren viele Arbeiter zurück nach Hause. In meinem Zug zurück in die Mitte war ich fast immer allein. Es gab kaum einen Grund für jemanden vom Rand zu dieser Zeit noch irgendwohin zu fahren. Ich litt an permanenter Sorge, dass sie eines Tages auch diesen Zug streichen würden. Sicherlich würde es so kommen, wenn die nächste ›Korrektur‹ anstand. Ich war darauf vorbereitet.
Charlotte riss mich aus meinen Gedanken. Während sie wieder von Schmetterlingen auf Haarspangen sprach, klemmte ich mir meine Haare hinter die Ohren. Die Locken reichten fast bis zur Hüfte. Aber sie waren rot. Und im Winter versteckte ich sie gerne im Mantel. Im Sommer musste ich mich damit abfinden.
Widerwillig riss sich Charlotte vom Fenster los, als ich drohte, sie mit dem Beamten hier stehenzulassen. Vom Intershop aus war es noch ein ganzes Stück, bis wir endlich in unsere Straße einbogen. Jetzt, wo es dunkel wurde und die Lichter aufleuchteten, mochte ich die Stadt am liebsten. Die Werbemonitore des Pharmagon streuten bunte Farben über die Straßen und auch die Blöcke wirkten jetzt nicht mehr so trostlos.
Die Häuser sahen in der gesamten Stadt gleich aus. Bräunliche Blöcke mit zehn, fünfzehn oder zwanzig Stockwerken, die man nur durch die riesigen Nummern an den Fassaden unterscheiden konnte. Wir gingen gerade an Nummer 274 vorbei, als Charlotte die Augen aufriss und mir einen ängstlichen Blick zuwarf.
»Nicht stehenbleiben«, zischte ich sofort. »Geh weiter!«
Wie aus Reflex schlug mein Herz schneller.
»Was haben die gemacht?«, fragte meine Schwester und senkte den Kopf wieder. Ich versuchte etwas aus dem Augenwinkel heraus zu erkennen.
»Ich weiß es nicht«, antwortete ich ihr ein bisschen zu schroff. »Geh einfach weiter!«
Die Festnahme vollzog sich auf der anderen Straßenseite. Jeweils links und rechts vom Gebäude standen zwei Beamte, die den Gehweg sperrten und ich erkannte bereits eine größer werdende Gruppe von Passanten, die zwangsläufig dabei zusehen mussten, bis der Weg wieder freigegeben wurde. Das Schlimmste waren die Schreie der Erwachsenen. Kinder weinen schnell, doch wenn erwachsene Menschen betteln und weinen, bedeutet es zwei Dinge: große Angst und das Wissen, etwas Fatales getan zu haben. Oft war illegal abgespeichertes Geld der Grund für die Festnahme. Manchmal kauften Leute Medikamente von anderen, um mehr spenden zu können. Ich wusste nicht, wer am Ende bestraft wurde. Die Verkäufer oder die Spender. Im Grunde wusste ich gar nichts, denn es waren immer nur Gerüchte, die man hinter vorgehaltener Hand irgendwo von irgendwem hörte. Ich fragte mich, was diesen Menschen auf der anderen Straßenseite vorgeworfen wurde. Die Beamten in ihren dunklen Uniformen hielten sie auch jeweils zu zweit fest. Den Mann und die Frau. Nur das Kind wurde von einem Uniformierten allein getragen. Ich kannte diese Leute nicht, doch ich schätzte das Kind bereits im Schulalter. Ich konnte gar nicht anders, als den Kopf in ihre Richtung zu wenden. Das Mädchen schrie, bis sich ihre Stimme überschlug. Schrie nach Mutter und Vater. Mit ihr auf dem Arm verließ der Beamte das Gebäude, ohne sich von ihrem Strampeln und Wehren abhalten zu lassen. Er ging direkt auf einen der drei schwarzen Wagen zu, die vor dem Block standen und hinter der geschlossenen Tür verstummten die Schreie. Der Wagen fuhr los, noch bevor die Eltern des Kindes in Begleitung der Beamten die anderen Wagen erreichten.
»Es ist ein Fehler«, rief die Frau panisch. »Wir haben eine Genehmigung. Wir haben eine Genehmigung!« Die Tür schloss sich, nachdem sie unsanft ins Auto gedrückt worden war.
»Wohin bringen Sie mich?« Ich hörte, wie der Mann immer wieder diesen Satz wiederholte. Als sich seine Wagentür schloss, setzte sich das Fahrzeug mit seiner Frau darin bereits in Bewegung. Es ging unglaublich schnell. Charlotte und ich drehten uns beide zugleich noch einmal herum, als wir den Ort des Geschehens schon hinter uns gelassen hatten. Die Sperrung des Gehwegs wurde aufgehoben und die wartenden Menschen entfernten sich vom Schauplatz. Wohin man die Leute brachte, die man festnahm, wusste weder ich noch sonst jemand. Es war nur sicher, dass sie nicht zurückkommen würden.
Und sie haben nicht einmal nach ihrem Kind gefragt, dachte ich. So passierte es mehrmals im Jahr.
Nicht hinsehen, war die Reaktion der gesamten Mitte.
Meine Schwester und ich sprachen nicht, bis wir etwa fünf Minuten später unseren Block erreichten.
Unser Haus trug die Nummer 319. Wir und zwei andere Familien wohnten auf der vierten Etage. Zum Glück, denn der Aufzug war schon seit Monaten kaputt.
Meine Mutter kochte, als wir hereinkamen, und die gesamte Wohnung roch nach Essen. Ich ärgerte mich ein wenig, dass ich keine Zeit hatte darauf zu warten. Meine Mutter bemerkte nur beiläufig, dass wir zurückgekommen waren, denn in unserer Küche saß eine Besucherin. Eine Frau, etwa im Alter meiner Mutter, die in Nummer 312 wohnte. Ich kannte sie schon mein Leben lang und ging davon aus, dass nahezu jeder in diesem Bezirk sie kannte. Früher schon hatte ich sie nicht sonderlich gemocht. Ich wusste nicht, ob ich es mir einbildete, doch seit meiner Einstufung und der Ablehnung war ihr Verhalten mir gegenüber noch kälter geworden. Vielleicht glaubte ich auch nur, dass sie mich mit einem herablassenden Blick betrachtete, wann immer ich ihr begegnete. Oder dieser Eindruck lag am Kontrast zu meiner Mutter, die so viel mehr Wärme ausstrahlte als jeder andere Mensch in der Mitte. Auch wenn sie uns diesen kleinen Unterschied nur in den eigenen Wänden spüren ließ.
Als ich an der Küche vorbeiging, schob ich die Tasche unauffällig auf die rechte Seite, damit Mrs Strudwick gar nicht dazu kam Fragen zu stellen. Mir war ohnehin unwohl dabei, dass sie mich um diese Zeit noch das Haus verlassen sah.
»Mama, ich gehe los«, sagte ich so beiläufig wie möglich.
Sie nickte.
»Ich stelle einen Teller für dich zurück.«
»Danke«, sagte ich und lächelte. »Hallo, Mrs Strudwick.«
»Fährst du immer noch zu diesen Leuten an den Rand?«
Sie sagte es so betont neutral, dass es nur als Abwertung aufgefasst werden konnte. Ich lächelte bei meiner Lüge noch freundlicher.
»Ich möchte nur ein paar Freunde besuchen.«
»Es wäre bestimmt besser, wenn du dich mit Mädchen deines Alters aus der Mitte anfreunden könntest.«
»Vielleicht werde ich das ja irgendwann. Wer weiß.«
Es war völlig klar, dass es so nicht kommen würde und jeder in der Wohnung wusste das. Meine Mutter warf mir aus dem Augenwinkel einen liebevollen Blick zu. Ich war ja nicht die Einzige, die immer wieder solche Spitzen ertragen musste. Indem ich wohlwissend reagierte, ersparte ich meiner Mutter immerhin die Schande, dass man ihrer Tochter Überheblichkeit nachsagen konnte. Manchmal fiel es mir schwer, alles gefällig zu ertragen, schließlich hatte ich meine Familie nicht mit Absicht in diese Situation gebracht. Doch die Schuldgefühle ließen sich nicht einfach ausschalten. Vielleicht hielt ich mich auch deshalb gern am Rand auf. Dort lebten die einzigen Menschen, die noch weniger zur Gesellschaft gehörten als ich es tat. Dass ich sie unterrichtete, lag aber leider nicht im Sinne der Kammer. Ich hatte Glück, dass weder Mrs Strudwick noch die meisten anderen Menschen davon ausgingen, dass ich die Schrift so gut beherrschte, wie es der Fall war. Für mich war es etwas, auf das ich stolz sein sollte. Aber es tröstete mich nicht über das Offensichtliche hinweg und im Grunde war mir bewusst, dass dies keine Fähigkeit war, mit der ich im Leben dauerhaft punkten konnte.
Ich wusste, dass es nicht mehr reichte, nur schnell zu gehen. Auf dem letzten Stück begann ich zu rennen und hetzte schließlich die Treppen zur Haltestelle hinauf. Als ich den Bahnsteig betrat, ertönte bereits das grelle Signal, das vor dem Schließen der Türen warnen sollte. Im Vorbeirennen presste ich die Unterseite meines Handgelenks gegen den Scanner am Ende der Treppe und sprang in den Zug, kurz bevor sich die Türen schlossen.
Schwer atmend und mit von der kalten Luft schmerzender Lunge, ging ich auf der Suche nach einem Platz durch den Mittelgang. Selbst dieser Zug war voll und ich fand erst im hinteren Drittel einen freien Sitz. Ich lehnte den Kopf ans Fenster, wie ich es immer tat. In den Zügen roch es stets nach Schmutz und Moder. Besonders diese Linie – der Periphery-Transit – war schon alt gewesen, als meine Mutter noch jung war. Die Sitze hatten Löcher und bei einigen war die Polsterung so durchgesessen, dass man das harte Plastik spürte. Die Menschen, die in diesem computergesteuerten Zug zum Rand fuhren, sahen müde und verbraucht aus. Wenn sie hier einstiegen, hatten sie schon seit dem Morgen gearbeitet. Sie alle kamen mit dem ersten PTS des Tages in die Mitte. Selbst im Sommer war es noch dunkel, wenn dieser den Rand verließ.
Die Blöcke, wie ich unsere Häuser nannte, wurden weniger je weiter ich mich von der Mitte entfernte. In etwa zehn Metern Höhe durchfuhr ich die Ebene, die man das Brachland nannte. Der Transit fuhr nicht sonderlich schnell und es dauerte eine Weile, bis die ersten Blöcke am Horizont den Rand ankündigten.
Mit dem Unterschied, dass die Häuser dort nicht nur kleiner waren, sondern sich auch in deutlich schlechterem Zustand befanden. Viele Fenster waren zerbrochen und nur notdürftig oder gar nicht repariert worden. Besonders im Sommer hatten die Leute so keine Chance, die Dunstglocke der Fabriken abzuwehren. Die schlechte Luft stach einem bereits in die Nase, wenn der Transit in den Rand hineinfuhr.
Hier, weit entfernt von den Intershops, gab es nicht jeden Tag etwas Warmes zu essen. Während ich davon träumte, mir Äpfel kaufen zu können, wusste ich gleichzeitig, dass ich nur sehr knapp diesem Leben entkommen war. Nur meiner Mutter und ihrer Arbeit war es zu verdanken, dass ich in der Mitte lebte. Und vielleicht der Hoffnung, dass meine Schwester in zwei Jahren spenden durfte.
Ich stieg aus dem Zug, ging die Treppe hinunter und drückte mein Handgelenk gegen den Scanner, um auf die heruntergekommene, nur halb befestigte Straße zu treten. Auch wenn meine Mutter mich gerne zur Vorsicht ermahnte, hatte ich keine Angst am Rand. Heute musste ich ohnehin nicht weit gehen. Der Zug hielt in der Nähe des Hauses, in dem ich erwartet wurde.
Ich war bereits nervös, als ich am Eingang auf die Klingel drückte.
Aufzüge gab es in diesen Blöcken nicht und so hatte ich sieben Stockwerke Zeit mich auf das Herzklopfen vorzubereiten.
Als ich die letzte Treppe erreichte, sah ich ihn in der Tür stehen.
Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und grinste, als ich die letzten Stufen nahm.
»Komm, ich zeig dir was!«, meinte er begeistert, als er hinter mir die Tür schloss. Ich musste mich bemühen, meine Enttäuschung nicht zu zeigen, denn normalerweise nahm er mich in den Arm, wenn wir uns trafen.
»Was?«, fragte ich mit einem künstlichen Lächeln, während ich meinen Mantel aufknöpfte. Ich kam nicht dazu, meine Jacke auszuziehen, denn er griff meine Hand und zog mich durch den engen Flur zum Wohnzimmer. Seine Finger waren eisig, trotzdem wurde mir seltsam warm, als ich die weiche Haut spürte. Ich stolperte hinter ihm her und sein Grinsen wurde breiter. Ich ahnte sofort, was es war, das dort auf dem Tisch stand.
»Das ist ein Scherz!«, flüsterte ich fassungslos und sah ihn an. »Saft?«
»Keiner aus dem Intershop. Den hat ein Bekannter meines Vaters selbst gemacht und ihn dann billig verkauft. Es ist nicht viel und er ist mit Wasser verdünnt, aber es sind mindestens zwei Äpfel drin!«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Den Blick auf die kleine Flasche gerichtet zog ich meinem Mantel aus und legte ihn über die Sessellehne.
»Luke, das ist …«
Er setzte sich aufs Sofa – das mindestens so alt war wie der Sessel und alles andere in dieser Wohnung – und nahm das Glas zur Hand, das schon bereitstand. Ich setzte mich zu ihm und beobachtete, wie er es zur Hälfte füllte. Wann immer mich Lucas gefragt hatte, was ich mir im Intershop kaufen würde, hatte ich geantwortet, dass ich noch einmal einen Apfel essen möchte. Ich hatte keine Vorstellung mehr davon, wie er schmeckte, denn ich hatte den letzten gegessen, als ich noch ein Kind war. Äpfel gab es selbst im Intershop sehr selten. Sie galten als purer Luxus.
Er reichte mir das Glas und seine braunen Augen strahlten mich an. Die hellbraunen Haare hingen wie immer etwas zottelig in sein Gesicht. Sie reichten ihm mittlerweile fast bis zum Kinn.
Etwas irritiert erwiderte ich seinen Blick.
»Hast du schon probiert?«
Er schüttelte den Kopf.
»Ich darf das nicht trinken. Ich muss bis nach der Spende warten.«
»Ach so«, murmelte ich etwas enttäuscht und betrachtete das Glas. Das stimmte. Es war nur noch ein Tag bis zu seiner ersten Spende und er nahm schon seit langem die Medikamente. Es war ihm nicht erlaubt, etwas anderes als Wasser zu trinken.
»Zum Wohl!«, sagte er fröhlich.
Mit dem Glas in der Hand schüttelte ich den Kopf.
»Ich will mit dir zusammen -«
»Auf keinen Fall!«, unterbrach er mich sofort. »Selbst nach der Spende ist nicht sicher, ob ich das trinken darf.«
»Aber -«
»Nun mach schon!«, drängte er und sah mich so erwartungsvoll an, dass ich grinsen musste.
»Zum Wohl!«, zitierte ich ihn und setzte das Glas an die Lippen.
Nun schmeckte ich nach so langer Zeit wieder das saure Aroma eines Apfels. Sofort erinnerte ich mich. Als Kind hatte ich Äpfel geliebt.
Plötzlich spannte mein ganzer Körper sich an. Äpfel waren etwas Besonderes, etwas Tröstliches. Sie waren eine Belohnung gewesen. Ich bekam sie, wenn …
»Und?«, fragte er erwartungsfreudig. Ich trank noch einen Schluck.
»Du musst mir versprechen, dass du mir einen Apfel kaufen wirst!«
Er lachte.
»Sobald das Geld gutgeschrieben ist, kaufe ich dir zwei!«
Es kam mir vor, als sei es erst gestern gewesen, dass er seinen Brief bekommen hatte. Dabei war es im Sommer passiert. Letzte Woche dann hatte er mir gesagt, dass es am Mittwoch soweit sein würde. Morgen war Mittwoch. Ich stellte das Glas auf den Tisch und musterte ihn.
»Bist du aufgeregt?«
Jetzt wurde sein Blick etwas ernster und er zuckte mit den Schultern.
»Ich weiß nicht, was mich erwartet. Sie haben geschrieben, dass ich gleich nach Hause gehen kann. Aber ab der zweiten Spende muss ich dort bleiben.«
Ich nickte.
»Meistens sind es nur ein oder zwei Tage.«
»Aber manchmal dauert es auch eine Woche!«
»Du kommst sicher immer schnell nach Hause.« Ich lehnte mich zurück und klemmte die frierenden Finger unter meine Beine.
»Darf ich dich was fragen, Tess?«
Ich sah ihn an und verzog das Gesicht.
»Natürlich!«
»Würdest du mit mir kommen?« Als ich nicht antwortete, sprach er gleich weiter. »Meine Eltern arbeiten den ganzen Tag und meine Geschwister dürfen das Labor nicht betreten. Ich würde einen von den Jungs fragen, aber es ist besser, wenn ich nicht über die Spende spreche.«
»Nehmen sie dir das übel?«, fragte ich und versuchte mir vorzustellen, was es bedeutete, als Einziger plötzlich die Aussicht auf ein besseres Leben zu bekommen.
»Sie sagen nichts, aber es ist komisch. Und selbst wenn, würde ich lieber dich dabeihaben.«
Meine Miene wurde steif. Er zog mich seinen Freunden vor? Ich wusste, dass er zu einer ganzen Gruppe von Gleichaltrigen gehörte, die manchmal in die Mitte kam.
Mein Magen zog sich zusammen und im ersten Moment konnte ich wieder nichts sagen. Ich war plötzlich nicht einmal mehr in der Lage ihm in die Augen zu schauen und sah stattdessen auf meine Knie. Bisher hatten unsere Treffen nur dem Zweck gedient, Lucas dazu zu bringen Wörter auf Blätter zu schreiben. Und nun bat er mich bei einer so wichtigen Sache um Begleitung. In meinem Kopf machte sich jedoch unaufhaltsam ein zweiter Gedanke breit. Nach meiner Ablehnung hatte meine Mutter mir das Versprechen abgenommen, nie wieder ins Labor zu gehen. Nicht einmal in der Nähe des Gebäudes sollte ich mich aufhalten. Ich sollte es aus meinem Leben streichen. Ich wusste, sie befürchtete, es zu sehen könne mir schaden. Weil ich nicht dazugehören konnte.
»Ich kann dich begleiten, wenn du möchtest.« Mit aller Kraft verdrängte ich die Schuldgefühle. Ich hatte meine Mutter noch nie belogen oder mich nicht an etwas gehalten, um das sie mich bat.
Aus dem Augenwinkel heraus sah ich, dass Lucas mich einen Moment lang musterte, aber ich war weiterhin nicht fähig ihn direkt anzusehen.
»Das würdest du machen?«
»Als Bezahlung für den Saft«, sagte ich und lächelte schwach. »Bist du denn sicher, dass du mit mir dort gesehen werden willst? Die Leute werden bestimmt darüber -«
»Ich würde mich überall mit dir zeigen!« Er zog die Augenbrauen zusammen, als hätte ich etwas Absurdes gesagt. Aber das war es nicht. Ab morgen war er Spender und wechselte damit in einen anderen Teil der Gesellschaft.
»Ich weiß ja nicht mal, ob sie mich da reinlassen.«
»Tess! Ich darf eine Begleitperson zur ersten Spende mitnehmen. Und ich würde mich freuen, wenn du mitkommst!«
»Ehrlich, ja?« Jetzt sah ich ihn an. Und da war es wieder. Es lag so oft in der Luft und es machte, dass ich nicht atmen konnte. Ich glaubte manchmal, dass ich schon so gefühlt hatte, als wir uns ein Jahr zuvor zum ersten Mal begegneten. »Dann komme ich mit«, antwortete ich.
In diesem Augenblick öffnete sich die Wohnungstür und ein gedrungener Mann mit angegrauten, lichten Haaren kam herein.
»Hallo Mr Callahan.« Ich hob die Hand zum Gruß.
»Guten Tag, Teresa.« Er wickelte seinen Schal ab und deutete mit dem Kopf auf den Tisch. »Dann hast du schon probiert?«
»Es ist großartig!«, schwärmte ich sofort. »Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll.«
»Es war uns eine Ehre«, lachte er. Wenn er das tat, erkannte man deutlich, dass Lucas sein Sohn war. Gerade in solchen Momenten bekam ich immer eine Vorstellung davon, wie Mr Callahan in jungen Jahren ausgesehen haben musste.
»Wo ist eigentlich deine Mutter?«, fragte ich Lucas, als mir einfiel, dass sie eigentlich hätte da sein müssen.
»Sie ist in der Mitte«, antwortete Mr Callahan an seiner Stelle und klang stolz. »Mariam hat eventuell Arbeit dort.«
Ich riss die Augen auf.
»Dann werden Sie tatsächlich in die Mitte ziehen?« Ich sah von einem zum anderen. Die Aussicht, dass ich Lucas jeden Tag sehen konnte, brachte mein Herz zum Stolpern. Er grinste. »Wann?«, fragte ich vielleicht etwas zu euphorisch.
»Wir werden sehen«, antwortete Mr Callahan. »Wir haben überlegt, dass wir wohl zwei oder drei Spenden abwarten, um etwas anzusparen. Aber wenn Mariam diese Arbeit bekommen sollte, kann uns nichts mehr passieren.«
»Das ist toll! Ehrlich!«
Ich wusste, dass Lucas mich immer noch im Auge hatte, doch ich war mit einem Mal noch verlegener als jemals zuvor in seiner Nähe. Unwillkürlich fragte ich mich, ob er meine Gedanken teilte. Ob er überhaupt jemals darüber nachdachte. Wenn wir beide in der Mitte lebten, die Möglichkeit bekamen, uns jeden Tag zu sehen, und wenn alles einfach anders wäre, ob wir dann vielleicht … Ich hoffte, dass ich nicht rot wurde, als ich daran dachte – so weit hergeholt der Gedanke auch war.
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Im.press
Ein Imprint der CARLSEN Verlag GmbH
© der Originalausgabe by CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg 2014
Text © Martina Riemer, 2014
Lektorat: Hanna Kelbert, Nicole Boske
Umschlagbild: shutterstock.com / © Ase / © 4Max
Umschlaggestaltung: formlabor
Gestaltung E-Book-Template: Gunta Lauck
Schrift: Alegreya, gestaltet von Juan Pablo del Peral
Satz und E-Book-Umsetzung: readbox publishing, Dortmund
ISBN 978-3-646-60082-7
www.carlsen.de
Patricia Rabs
Vollkommen
Sie haben sich in einer streng regulierten Idealgesellschaft den besten Platz erobert: Die Familie der 17-jährigen Teresa Evans gehört zu den Privilegierten, die in Mitte wohnen dürfen. Ihr Blut wird seit Generationen als so wertvoll eingestuft, dass sie es spenden und dafür besser leben können. Doch mit Teresa kommt die Wende, sie hat die Einstufung zur Blutspende nicht bestanden. Wegen ihr könnten sie jederzeit in die Armutswelt der Randbezirke abgeschoben werden. Dorthin, wo auch Lukas wohnt. Der Junge, mit dem Teresa als Privilegierte niemals zusammen sein dürfte und der jetzt ihr einziges Licht im Dunkeln ist. Doch gerade Lukas besteht als Erster seines Stammbaums die Einstufung und gehört plötzlich zu den Privilegierten …
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Sternen-Trilogie: Sternenschimmer |
Zwischen Schnee und Ebenholz |
Jahrelang hat sie sich gewehrt hierher zu kommen. Zu Leuten, die behaupten, wie sie zu sein. Doch nun steht sie hier, mitten unter ihresgleichen und alle starren sie mit neugierigen Blicken an. Als sie in all die fremden Gesichter um sich herum blickt, bezweifelt sie, dass ihr viele wohlgesonnen sind. Aus ihren Augen ist das Gegenteil zu lesen. Aber das ist nicht das Schlimmste, sondern die Stimmung, die über dem Lager liegt. Loreen kann es fühlen bis ins Mark – sie trauen ihr nicht, kein bisschen. Aber wer könnte ihnen das verübeln, nachdem sie damals abgehauen ist und sie im Stich gelassen hat?
Auf keinen Fall werde ich Schwäche zeigen, das können sie sich abschminken! Unter den Argusaugen der Schaulustigen nähern sie sich dem Zentrum des Dorfes. Oder der Insel? – Was auch immer, sie hat keine Ahnung. Genau weiß sie noch nicht, wo sie sich befinden, aber das wird sie schon noch herausfinden – und zwar bald.
Loreen
Bereits seit Wochen war sie in diesem elenden Kinderheim und hielt es fast nicht mehr aus. Ihr Leben war ein einziger Scherbenhaufen und jetzt, wo alles, was sie brauchte, eine bekannte Umgebung war, hatten die Idioten von Beamten sie mitten ins Nirgendwo in ein Kinderheim geschleppt. In ein Kinderheim, verdammt nochmal! Sie war bereits siebzehn und schon lange kein Kind mehr. Ihre Kindheit hatte genau am zweiten April, einem warmen, sonnigen Tag voller Schmetterlingen und Frühlingsduft geendet. Wer hätte das gedacht? Vor sieben Monaten, sechzehn Tagen und vierzehn Stunden – seitdem war nichts mehr wie zuvor.
Sie war gerade mit Jamie Zuhause gewesen und sie hatten zusammen, neben ihnen zwei leere Pizzakartons, einen Horrorfilm geguckt, um sich die Zeit zu vertreiben, bis ihre Adoptiveltern, die sie bereits als Baby zu sich genommen hatten, von einem Tagestrip nach Hause kamen. Loreen hatte sich am Vortag mit Händen und Füßen gewehrt, mit auf die langweilige Ausstellung zu fahren, die Bilder von toten Künstlern zeigte. Ihre Mutter hatte zwar ein wenig geschmollt, als sie am Morgen alleine aufbrechen mussten, aber Loreen war zutiefst zufrieden mit sich selbst und ihrer Hartnäckigkeit gewesen. Sie hatte den Tag musizierend auf ihrer Klarinette, mit viel Lesen, Fernsehen und natürlich mit Jamie verbracht. Dann hatten sie gemeinsam auf ihre Eltern gewartet. Nur, dass diese nie mehr zurückkamen. Stattdessen hatten um Punkt zehn Uhr abends zwei Polizisten und ein Psychologe an ihrer Tür geklingelt. »Sind sie Ms Earnest, die Tochter von Jill und Howard Earnest?«
Die Männer in Uniform hatten ihr eine Nachricht überbracht, die ihr das gewohnte Leben entrissen und für immer ein paar Schattierungen dunkler gemacht hatte. An den Rest des Abends konnte sie sich nicht mehr genau erinnern. Alles danach war eine verwischte Abfolge von Bildern, Tränen und schmerzhaften Gefühlen gewesen – vor allem Gefühlen. Sie hielten ihr Herz noch immer in kalten Gliedern umklammert. Obwohl sie nicht ihre leiblichen Eltern waren, hatten sie ihr immer wieder gezeigt und gesagt, wie sehr sie sie liebten und der Schmerz ihres Verlustes wog unfassbar schwer.
Keine zwei Tage später wurde sie in das Kinderheim im verschlafenen Triptonville beim dunklen Reelfoot Lake gebracht, obwohl sie darauf bestanden hatte in der Nähe von Chicago zu bleiben. Wenn sie schon keine Familie mehr hatte, wollte sie bei der einzigen Konstante in ihrem Leben bleiben – bei ihrem Freund Jamie.
Loreen und er kannten sich bereits, seit sie noch ganz klein waren. Zuerst waren sie Nachbarskinder, dann beste Freunde und zu ihrem fünfzehnten Geburtstag hatte sie ihren ersten Kuss von ihm bekommen. Natürlich nicht vor allen anderen oder ihren Eltern. Aber als er sich am Abend vor ihrer Haustür verabschiedet hatte, hatte er sie sanft näher gezogen und bevor sie reagieren konnte, hatte sie seine Lippen gespürt. Das war ihr Anfang gewesen. Sie waren auch jetzt noch ein Paar und Loreen wünschte sich bei ihm zu sein, die jahrelange Vertrautheit zu fühlen, auch wenn sie wusste, dass sie jetzt eine andere war als noch vor einigen Monaten. Vor allem vermisste sie sein sommersprossiges Gesicht mit den blauen Augen und den sommerhaften Duft seiner strohblonden Haare.
Doch die Behörden hatten kein Ohr für eine Siebzehnjährige gehabt und schickten sie weg, ohne lange Fragen zu stellen. Nun war sie im Garten des Heimes und blickte, den Kopf auf den Arm gelehnt, Richtung See, dessen ruhige Oberfläche im Licht der Sonne schimmerte. Die glatten Haare flatterten ihr in unruhigen Bewegungen ins Gesicht, als der Herbstwind über die Wiese blies. Genervt, wie sie es seit einer Ewigkeit war, griff sie schnaubend nach den losen Strähnen und wickelte unsanft ein Gummiband darum. Es kümmerte sie nicht, dass sie dabei einige Haare ausriss. Loreen hatte ihre Haare seit jenem Abend nicht mehr gefärbt. Daher glänzten die ersten Zentimeter komplett schwarz, um nach dem Ansatz in ein leuchtendes, dunkles Violett überzugehen. Sie konnte sich nicht mehr um solch unwichtige Dinge kümmern, genauso wenig darum, ihre gebogenen Augenbrauen nachzuzupfen oder auch nur daran zu denken, ihre dunklen Mandelaugen zu schminken. Das wäre zwar eine Unart für die alte, beliebte Loreen gewesen, aber die ›Neue‹ scherte sich einen Dreck um solche Äußerlichkeiten.
Vieles hatte sich verändert, aber was ihr zumindest noch blieb, war ihre Liebe zur Musik.
Seit sie im Heim war, hatte sie mit keinem Jugendlichen Freundschaft geschlossen. Loreen ging ihnen lieber aus dem Weg und nahm nur an den Pflichtveranstaltungen teil. Die restliche Zeit verbrachte sie alleine – trauernd, lesend und vor allem musizierend. Ihre Klarinette und ihr Saxophon waren beides Dinge, die sie fast täglich in die Hand nahm. Die restlichen Sachen in ihrem Zimmer lagen oft tagelang unberührt herum. Zum Glück musste sie das Zimmer seit einigen Wochen nicht mehr teilen, nachdem Loreens Zimmergenossin mit Beginn ihrer Volljährigkeit verschwinden durfte. Seitdem spielte sie oft in ihrem Zimmer, ließ sich vollkommen auf ihre Empfindungen beim Spielen der Instrumente ein und versank in einem Strudel aus Gefühlen und Emotionen. Wenn sie hier im Freien spielte, war sie nie lange allein. Die anderen kamen, um ihrem Spiel zu lauschen und versanken oft mit ihr in der Musik und in den Gefühlen, die diese auslöste; so als ob alle im gleichen Sog der Traurigkeit gefangen wären. Doch die ständige Belagerung und der Blick in die anderen traurigen Gesichter waren Loreen zu viel gewesen. Daher beschränkte sie sich nun darauf, alleine zu spielen – weggesperrt in ihrem Zimmer.
Schweigend und nachdenklich saß sie auf der Wiese, bis es zum Mittagessen läutete. Keine fünf Minuten später rief eine Heimerzieherin ungeduldig ihren Namen. Loreen raffte sich auf und schrie lauthals zurück: »Ich komm‘ ja schon!«
***
Slash
Sie waren gerade erst angekommen und schon jetzt kam ihm hier alles bizarr vor. Slashious hatte immer wieder Kontakt mit der Welt der normalen Menschen, aber von Mal zu Mal erschien sie ihm eigenartiger. Besonders in den letzten paar Jahren. Nun liefen immer alle mit diesen Dingern durch die Gegend, die sie Handys nannten, tippten darauf herum oder redeten irgendwelches Zeug rein. Als ob das jemanden interessieren würde.
Slashious mischte sich nicht oft unter Menschen und wenn er einen Auftrag hatte, dann bestand der meist darin, sich abseits von Städten oder Siedlungen in ein Gefecht zu stürzen. Kämpfen war das, was er konnte und was ihm eine Form von Befriedigung verschaffte. Seit einiger Zeit schon, seit damals … Slashious musste die Zähne fest zusammenpressen, bis sie fast knirschten, um seine Gedanken und Gefühle hinunterzuschlucken.
Nicht jetzt, nicht hier! Am liebsten wäre er zu Hause geblieben oder hätte irgendwo gekämpft, auf Schädel eingeschlagen oder ein Messer geschwungen. Aber nein – Pure war für den Auftrag ausgewählt worden und somit saß auch er hier fest.
Ebenso wie Sky, der seinen ersten eigenständigen Auftrag ausführen durfte. Er war schon einige Male mit Pure, ihm selbst oder anderen auf Missionen gewesen und kannte sich ebenso gut in der Menschenwelt aus wie sie. Bislang war aber immer ein Aufpasser an seiner Seite gewesen, doch nun durfte er weitgehend eigenständig handeln. Sein Vorteil bei dem Auftrag war, dass er das richtige Aussehen hatte, um sich noch als Siebzehnjähriger ausgeben zu können. Das würden sie hier brauchen, um ohne Verdacht zu schöpfen bei den Jugendlichen im Heim herumschnüffeln zu können. Slash und Pure sollten von Seiten der Lehrer Ausschau halten und Sky als einer der Bewohner, um somit schneller ihr Vertrauen zu erlangen.
Sky rempelte ihn absichtlich mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht an. »Slash! Jetzt steh hier nicht so rum wie eine Vogelscheuche! Grübeln kannst du nachher auch noch. Los komm, komm, komm! Lass uns die Operation ›Heimkehrer‹ durchführen! Ich bin schon so gespannt, wie das wird.«
Sein jugendliches Gesicht erstrahlte voller Vorfreude und Skys grasgrüne Augen blitzten aufgeregt, während seine haselnussbraunen Haare leicht wippten. Slash seufzte und ein bekanntes Pochen kündigte sich in seiner Schläfe an. »Sky, beruhig dich. Erstens hat unsere Operation keinen Namen und wenn, dann bestimmt nichts so Offensichtliches wie ›Heimkehrer‹.« Seufzend schüttelte Slash den Kopf. Irgendjemand musste Skys Übermut dämpfen, um nicht alles zu gefährden. »Zweitens, konzentrier dich und hör auf, wie ein Verrückter herumzuhüpfen. Wir dürfen keine Aufmerksamkeit auf uns lenken. Verstanden?«
Sky kam wieder näher an ihn heran und umkreiste Slash. Dabei zupfte er ihn kurz, aber schmerzhaft, an einer seiner schwarzen Dreadlocks, die er mit einem Lederband locker zusammengebunden hatte und die zwischen seinen hellbraunen Schultern lagen. »Verdammt! Sky …«
Hastig schnitt Sky ihm das Wort ab. »Ja, ja, ich weiß, Kumpel. Ruhe und Konzentration. Bla bla bla … Wie oft möchtest du mir das öde Mantra noch vorbeten? Sei nicht so ein Spielverderber. Wir wollen hier auch unseren Spaß haben. Ich weiß, du wolltest lieber einen anderen Auftrag, wo du Ungeheuer töten kannst und viel Blut spritzt. Aber jetzt sind wir hier. Sieh es als eine Art Urlaub.«
Sky stellte sich vor ihn und hob eine Augenbraue, als würde er auf eine Retourkutsche von Slash warten – die er auch prompt erhielt. »Richtig, du hast es erfasst. Ruhe und Konzentration! Du kannst hier kein Theater veranstalten wie ein …«, sagte er, als im selben Moment Pure aus dem Zimmer stürmte, das sie als Lehrkraft im Heim zugeteilt bekommen hatte. Ihre eisblauen Augen schossen Blitze in ihre Richtung. »Jungs, haltet die Klappe! Ihr seid viel zu laut. Euch kann man überall hören. Konzentration und Ruhe. Und jetzt los!«
Mit schnellen Schritten marschierte sie an ihnen vorbei und eilte den Flur in Richtung Aula entlang, ohne einen Blick zurück zu werfen. Sky trottete mit eingezogenem Kopf und roten Wangen hinterher, während Slashs Hände sich zu Fäusten ballten und er leise murrend folgte: »Das Gleiche habe ich gerade gesagt.«
***
Die Kinder und Jugendlichen im Heim waren bereits ausgiebig mit ihrem Mittagessen beschäftigt, als er Pure und Sky in den Speisesaal folgte, der gleichzeitig die Aula war und somit den einzigen großen Raum für alle wichtigen Aktivitäten und Feiern darstellte. Sky bog bereits einige Tische vorher ab und suchte sich einen freien Platz unter den Jugendlichen. Sie hatten mit ihm wirklich eine geeignete Wahl getroffen; er passte gut hinein und wirkte nicht im Geringsten deplatziert. Wohingegen Slash sich wie eine verfluchte Witzfigur vorkam – in der steifen, unbequemen Hose, mit zugeschnürten Schuhen und einem braunen Pullover, der an seiner Haut kratzte. Er vermisste seine Sandalen und das weiche, offene Leder um seinen Körper.
Pure und er nahmen am Tisch der Heimleitung und Lehrer Platz. Sofort vertiefte sich Pure in ein Gespräch mit den anderen Lehrkräften. Sie ging seines Erachtens etwas zu zielstrebig an die Sache, schoss es ihm durch den Kopf, als er einen Teil ihrer Unterhaltung mithörte. »Sind in letzter Zeit viele Jugendliche aufgenommen worden?« … »Aha, wie heißen die?«
Typisch Pure. Sie sprach nicht viel, aber wenn, nahm sie nie ein Blatt vor den Mund und war so direkt, dass ihm manchmal die Spucke wegblieb. Nicht nur, weil sie ehrgeizig und stur war, sondern auch der ungeduldigste Mensch, den Slash kannte. Sogar schon als Kind. Wenn sie damals zu dritt mit ihrem Bruder Fio Verstecken gespielt hatten, hatte sie nach zwei Mal Suchen einfach aufgehört und war mit den anderen Jungs Fangenspielen oder sich gegenseitig mit Beeren abschießen gegangen. Und er und Fio hatten stundenlang in den blöden Verstecken ausgeharrt, bis sie von den Erwachsenen zum Abendessen gerufen wurden.
Wieder erreichte ihn ein Gesprächsfetzen aus Pures Richtung: »Haben Sie besonders talentierte Kinder?« … »Interessant, ist Ihnen dabei etwas ›Komisches‹ aufgefallen?«
Aber wer nur?