Die Neue Zürcher Zeitung. Ein kritisches Porträt
Orell Füssli Verlag, www.ofv.ch
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Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
ISBN 978-3-280-05716-2
eISBN 978-3-280-09089-3
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.
Vorwort
Kapitel 1:Zeitenwende
1.1Hochmut kommt vor dem Fall
1.2Das Schicksalsjahr 2001
1.3»Befreiung« vom Freisinn
1.4Bleierne Jahre – verpasste Chancen
1.5Ein Chief Executive Officer muss her!
1.6Flaggschiff ohne Flottenverband
Kapitel 2:Eine starke Marke
2.1Falken an der Falkenstrasse
2.2Herren unter sich
2.3Markenzeichen: Langeweile
2.4Korrespondenten als heilige Kühe
2.5Ein Fels in der Brandung
2.6Gestern Freund, heute Feind
Kapitel 3:Sparen als Strategie
3.1Jammern ohne zu leiden
3.2Adieu 265 Jahre Berufserfahrung
3.3Das kurze Leben der neuen Kantine
3.4Liaison dangereuse
Kapitel 4:Einzigartige Besitzverhältnisse
4.1Ein elitäres Aktionariat
4.2Die NZZ-Aktie: eine Ertragsperle?
4.3Die »Freunde der NZZ«
4.4Rotierende Rotarier
Kapitel 5:Eintauchen in die digitale Welt
5.1»NZZ Online«: erste Gehversuche
5.2Print contra Online
5.3Wissen, was Leser lesen
Kapitel 6:Wechseljahre
6.1Die Revolution frisst ihre Kinder
6.2Die NZZ ist tot! – Es lebe die NZZ!
6.3Vom Leuchtturm zur Laterne
6.4Zurück auf Feld eins
Literaturverzeichnis
Quellenverzeichnis
Personenregister
Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind,
wir sehen sie, wie wir sind.
»Die Vergangenheit ist ein Ausland, zu dem wir keinen Zutritt haben.« So schrieb Hans Magnus Enzensberger im Feuilleton der »Neuen Zürcher Zeitung«. Und fuhr fort: »Wir müssen uns grosse Mühe geben, um uns ein Bild davon zu machen, und im besten Fall bringen wir ein Mosaik zustande.«1
Das vorliegende Buch ist ein solches Mosaik. Es ist das Werk eines Zeitzeugen, der, wie könnte es anders sein, aus subjektiver Wahrnehmung berichtet oder sich auf andere subjektive Quellen abstützt. Es handelt sich somit nicht um eine Geschichte der »Neuen Zürcher Zeitung«, sondern um Geschichten aus der NZZ – von damals wie von heute. Dass zwischen dem »damals« und dem »heute« Welten liegen, ist nicht nur der Evolution geschuldet, sondern auch tiefgehenden Erschütterungen. Seit der Jahrtausendwende wird die globale Medienwelt von einem digitalen Tsunami heimgesucht, der von einer Schwindsucht bei den Anzeigen und einem gewandelten Leserverhalten begleitet ist. Die NZZ-Gruppe bekam diesen Orkan ebenfalls heftig zu spüren. Wer, wie ich 37 Jahre lang als Korrespondent und Redaktor bei ihr tätig war, weiss, wie gewaltig die Veränderungen sind. »Umbruch« versteht sich deshalb als ein Stück »Institutional Memory« in einer kurzlebigen Zeit, in der sich das Personalkarussell an der Falkenstrasse mit grosser Geschwindigkeit dreht. Viel von dem, was hier festgehalten ist, drohte für immer in Vergessenheit zu geraten. Denn das Gedächtnis der NZZ befindet sich vor allem in den Köpfen derjeniger, die Jahrzehnte dabei waren, inzwischen aber die Zeitung verlassen haben.
In ihrer langen Geschichte setzte die NZZ stets mehr auf Evolution denn Revolution. Doch der nach der Jahrtausendwende aufgekommene, epochale Wandlungsprozess war geradezu revolutionär, ein Umbruch von seltener Brutalität. Das Wort Umbruch gewinnt somit doppelte Bedeutung. Generell steht es für eine grundlegende Veränderung, wie sie die NZZ in den letzten Jahren durchlief. In der Sprache der Typographen bedeutet es das Anpassen der Textzeilen an das Seitenlayout.
»Umbruch« ist weder Abrechnung noch Gefälligkeitswerk. Es ist ein Versuch, einiges von dem niederzuschreiben, was man als NZZ-Mitarbeiter nie schreiben konnte und durfte. Denn es gehört zu den schlimmsten Widersprüchen des Journalismus, dass man über fast alles berichten und kritisch schreiben darf, nur nicht über den eigenen Arbeitgeber. Die Schere im Kopf war beim Verfassen vorliegender Zeilen also nicht notwendig. Wenn sie später dennoch hie und da zum Einsatz kam, so vor allem aus juristischen Überlegungen und gelegentlich auch aus der Erfahrung heraus, dass Journalisten-Kollegen sehr dünnhäutig sein können. Dabei war es nie meine Absicht, einzelne Protagonisten und deren Handeln oder Nichthandeln post festum zu zensieren – im Nachhinein ist man bekanntlich immer gescheiter. Doch Geschichten aus der NZZ sind primär Geschichten von Menschen, vor allem von solchen mit Führungsverantwortung. Folglich spielen individuelle Wahrnehmungen, beziehungsweise Unterschiede in denselben, eine grosse Rolle. »Perception is reality« heisst es in der Fachsprache, und mehr als einmal im vorliegenden Text. Dieser erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Im Gegenteil: Er lebt von der Unvollständigkeit und möchte Lesern und Leserinnen einen informativen und zugleich unterhaltsamen Blick hinter die Kulissen der NZZ-Gruppe gewähren. Darüber hinaus will er aufzeigen, vor welch enormen Herausforderungen dieses Medienhaus im Speziellen und die Verlagsbranche im Allgemeinen stehen. Und das nun schon seit bald zwei Jahrzehnten.
»Umbruch« hätte ohne die Unterstützung unzähliger Mitarbeiter der NZZ, ehemaliger wie aktiver, niemals das Licht der Welt erblickt. Die Liste der Geburtshelfer ist aber zu lang, um hier wiedergegeben zu werden. Deshalb sei ihnen allen kollektiv mein aufrichtigster Dank ausgesprochen, verbunden mit der Hoffnung, dass sie mit dem Resultat zufrieden sind. Die Verantwortung dafür liegt natürlich ausschliesslich bei mir. Ein Dank geht auch an den Orell Füssli Verlag, der das Projekt mit Wohlwollen begleitete. Die Zusammenarbeit war naheliegend, schliesslich war es die Verlagsbuchhandlung Orell, Gessner, Füssli & Co, welche schon 1780 die erste »Zürcher Zeitung« herausbrachte, die dann 1821 in »Neue Zürcher Zeitung« (NZZ) umbenannt wurde.
Friedemann (Fred) Bartu,
Meilen, im Frühling 2020
Um die NZZ braucht man sich wohl keine
Sorgen zu machen: Too big to fail.2
Silvester 1999, die Nacht der Nächte: Fast der ganze Globus fiebert dem neuen Millennium entgegen. Seit Monaten hat sich die Welt für dieses Datum gerüstet und für mögliche Krisen, wie das gefürchtete 2K-Computerproblem. Doch 2000 startet ohne Pannen. Es fallen keine Züge aus, es bleiben keine Flugzeuge am Boden kleben und auch die Geldautomaten funktionieren nach der Jahreswende reibungslos. Die Menschen, von Tokio bis Rio, sind erleichtert und lassen die Gläser klingen, obgleich das dritte Millennium eigentlich erst mit dem 1. Januar 2001 einsetzt. In diesem Trubel verstreicht am 12. Januar 2000 der 220. Geburtstag der Neuen Zürcher Zeitung recht sang- und klanglos. Chefredaktor und Ressortleiter stossen zwar diskret mit »Veuve Clicquot« – und separat dazu Mitglieder der Auslandredaktion mit Wein –, auf die Jubilarin an. Eigentlich hätte man Grund zum ausgelassenen Feiern gehabt. Die Weltwirtschaft florierte und die Börsen eilten von Rekord zu Rekord, beflügelt von Titeln der »New Economy«. Diese aus internetbasierten Startups bestehende junge Branche hatte eine Goldgräberstimmung ausgelöst. Aktien unzähliger Neugründungen kletterten auf immer neue Höchststände. Illusion, Spekulation und Manipulation waren der Motor. Die Dotcom-Blase war perfekt. Früher oder später würde sie platzen.
Die NZZ profitierte ebenfalls von diesem Boom. Am 20. September 1999 war das bislang umfangreichste Blatt aller Zeiten gedruckt und versandt worden: 76 Seiten Normalteil plus 64 Seiten einer Sonderbeilage anlässlich der »Orbit«-IT-Messe in Basel, sowie eine 28-seitige »Orbit-Stellen-Beilage«: stolze 168 Seiten. Diesen Ausstoss verglich der damalige Druckereichef mit dem Durchsatz eines Zementwerkes: 95,7 Tonnen Zeitung! Eine technische Meisterleistung, welche zudem einen satten Beitrag an den Unternehmensgewinn lieferte. Ergo hoffte man 2000 Ähnliches zustande zu bringen. Allein, dazu sollte es nicht mehr kommen. Im Frühjahr 2000 platze die Blase. Die Kurse der Stars der New Economy stürzten mit derselben Rasanz ab, mit der sie zuvor in die Höhe geschnellt waren. Es war ein Albtraum für viele Anleger, die nach anfänglichen Gewinnen die Zeche bezahlten. »Zocker, Zirkus, Dreistigkeit« titelte »Spiegel online« Jahre später ein Post-mortem-Stück zu diesem Boom.
Die »Alte Tante« tanzte damals ihren bislang letzten Tango. Mit rund 2000 Mitarbeitern erzielte die NZZ-Gruppe 2001 einen Rekordumsatz von über einer halben Milliarde Franken. Dank guter Konjunktur und sprudelnden Finanzerträgen hatte sie ihren Gewinn innert fünf Jahren auf 50 Millionen Franken anheben und damit mehr als verdoppeln können. Die Eigenmittel-Rendite erreichte 11,4 Prozent und die Eigenkapitalquote 69 Prozent. Ein Bonmot machte die Runde: Die NZZ sei die einzige Bank der Schweiz, welche sich eine Tageszeitung leiste. Entgegen dem Branchentrend gelang es auch, die Auflage auf einen Höchststand von knapp 170000 Exemplaren zu steigern. Man lebte im medialen Schlaraffenland. Ein Redaktor soll es damals sogar geschafft haben, bloss ein bis zwei Artikel pro Jahr zu verfassen – und das bei vollem Lohn. Dank prallgefüllter Kasse liess man ihn gewähren. Alles schien rund zu laufen, so dass kaum Handlungsbedarf geortet wurde, oder wie der Amerikaner sagen würde: »If it ain’t broke, don’t fix it«. Dabei waren am Horizont neue Herausforderungen bereits sichtbar, vor denen man auch an der Falkenstrasse die Augen nicht verschloss. So stand im Jahresbericht 2000 warnend zu lesen, der Wettbewerb im Raum Zürich werde sich mit der geplanten Lancierung zweier Gratiszeitungen verschärfen. Trotzdem glaubte man selbstsicher, die NZZ mit ihrer hohen publizistischen Qualität und ihrer anspruchsvollen Leserschaft werde höchstens am Rande von diesen Entwicklungen tangiert sein. Schliesslich offeriere man ein schweizweit einzigartiges Produkt, das noch lange Bestand haben werde. Nach dem Motto »content is king«.
Doch da war der Wunsch der Vater des Gedankens. Bald schon setzte ein bedrohlicher Abwärtstrend bei den Werbekunden ein. Ausserdem wanderten lukrative Rubriken-Inserate in neue und günstigere Onlineportale für Immobilien, Jobs und Autos ab. Als Reaktion auf diese Umwälzungen beteiligte sich die NZZ an Press-Web, einem Joint-Venture, mit dem Schweizer Verleger dieses Geschäft zurückerobern wollten. Das Unterfangen begann vielversprechend. Doch als Tamedia wieder aus dem Projekt ausstieg und eigene Wege ging, war absehbar, dass Press-Web scheitern würde. Die Idee, Rubrikeninserate in einen gemeinsamen Online-Topf zu werfen und so eine starke neue Marke zu kreieren, war wohl richtig, doch die dazu nötigen hohen Investitionen erwiesen sich als Stolperstein. Zwar gründeten die verbliebenen Verlage später die Plattform Swissclick, doch stand auch diese unter keinem glücklichen Stern, weil im Online-Business gilt: »The winner takes it all« – also bloss der Marktführer erfolgreich ist. Fast alle Spitzenpositionen waren aber schon besetzt. Zudem fehlte die letzte Bereitschaft der Verleger, mit Swissclick ihre eigenen Rubriken zu konkurrenzieren. Es ging allen noch zu gut – oder noch nicht schlecht genug.
Anfangs 2001 lief auch bei der NZZ noch vieles wie geschmiert. Man sass auf einem Matterhorn von Cash und Finanzanlagen und auf entsprechend hohem Ross. Das galt selbst für die Redaktion, deren hochmütige Devise lautete: Wir schreiben etwas, wovon wir glauben, dass es Leser und Leserinnen interessiert. Sollte dies nicht der Fall sein, so ist das nicht unser, sondern deren Problem. Auch hinsichtlich Enthüllungsjournalismus gab man sich blasiert: Die NZZ sei so wichtig, dass, wenn es etwas Wichtiges zu berichten gäbe, sie das sowieso als Erste erfahre. Auslandredaktor Christoph Mühlemann meinte einmal mit gelassener Überheblichkeit: »Der Leser weiss: Wenn es nicht in der NZZ steht, dann ist es auch nicht wichtig.«
Ähnlich verhielt sich der Verlag. Die Werbegelder sprudelten so munter, dass die Anzeigenabteilung es sich leisten konnte, Aufträge abzuweisen und werbewillige Kunden auf ein späteres Erscheinungsdatum zu vertrösten. Ergo brauchte man auf Anliegen der Inserenten keine grosse Rücksicht zu nehmen. Persönlich wurde mir das anlässlich einer Uhrenbeilage vom Frühjahr 2002 bewusst. Als Korrespondent für die Romandie sollte ich dazu einige Beiträge liefern. Bald schon kontaktierte mich der für die Westschweiz zuständige Annoncenverkäufer. Er bat mich, nicht nur über »obskure« Uhrenlabels zu schreiben, wie dies in der Vergangenheit oft der Fall gewesen sei, sondern auch einmal grosse Marken, durchaus auch kritisch, zu porträtieren. Diese würden für Millionen von Franken im Jahr Werbung in der Tagesausgabe schalten, ohne bisher Resonanz in den Beilagen gefunden zu haben. Das war typisch für die NZZ, darin wurzelte ihre hohe Glaubwürdigkeit.
In meiner 25-jährigen Korrespondententätigkeit war dies der einzige Kontakt mit einem Anzeigenverkäufer. Am Ende konnte ich dessem Wunsch ein Stück entgegenkommen. Widerspenstig gab sich mitunter die Redaktion, wenn es darum ging, ein Inserat auf einer rechtsliegenden Zeitungsseite zu platzieren. Diese waren ausschliesslich für redaktionelle Beiträge reserviert. In Ausnahmefällen konnte der Verlag eine Sonderbewilligung beantragen, doch wurde eine solche längst nicht immer gewährt. Und wenn ja, dann oft nur »schweren Herzens«. So wenig kundenfreundlich war der erfolgsverwöhnte Betrieb.
»Leichten Herzens« liess man dagegen die grossen Räume in Keller und Parterre des NZZ-Gebäudes über ein Jahrzehnt lang leer stehen. Dort, wo bis Ende der 1980er Jahre Druckerei und Spedition angesiedelt waren, klaffte gähnende Leere. Später wurde ein Teil dieser Flächen für das Redaktionsarchiv genutzt und der Rest für gelegentliche gesellige Anlässe, wie etwa ein Redaktionsfest, bei dem sogar die Walliser Pop-Ikone Sina auftrat. Diverse Vorschläge zur wirtschaftlichen Nutzung dieser Räumlichkeiten waren auf dem Tisch des Chefredaktors gelandet, inklusive der Idee einer zweistöckigen Einkaufsarkade nach Pariser Vorbild. Doch nichts geschah. Man wolle keine »Dessous-Läden« im Haus, hiess es von zuständiger Seite. Auf Ablehnung stiess auch ein Plan des damaligen Chefbuchhalters Edgar Hirt, der das NZZ-Gebäude anfangs der 1990er Jahre zu einem stolzen Preis an eine japanische Bank vermieten und die Redaktion an einen anderen Ort auslagern wollte. Hirt dürfte sich an der Fleet Street, der einstigen Londoner Zeitungsmeile, orientiert haben. Dort gibt es auch keine Verlage mehr, sie sind längst auf billigere Pflaster ausgewichen. Nicht so die NZZ. Diese verteidigt ihren Logenplatz seit über 100 Jahren.
Damals wie heute verbindet der bauliche Umgang mit einer der prestigeträchtigsten Lagen Zürichs den Willen des Traditionsunternehmens NZZ, sich dem breiten Publikum zu öffnen, die eigene Identität epochengerecht mit gesundem, aber nicht überheblichem Selbstbewusstsein architektonisch zu untermauern – und gleichzeitig die an dieser Lage besonders kostbare Ressource Boden möglichst wirtschaftlich zu nutzen.3
So geschwollen kommentierte 2008 Chefredaktor Spillmann die bislang letzte Totalrenovation des Gebäudes. In deren Rahmen wurden die ungenutzten Flächen in Shops und Restaurant samt Bar gewandelt und langfristig verpachtet. Die »Sonntagszeitung« schätzte 2014 den Wert des NZZ-Hauses auf mindestens 170 Millionen Franken. Seither dürften es wohl einige Millionen mehr geworden sein.
Mit der Swissair verabschiedete sich der
freisinnig-militärische Machtblock, der das
Land regiert, gefördert und erstickt hatte.4
Am 2. Oktober 2001 brach in der Schweiz eine Welt zusammen: »Aus finanziellen Gründen ist die Swissair nicht mehr in der Lage, ihre Flüge durchzuführen«, erklang es am Flughafen Zürich, dem damaligen Zeitgeist zuliebe und mit einem Aufwand von 800000 Franken in »Unique Zurich Airport« umbenannt. Die Hiobsbotschaft löste eine Schockwelle aus, schliesslich war die Swissair nicht irgendeine Fluggesellschaft. Sie war die fliegende Botschafterin der Schweiz. Die Heckflosse mit dem Schweizerkreuz stand für Sicherheit, Solidität und Service – für Schweizer Qualität eben. Dass diese Ikone untergehen würde, war bis anhin unvorstellbar. Den Todesstoss versetzte ihr der islamistische Anschlag vom 11. September auf die Twin Towers des World Trade Center in New York. Dieses »Pearl Harbor des 21. Jahrhunderts« stürzte die Welt in eine tiefe Rezession. Über Nacht breitete sich Angst vor dem Fliegen aus, was der bereits angezählten Swissair den K.-o.-Schlag verpasste. Zudem trug eine sich als wenig kompetent erweisende Schweizer Wirtschafts- und Politelite mit zum Debakel bei. Die beiden Grossbanken UBS und Credit Suisse standen am Pranger, da sie es verpassten, der ums Überleben kämpfenden Airline dringend benötigten Sauerstoff in Form von Liquiditätsspritzen zu verabreichen. Und so wurde 2001 das Vokabular der Schweizer um ein gewichtiges Wort reicher: Grounding.
Die Art und Weise, wie die »Sanierung« umgesetzt wurde und wie ein unsägliches Chaos angerichtet worden ist, spottet jeder Beschreibung. Sie wird gewiss kein Lob und sicher nicht einmal Verständnis ernten, sondern wohl nur begreifliche Empörung und Wut. Diese Emotionsausbrüche werden sich zunächst gegen die beiden Finanzinstitute richten, aber dann auch gegen die Banken insgesamt, gegen die Unternehmenswelt und gegen die Marktwirtschaft.5
So wetterte die NZZ. Für das Blatt waren Konjunktureinbruch und Swissair-Grounding eine schwere Bürde. Es kam zu einem dramatischen Werberückgang, besonders bei den Stelleninseraten. Dazu gesellte sich eine miserable Börsenverfassung, so dass die NZZ-Gruppe 2001 nur noch eine schwarze Null erzielte, gegenüber einem Plus von 50 Millionen Franken zuvor. Es war ein radikaler Absturz, der auch im Folgejahr anhielt. Bis dann waren gegenüber dem Jahr 2000 Inserate und Annoncen im Umfang von 40 Millionen Franken weggebrochen. 2002 schloss deshalb mit einem rekordhohen Verlust von 50 Millionen Franken. Die Party hatte ein jähes Ende genommen. Hals über Kopf wurden mehr als 80 Stellen abgebaut – über natürliche Fluktuationen, ordentliche und vorzeitige Pensionierungen sowie über die Reduktion von Arbeitspensen. Dennoch: 27 Mitarbeitern wurde gekündigt. Es war die wohl schwärzeste Stunde für Hugo Bütler, der den NZZ-Dampfer bis dahin durch vorwiegend ruhige Gewässer hatte (mit)steuern können.
Die Swissair-Krise brachte auch die NZZ-Redaktion in die Bredouille. Eric Honegger, der VR-Präsident der SAir Group, präsidierte nämlich seit 1999 ebenfalls den NZZ-Verwaltungsrat. In dieser Doppelrolle hatte er sich in einem Interview mit der Zeitung vom März 2001 zuversichtlich zur Zukunft der Swissair geäussert. Damit setzte sich die NZZ aber dem Vorwurf aus, ihrem Präsidenten ein Gefälligkeitsinterview gewährt zu haben, zumal sie es unterliess, auf Honeggers Position an der NZZ-Spitze hinzuweisen. Diese Sicht teilte auch Christoph Blocher:
Eigentümlich waren die milden, schonungsvollen Analysen des Wirtschaftsblattes »Neue Zürcher Zeitung«. Der gegenwärtige Verwaltungsratspräsident der NZZ heisst Eric Honegger und ist dank seinem Vorgänger Ueli Bremi (FDP) dorthin gelangt. Selbstverständlich werden die NZZ Redaktoren umgehend beteuern, der Verwaltungsrat habe noch nie Einfluss auf die journalistische Arbeit genommen. Dies dürfte stimmen. Wirksamer als Befehle wirken in solchen Fällen der vorauseilende Gehorsam und die politische Korrektheit, die mehr mit Politik als mit Korrektheit zu tun hat.6
In der Folge ging die NZZ-Redaktion auf Distanz zu ihrem zuvor durchaus geschätzten Präsidenten und legte ihm nahe, das imageschädigende Seilziehen um seine Abgangsentschädigung rasch zu beenden. Worum ging es? Als Sohn des FDP-Bundesrates Fritz Honegger war Eric bereits in jungen Jahren vieles zugefallen. Mit 41 Jahren sass er in der Zürcher Regierung. Er war bemüht, die ihm anvertrauten und unvertrauten Dossiers möglichst gut zu verwalten. Denn er wusste, dass politische Gegner ihm Fallgruben bauten. Als er nach drei erfolgreichen Perioden keine weiteren Aufstiegschancen sah, trat er aus der Politik zurück. Obwohl der promovierte Historiker »einen Beruf im engeren Sinne nie gelernt hatte«, wurde er von der Wirtschaft mit Mandaten überhäuft; was ihm schmeichelte. So zog er in den Verwaltungsrat von UBS und Plakatgesellschaft ein, übernahm das Präsidium von Möbel Pfister und NZZ – und schliesslich auch das der SAir Group, der Muttergesellschaft der Swissair. In deren 32-köpfigen Verwaltungsrat hatte er als Vertreter des Kantons Zürich bereits seit 1993 Einsitz. Wer es in diesen exklusiven Klub schaffte, sei im »Olymp der Schweizer Wirtschaft« angelangt, soll der langjährige Swissair-Präsident Armin Baltensweiler gesagt haben. Er drückte aus, wie sich diese handverlesene Runde anfühlte: Die Götter des helvetischen Olymps waren scheinbar unfehlbar und widersprachen sich selten. Sie bildeten eine eingeschworene Seilschaft, zumindest solange alles gut ging. Eric Honegger fühlte sich wohl an deren Seilen. Der damalige »Tages-Anzeiger«-Redaktor Constantin Seibt nahm diese Seilschaften aber kritisch ins Visier:
Karrieren verliefen langsam; Neuankömmlinge wurden in Klubs, Unternehmen, Militär, FDP-Sektionen beschnüffelt. Am Ende rochen alle gleich. Doch wer einmal im Kreis aufgenommen war, hatte nichts zu befürchten. Das Denken übernahm im Zweifelsfall die NZZ. Es war eine stille Welt von sehr erfolgreichen, sehr respektierten Leuten: die Schweiz der Hochkonjunktur. Sie schien auf Ewigkeit gebaut.7
Für Honegger endete diese »Ewigkeit« abrupt. Er, der an der Harvard Business School eine Schnellbleiche in Management absolviert hatte, konnte sich zwei Jahre als Wirtschaftskapitän halten. Dann kam der Fall. Sein Karrieregrab schaufelte er, als er 2001 das Amt des CEO der Swissair zusätzlich übernahm. Dieses Doppelmandat erwies sich als Himmelfahrtskommando. Die Airline befand sich arg in Schieflage und Honegger gelang es nicht, das Ruder herumzureissen; genauso wenig wie es seinem Vorgänger gelungen war, und wie es auch sein Nachfolger nicht schaffen würde. Ergo wurde der FDP-Mann nach nur sechs Wochen im März 2001 wieder abgesetzt, notabene von denselben Leuten, die ihm zuvor die Steigbügel gehalten hatten. Aus unverständlichen Gründen bestand er auf der Erfüllung seines mehrjährigen Arbeitsvertrages und einer Lohnfortzahlung von 2,2 Millionen Franken. Damit wurde er bei Volk und Medien zum Buhmann. Es war Wirtschaftsredaktor Beat Brenner und nicht etwa der Chef des Wirtschaftsressorts, Gerhard Schwarz, der in dieser Angelegenheit Stellung bezog und Honegger in einem ausgewogenen Artikel zum Einlenken aufrief:
Ob vertraglich so festgeschrieben oder nicht, für eine breitere Öffentlichkeit bleibt schwer nachvollziehbar, dass nach knapp einjähriger Präsidialzeit Lohnzahlungen bis Vertragsende 2005 fällig werden sollen. In dieser ausserordentlichen Lage wäre Honegger zweifellos wohl beraten, wenn er rasch, am besten noch vor der Generalversammlung der SAir Group vom 25. April, eine Kompromisslösung finden könnte.8
Kurz vor der SAir-Generalversammlung bot Honegger Hand für einen Kompromiss. Anderthalb Monate später trat er auch vom Verwaltungsrat der NZZ zurück; nicht zuletzt auch auf Drängen der Redaktion, für die er schlicht nicht mehr haltbar war. Sein Kollege Hannes Goetz, der FDP-Mann, der lange zusammen mit Honegger im Swissair-Verwaltungsrat sass, konnte dagegen seinen Platz im NZZ-VR retten; zumindest für ein weiteres Jahr. Neuer Präsident wurde der bisherige Vize, Conrad Meyer, Ordinarius für Rechnungswesen an der Universität Zürich. Dieser übernahm das Ruder in einem denkbar schwierigen Moment. Er ahnte nicht, in welchem Umfang ihn das Amt belasten, fordern und letztlich auch überfordern würde. Kaum hatte er auf dem Präsidentenstuhl Platz genommen, ging die Krise los. Plötzlich blies Meyer ein steifer Wind ins Gesicht. Er stehe an der Spitze der »besten Zeitung mit den schlechtesten Strukturen«, spotteten Kritiker.
Sechs Jahre verstrichen, bis der Fall Swissair juristisch aufgearbeitet wurde. Der Prozess von 2007 zeigte, wie hochkomplex die Zustände bei der Airline waren. Wirklich Belastendes kam nicht zu Tage, so dass alle Angeklagten freigesprochen wurden. So gerechtfertigt dieses Urteil aus juristischer Sicht gewesen sein mag, so sehr hinterliess es einen bitteren Nachgeschmack; besonders der Umstand, dass das Gericht den Angeklagten Prozessentschädigungen in Millionenhöhe zusprach. Dies führte zu tiefen Kratzern am Lack der Wirtschaftselite und der mit ihr verbandelten Freisinnigen Partei.
Der abgesetzte Honegger setzte sich mittlerweile ins österreichische Burgenland ab. Dort baute er sich eine neue Existenz als Gastgeber mit eigener Pension auf. Seine Erfahrungen brachte er in Buchform heraus. Dessen Schlüsselkapitel heisse »Gutgläubig bis zum Schluss«, schrieb der damalige NZZ-Inlandchef Matthias Saxer in seiner Rezension. Es offenbare einen von den Werten der Konsenspolitik und der Milizarmee geprägten Menschen, der in einer ihm wesensfremden Managerwelt vergeblich ein Mindestmass an Loyalität, Vertrauen und Kollegialität suchte. Mit NZZ-typischer Zurückhaltung fügte Saxer Kritik an: Der unbefangene Leser frage sich, warum sich die Managerkaste Mandate in den grossen Verwaltungsräten ohne Einspruch von Aktionären so lange nach eigenem Gusto übers Kreuz zuhalten konnte. Wesentlich härter ging Constantin Seibt mit Honegger ins Gericht:
Der Rauswurf bei der SAir Group, der als Abgangsentschädigung mit einem Jahreslohn und 480000 Franken verbunden war, (…) ist Honeggers Trauma. Es schmerzt ihn (…) dass sein Hinauswurf von keiner menschlichen Regung seiner ehemaligen Verwaltungsratskollegen begleitet war, schreibt Honegger, der zuvor – wohl ebenso ohne menschliche Regung – Philippe Bruggisser entlassen hatte. Honeggers Perspektive ist die eines egozentrischen Popanzes, der alles richtig gemacht hat, dem jegliche Selbstkritik abgeht und der in seinem Buch vor allem seine Gefühle schildern und Mitleid heischen will. Dass neben ihm unzählige Swissair-Angestellte ihren Job verloren, Leute, die nicht wie er auf das Netzwerk des Rotary Club und des Militärs sowie auf die finanzielle Absicherung durch Verwaltungsratsmandate zählen konnten – dazu fällt Honegger kein Wort ein.9
Nicht minder kritisch klang es von rechts: Die Swissair-Krise gab Christoph Blocher Gelegenheit für eine Attacke auf den Freisinn. In einem Artikel im »Tages-Anzeiger« – eingefädelt, wie es hiess, vom damaligen Inlandredaktor Markus Somm – stellte der SVP-Nationalrat die für ihn rhetorische Frage »Gesundet der Freisinn mit der Swissair?« und lieferte die Antwort gleich mit:
Die bestürzenden Ereignisse der letzten Wochen zeigen drastisch die Folgen einer unheilvollen Verfilzung. Das Problem Swissair ist zugleich – und vielleicht noch mehr – ein Problem Freisinn. Die verheerenden Auswirkungen einer unernsten Auffassung von Wirtschaft wie von Politik lassen sich heute nicht mehr beschönigen und bedürfen der schonungslosen Kritik (…) Man wird nicht darum herumkommen, Namen von Schweizer Firmen, Managern und Politikern zu nennen, deren kläglicher Leistungsausweis allzu lange bengalisch beleuchtet wurde, heute aber als gewaltiger Scherbenhaufen für jedermann sichtbar zu Tage tritt. (…) Die Swissair wird seit Jahren praktisch ausnahmslos von Freisinnigen geleitet. Schon der freisinnige Hannes Goetz stand für die verfehlte und vom Verwaltungsrat mitgetragene »Hunter-Strategie«.10
Schweres Geschütz fuhr Blocher auch gegen den SAir-Präsidenten auf, wobei er gewissentlich verschwieg, dass die von ihm und der SVP mit Verve geforderte und an der Urne erfolgte Ablehnung des EWR-Vertrages ein zentraler Auslöser der Krise bei der Swissair war:
Eric Honegger – von Beruf Historiker, später Verbands- und Parteisekretär und schliesslich vollamtlicher Politiker – sass sieben Jahre im Ausschuss des Verwaltungsrats. Er verfügte noch in seinem 54. Lebensjahr über keinerlei Erfahrung, geschweige denn einen Leistungsausweis im freien Markt, und hatte in seinem Leben noch nie einen Bleistift verkaufen müssen. Dennoch machten ihn seine freisinnigen Freunde zum Verwaltungsratspräsidenten der SAir Group, wo er die katastrophalen Fehlentscheide des Managements seit Jahren mitträgt.11
Eric Honegger ist an der Falkenstrasse bis heute präsent. Sein Konterfei hängt mit dem anderer ehemaliger Präsidenten im ehrwürdigen Komiteezimmer im zweiten Stock des NZZ-Gebäudes – ein holzgetäfelter, historischer Raum, der wie kein zweiter Tradition und Geschichte dieses Hauses atmet.
Die Zeitung hat sich vom Freisinn distanziert,
weil man den Freisinn plötzlich als
zu wenig freisinnig empfand.12
Heute steht die liberale Schweiz im Gegenwind. Die FDP spürt das mehr als alle anderen Kräfte, die in irgendeiner Form dem liberalen Gedankengut anhängen. Seit drei Jahrzehnten schleppt sich die Regierungspartei (…) auf nationaler Ebene von einer Wahlschlappe zur nächsten (…) Das Verliererimage drückt schwer.13
Diese Untergangsprosa findet sich nicht etwa in der linken »Wochenzeitung« (WOZ), sondern in der dem Freisinn traditionell nahestehenden NZZ. Die FDP befinde sich im Gegenwind, weil sie eine wirtschaftsnahe Partei ist. Sie habe in den letzten Jahren die Zeche bezahlt für Verwerfungen, die 2007 in Amerika mit der Immobilienkrise ihren Anfang nahmen und die 2008 zur globalen Finanzkrise eskalierten.
Stolze Bankinstitute mussten mit Staatskrücken gestützt werden. So auch die UBS. In Europa wurden Rettungsschirme aufgespannt. Griechenland hing am seidenen Faden. Der damit einhergehende Reputationsschaden für die freie Marktwirtschaft schlug in der Schweizer Parteienlandschaft am heftigsten auf die FDP durch. Topverdiener haben im Wettstreit um überschwere Lohntüten und exzessive Boni das Vertrauen der Bevölkerung in die liberale Wirtschaftsordnung torpediert. Die Konkurrenz spielt dem Freisinn nur zu gern die Mitverantwortung zu: Mitgegangen, mitgehangen!14
Das waren radikale Worte aus der Feder des damaligen NZZ-Inlandchefs René Zeller. Unter dem Titel »Das liberale Feuer brennt nicht mehr« blies er 2014 dem Freisinn den Marsch. Damit trieb er die Abnabelung der Zeitung von der zunehmend als gefühlskalt wahrgenommenen Partei weiter voran. An der Falkenstrasse begann man sich gegen den Vorwurf des »mitgegangen, mitgehangen« zu wehren. Chefredaktor Bütler und dessen Vertraute erkannten die Gefahr, dass die NZZ, sollte sie an ihrer Nibelungentreue zur FDP festhalten, ebenfalls marginalisiert werden könnte. Denn der scheinbar unaufhaltsame Niedergang der FDP war seit Jahren ein Thema. Er begann mit dem Fall der Berliner Mauer und beschleunigte sich danach mit der Implosion der Sowjetunion. Beides beraubte bürgerliche Parteien teilweise ihrer raison d’être. Plötzlich wurde einem auch die Unmenschlichkeit des real existierenden Sozialismus nicht länger hautnah vorgeführt. Mehr noch: Sie geriet sogar sukzessive in Vergessenheit. Seither werden die Qualitäten eines freiheitlichen Systems nicht mehr gleich hoch gewichtet wie früher. Neue nationalistischkonservative Parteien stellen sie sogar offen in Frage.
Im Gegensatz zur FDP verstanden es Blocher und die SVP, das verloren gegangene Feindbild Moskau und die UdSSR durch das neue Feindbild Brüssel und die EU zu ersetzen. Mit ihrem Kampf gegen die Annäherung an Europa war die SVP sehr erfolgreich und wurde zur führenden Kraft im bürgerlichen Lager – auf Kosten der FDP. Ringier-Kolumnist Frank A. Meyer brachte es im »Blick« einmal wie folgt auf den Punkt:
Das Soziale hat der Freisinn den Sozialdemokraten überlassen, das Ökologische den Grünen – und bekämpft heftig beides, indem er Sozialdemokraten und Grüne zu seinen politischen Hauptgegnern erkoren hat. Sowas aber merkt der Wähler, gerade der sozial und ökologisch sensible freisinnige Wähler – und ist verstimmt. Dieser freisinnige Wähler, dem eine menschenfreundliche und weltoffene Schweiz am Herzen liegt, merkt ebenso, wem der Freisinn willig folgt: der SVP. Wenn Blocher ins Alphorn bläst, muht die FDP beifällig. So in der Steuerpolitik, so im Fall Swisscom, so im Fall Asylgesetz.15
»Mitgegangen, mitgehangen!« Dieser Vorwurf war der NZZ bereits in den 1980er Jahren gemacht worden: beim Rücktritt von Elisabeth Kopp, der ersten Frau im Bundesrat. Diese Freisinnige aus der Zürcher Vorortgemeinde Zumikon war 1984 gewählt worden – mit dem ungeteilten Segen der NZZ. Dabei musste sich die blitzgescheite, aber etwas farblos wirkende Juristin ihre Anerkennung in Partei und Parlament erst durch viel Fleiss und hohe Dossierkompetenz erarbeiten. In der Bevölkerung dagegen genoss sie von Beginn weg viel Sympathie, obgleich ein Damoklesschwert über ihrem Haupt schwebte: in der Person ihres Ehemannes Hans W. Kopp. Dieser erfolgreiche Rechtsanwalt war wegen seiner »Libanon Connection« in die Schlagzeilen geraten. Als Vizepräsident des Verwaltungsrates der in Dübendorf ansässigen Shakarchi Trading Company, deren Präsident der aus dem Libanon stammende Mohammed Shakarchi war, bot Hans W. Kopp viel Angriffsfläche. Vor allem nachdem 1988 der, wie sich später herausstellte, unbegründete Vorwurf aufkam, die Firma sei in kriminelle Geldwäscherei-Aktivitäten verwickelt. Rasch wurde es eng für Elisabeth Kopps Gemahl und für die Vorsteherin des Justiz- und Polizeidepartements. Die Gerüchteküche brodelte und es hiess, die Bundesrätin habe, als sie in ihrer Behörde von einem eingeleiteten Untersuchungsverfahren gegen die Shakarchi Trading Company erfuhr, ihren Mann umgehend telefonisch zum Rücktritt aus derselben aufgefordert. Allein, die NZZ schwieg zu den sich häufenden scheinbaren Indizien gegen das Ehepaar Kopp. Das Blatt wollte oder konnte keinen Einfluss auf das Geschehen nehmen, stellte sich aber bis zuletzt hinter die Magistratin, welche enge Kontakte zu diversen NZZ-Redaktoren pflegte. Es wäre ein klarer Kommentar von höchster Stelle nötig gewesen. Doch nichts dergleichen geschah. Chefredaktor Bütler liess den Kelch an sich vorbeigehen und Inlandchef Müller erklärte sich wegen seines FDP-Nationalratsmandates als befangen. Ergo spielten die beiden den Ball dem jungen Lokalredaktor Thomas Häberling zu, der wenig mit der Sache zu tun hatte, aber schon damals als guter Diener seines Herrn, gemeint des Chefredaktors, galt. So entstand am Freitag, den 9. Dezember 1988 ein Leitartikel für die Samstagsausgabe, in dem Häberling Frau Kopp so gut es ging den Rücken stärkte. Er würdigte »die ausgezeichnete Amtsführung und die hohe persönliche Glaubwürdigkeit der Bundesrätin«, die für die Beurteilung allein ausschlaggebend sein müssten. Kopp war tags zuvor mit klarem Mehr zur Vizepräsidentin des Bundesrates gewählt worden. Für Häberling war die Angelegenheit deshalb nicht eine »Affäre Elisabeth Kopp«, sondern eine »Affäre Hans W. Kopp«. Noch ehe der Text ins Blatt gestellt war, platzte die Botschaft herein, Frau Kopp habe zugegeben, mit ihrem Mann telefoniert zu haben. Wie die Freisinnige Partei so war auch die NZZ völlig überrumpelt. An der Falkenstrasse fühlte man sich von der Magistratin verraten. Trotzdem hielt man an Häberlings Text fest und entschied, diesem bloss einen Absatz nachzuschieben, in welchem der Autor sozusagen das Gegenteil dessen schrieb, womit der Artikel begonnen hatte. Er bedauerte, dass sich die Trennung von Kopps Amtstätigkeit von den Handlungen ihres Mannes als Fiktion erwies. Das war wahrlich kein rühmlicher Auftritt für eine Zeitung vom Format der NZZ. Offenbar hatten ihr die Umarmung durch den Freisinn und die Nähe zu Elisabeth Kopp die Sprache verschlagen.
In der Folge kam es, wie es kommen musste: Die Bundesrätin gab am folgenden Montag ihren Rücktritt auf Ende Februar 1989 bekannt. Sie betonte dabei, dass sie »weder rechtlich noch moralisch irgendeine Schuld« treffe. Die Öffentlichkeit war empört über den Fall des beliebtesten Mitglieds der Landesregierung. Ihr Zorn richtete sich auch gegen die Medien, die mit Leserbriefen überflutet wurden. Der NZZ warf man vor, sich mit der FDP solidarisiert und zusammen mit dem »Tages-Anzeiger« Kopps Rücktritt forciert zu haben. Ein klarer Fall von »mitgegangen, mitgehangen«! Am Tag nach der Rücktrittsankündigung meldete sich der NZZ-Chefredaktor zu Wort. Bütler hatte sich zuvor nicht gegenüber dem Freisinn exponieren und schon gar nicht dessen erste Bundesrätin angreifen wollen, welche Jahre danach vom Bundesgericht in allen Anklagepunkten freigesprochen wurde.
Dennoch: Die »Affäre Kopp« schlug eine Furche zwischen Zeitung und Partei; auch wenn einige Inlandredaktoren, vor allem die für die Parteipolitik zuständigen, noch dermassen stark mit der FDP verbandelt waren, dass sie die Tragweite der Ereignisse nicht wahrhaben wollten. Zu lange waren »Inland« und Freisinn eine Art Schicksalsgemeinschaft. Etliche Redaktoren hatten politische Ämter für die FDP inne. Chefredaktor Willy Bretscher sass von 1951 bis 1967 für den Zürcher Freisinn im Nationalrat. Das war im Zeitalter der »Parteizeitungen« nichts Ungewöhnliches. Damals war das »Vaterland« die Stimme der CVP, das »Volksrecht« das Meinungsblatt der SP und die NZZ, wenn auch nie ein Parteiblatt, so doch der FDP sehr nahestehend. Einmal waren gleich vier NZZ-Redaktoren mit einem FDP-Ticket in den Zürcher Kantonsrat gewählt worden: die drei »Inländer« Walter Diggelmann, Richard Reich und Kurt Müller, sowie Martin Schlappner, der für Film und Tourismus Verantwortliche. Das aber war Chefredaktor Luchsinger zu viel des Guten, und so musste Schlappner wieder von seinem politischen Amt zurücktreten. Lokalredaktor Rudolf Bolli, der Jahre später in den Kantonsrat gewählt wurde, war einmal Mitglied der »Propaganda«-Abteilung der FDP, ein heute undenkbarer Zustand. Sein Kollege Andreas Honegger sass sogar als FDP-Mann im Zürcher Kantonsrat und berichtete gleichzeitig für die NZZ über dieses Gremium. NZZ-Inlandkorrespondent Jörg Kiefer betätigte sich in Solothurn regelmässig als FDP-Wahlkampfleiter. Wegen solcher Interessenskongruenz wurde die NZZ gerne als »Alpen-Prawda« oder als helvetischer »Osservatore Romano«, als schweizerisches Äquivalent zum Sprachrohr des Vatikans abgetan. Bis der Chefredaktor eines Tages entschied, NZZ-Journalisten dürften keine neuen politischen Ämter auf Kantons- oder Bundesebene mehr annehmen und nur noch ihre Mandate zu Ende führen.
In der Inlandredaktion standen sich in den 1990er Jahren zwei Lager gegenüber. Das kleinere sah die FDP als Verbündete, bei der die liberale Haltung der Zeitung am besten aufgehoben sei. Das grössere plädierte dagegen für eine moderne, von der Partei unabhängige Redaktion. Bütler stellte sich hinter die zweite Gruppe, die längst nicht alles gut fand, was mit dem Etikett »Freisinn« versehen war. Inlandredaktor Walter Schiesser kümmerte sich schon früh um Umweltanliegen aus liberaler Sicht. Weil diese Anliegen aber in der FDP eher stiefmütterlich behandelt wurden, bildete sich später eine neue politische Kraft, die Grünliberalen, welche die Umwelt ins Zentrum ihrer Politik stellen.
Wirkliche Aufbruchstimmung kam nach dem Rücktritt von Inland-Chef Kurt Müller im Jahre 1990 auf. Und besonders unter Matthias Saxer, der 1994 als erster Parteiloser zum Leiter dieses Ressorts ernannt wurde. Weil der ideologische Fächer in den Jahren nach dem Ende des Kalten Krieges auch bei der NZZ weiter als zuvor geöffnet war, konnte sich Saxer einen Namen als vorurteilsloser Journalist machen. Unter seiner Führung distanzierte sich die Inlandredaktion weiter von der Partei, so dass alt FDP-Bundesrat Rudolf Friedrich und Ex-Inlandchef Kurt Müller eines schönen Tages in der NZZ auftauchten, um diese Entfremdung zu beklagen. Beim 225. Geburtstag der NZZ stellte VR-Präsident Meyer im Januar 2005 fest:
Die NZZ ist älter als die Freisinnige Partei im Kanton Zürich oder die FDP auf eidgenössischer Ebene. Seit ihrer Gründung ist die NZZ eigenen Werten verpflichtet. (…) Natürlich vertreten wir zum Teil die gleichen wie die Freisinnig Demokratische Partei. Aber: Die NZZ ist ein Meinungsblatt und kein Parteiblatt. (…) Die NZZ fühlt sich nicht der FDP verpflichtet, sondern ist ein Blatt mit qualitativ und politisch hohem Anspruch, das sich an der liberalen Denkweise orientiert.16
Eng war die Verbindung mit dem Freisinn im Aktionariat: Bis Mitte der 1990er Jahre konnte nur Aktionär werden, wer Mitglied der FDP war. So verlangten es die Vinkulierungsbestimmungen. Als Folge davon sassen ausnahmslos Freisinnige im NZZ-Verwaltungsrat, vornehm »Komitee« genannt. Wie sehr man damals die Vinkulierung respektierte, das Wort stammt ab vom Lateinischen »vinculum« und bedeutet Fessel, musste Lokalredaktor Wilfried Spinner erfahren. Er hatte von einem Verwandten eine NZZ-Aktie geerbt, wurde aber nie als stimmberechtigter Teilhaber ins Aktienregister aufgenommen, weil er nicht FDP-Mitglied war. Dies, obgleich Spinner seine ganze berufliche Laufbahn (1958–1991) bei der NZZ verbrachte. Heutzutage wäre er anerkannter Aktionär. Seit 1996 reicht ein Bekenntnis zu einer freisinnig-demokratischen Grundhaltung. Eine Zugehörigkeit zur FDP ist nicht mehr erforderlich, eine Mitgliedschaft bei einer anderen Partei allerdings auch nicht gestattet. Die Dinge sind also in Bewegung geraten. Trotzdem benötigte die »Befreiung« vom Freisinn Zeit. Schliesslich stand von 1988 bis 1999 Ulrich Bremi, seines Zeichens FDP-Nationalrat, FDP-Fraktionspräsident und Präsident des Zürcher Freisinns, an der Spitze des NZZ-Verwaltungsrates. Der erfolgreiche Unternehmer war die personifizierte Symbiose von Zeitung und Partei. Mit ihm auf der Kommandobrücke war es für das Blatt schwierig, sich aus dem Fahrwasser der FDP herauszumanövrieren; obschon Bremi die statutarisch verbriefte Unabhängigkeit der Redaktion voll respektierte. 1988 brachte er mit dem Luzerner Unternehmer und späteren FDP-Bundesrat Kaspar Villiger ein weiteres politisches Schwergewicht als ersten Nicht-Zürcher Freisinnigen in den NZZ-Verwaltungsrat.
Letztlich waren es aber der Untergang der Swissair sowie der darauffolgende Prozess, die zu einem Umdenken an der Falkenstrasse führten. Der mit dem Ende der Airline einsetzende Macht- und Ansehensverlust der FDP war nicht mehr rückgängig zu machen. 2007 standen 19 prominente Angeklagte vor Gericht, darunter auch die Zürcher FDP-Ständerätin und NZZ-Verwaltungsrätin Vreni Spoerry, die seit 1988 auch im obersten Gremium der Swissair einsass. Die grosse Mehrheit der Angeklagten waren Manager und Verwaltungsräte ohne Parteibuch. Trotzdem lastete die öffentliche Meinung – angeheizt von Christoph Blocher – das Ende der Swissair dem Zürcher Wirtschaftsfreisinn an, der in der Folge innerparteilich viel von seiner einst dominanten Stellung verlor. Die Freisinnige Partei der Schweiz wurde ebenfalls an der Urne abgestraft, so dass der »Alten Tante« die Umarmung durch die FDP immer lästiger wurde. Die Partei sei längst nicht mehr der liberale Stosstrupp, der sie in der Vergangenheit einmal gewesen war. Sie habe viel von ihrer Skepsis gegenüber dem Staat verloren, und auch ihre einstige Zentralismusfeindlichkeit sei ihr abhanden gekommen. Wie die meisten Parteien verwässere sie ihr Programm, um für möglichst viele Bürger wählbar zu sein. Damit liessen sich zwar Wahlen gewinnen, doch freier und wettbewerbsfähiger werde die Schweiz dadurch nicht, beanstandete NZZ-Wirtschaftschef Gerhard Schwarz.
Dagegen konterte FDP Präsident Franz Steinegger: Das Elend seiner Partei habe ab den 1980er Jahren mit dem Wahlslogan »Weniger Staat – mehr Freiheit« begonnen. Ein Motto, welches aus einem NZZ-Leitartikel hätte stammen können. Zwar gewann die FDP 1983 im Nationalrat nochmals drei Sitze, doch danach ging es bergab. Liegt die Schuld für den Absturz tatsächlich in diesem programmatischen Gegensatzpaar? Ist das liberale, wenn nicht libertäre Programm unpopulär geworden? Haben die Freisinnigen damit zu ihrem eigenen Schaden der SVP den Boden bereitet? Fragen über Fragen, die NZZ-Inlandredaktor Christoph Wehrli einmal rückblickend stellte, ohne eine Antwort zu liefern. Denn: Es ist das Eine, im geschützten Redaktionsraum das Hohelied auf den Liberalismus anzustimmen. Und das Andere, sich als Partei mit liberaler Ausrichtung an der Urne zu behaupten und attraktiv zu bleiben für eine sich verändernde Gesellschaft wie die der Schweiz: zunehmend pluralistisch und multikulturell. In den Augen der Kritiker war die FDP zu lange vom eigenen Erfolg geblendet, abgehoben und auf die »alte Schweiz« fixiert. Sie habe die Zeichen an der Wand nicht gesehen, orientierungslos gewirkt und sehr lange gebraucht, um in der »neuen Schweiz« anzukommen. Bei den Nationalratswahlen von 1991 zog die SVP erstmals rechts an der FDP vorbei und hängte diese in den Jahren danach weiter ab. Der klassische Freisinn sei dem Tode geweiht, heisst es im Buch »Der Fall FDP« aus dem Jahr 2015:
Die grosse Zeit der FDP ist für immer vorbei. Nie mehr wird die Partei eine solche Macht in diesem Land haben wie zu ihrer Blütezeit. Nie mehr wird sie den Diskurs so prägen wie damals. Die FDP als staatstragende Partei gibt es nicht mehr.17
Kehren wir für einen Moment zurück ins »Damals«, in die Anfangsjahre von Elisabeth Kopps politischer Karriere. Unter ihrer Führung war in Zumikon ein neues Gemeindehaus gebaut worden, das 1.5 Meter höher war als erlaubt. Weil dieser Umstand an der Gemeindeversammlung zur Sprache gekommen war, griff der NZZ-Berichterstatter die Verfehlung im Blatt auf. Kaum hatte Kopp den Artikel gelesen, kontaktierte sie den Chefredaktor und meinte, die Zeitung habe sich eine schwere Entgleisung zu Schulden kommen lassen. Es sei doch nicht ihre Aufgabe, der eigenen Partei in den Rücken zu fallen. Doch Luchsinger liess sich nicht beirren und wollte wissen, ob die Story wahr sei. Als ihm Kopp versicherte, dass dem so war, antwortete er sinngemäss: Dann ist doch alles in Ordnung, warum regen Sie sich auf? Luchsinger deckte seine Leute, solange deren Geschichten zutrafen und keine rechtlichen Angriffsflächen boten. Er mag mitunter schroff, ja cholerisch gewesen sein, doch seine Mitarbeiter konnten sich (fast immer) auf ihn verlassen.