»UND DANN SCHREIT SIE ORTSTARIF!«
wurde grosszügig unterstützt durch
Tourette Gesellschaft Schweiz
Tourette-Gesellschaft Deutschland
Zahlreiche Sponsorinnen und Sponsoren
auf der Crowdfunding-Plattform Wemakeit
Ein Leben mit Tourette-Syndrom
Mit 8 Abbildungen
Orell Füssli Verlag, www.ofv.ch
© 2020 Orell Füssli Sicherheitsdruck AG, Zürich
Alle Rechte vorbehalten
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Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
ISBN 978-3-280-05720-9
eISBN 978-3-280-09094-7
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.
Vorwort von Wolfram Kawohl
Einleitung
1Anne-Lise Meier
Das Tourette-Syndrom als Fulltime-Job
Strategien
2Jannik Sämann
Ich lebe nicht mit meiner Krankheit, sondern meine Krankheit lebt mit mir
Tipps für Lehrpersonen
3Hermann Krämer
Lebens- und Südostasienreise eines Touretters
Selbsthilfe
4Isabelle Imdorf
Ich will das Leben geniessen
Zwangshandlungen und »zwangähnliche« Tics
5Michael Pöllen
Vorher – Nachher
Tiefe Hirnstimulation
6Simon Piringer
Die Krankheit hat mich gelehrt, zu mir zu stehen
Tourette-Syndrom – eine Behinderung?
7Jerome Mock
Colin hat mir meinen Tic geklaut
Klassifikation des Tourette-Syndroms als seelisches Leiden oder als hirnorganische Störung?
8Corinna Schmitz und Julien Schulz
Eine ganz normale Familie!?
Ursachen des Tourette-Syndroms
Glossar
Anhang
Porträts im Überblick
Bibliografie
Als der französische Arzt Jean-Marc Gaspard Itard 1825 eine Patientin beschrieb, die unter der Erkrankung litt, die wir heute Tourette-Syndrom nennen, hätte er wohl nicht gedacht, dass es dereinst solch ein ausgeprägtes und verbreitetes Interesse an diesem Thema geben würde. Gleiches dürfte für Georges Gilles de la Tourette gelten, der ab 1884 mehrere Fallbeschreibungen veröffentlichte und nach dem die Krankheit dann schliesslich benannt wurde. Mittlerweile existieren zahlreiche Erwähnungen in Filmen, in Radio- und Fernsehbeiträgen, in der Literatur und im Internet, viele davon jedoch oberflächlich und wenig korrekt, manche aber auch durchaus seriös und informativ.
Die Stärke von Johanna Krapfs Buch ist nicht etwa die Objektivität, wie sie von wissenschaftlichen Texten zu fordern wäre, sondern gerade die Subjektivität der darin enthaltenen Schilderungen. Hier kommen neben Berichten aus der Feder Johanna Krapfs auch Betroffene selbst zu Wort, teilweise im Interview, teilweise in der unmittelbaren Perspektive der ersten Person. Die Berichte über die Betroffenen sind dabei stets von Respekt und Einfühlungsvermögen geprägt. Das Erleben und die Erfahrungen dieser Betroffenen und ihre Sicht auf die Dinge prägen das Buch und eben nicht – im Gegensatz zu vielen anderen Werken – die Meinung von Behandlern, Journalisten oder Wissenschaftlern. Dies führt in manchen Fällen dazu, dass Zusammenhänge anders interpretiert oder Wirkung bzw. Nebenwirkung von Medikamenten sowie weiteren Behandlungsmethoden anders eingeschätzt werden, als es dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand entspricht. Dadurch wird aber wiederum auch veranschaulicht, wo Befürchtungen in Bezug auf durchaus verträgliche Behandlungsverfahren liegen, bzgl. derer sicherlich noch mehr Aufklärung erforderlich ist.
Die erfolgreiche Behandlung eines Tourette-Syndroms erfordert die enge Zusammenarbeit zwischen Betroffenem und Arzt, idealerweise unter Einbezug der Angehörigen. Oft bringen bereits die Kommunikation der korrekten Diagnose und die umfassende Aufklärung über Ursachen, Prognose und Behandlungsmöglichkeiten eine deutliche Erleichterung für die Betroffenen und ihr Umfeld. Nicht selten kommt es dabei vor, dass Patienten sich entscheiden, zunächst einmal auf eine Behandlung zu verzichten. Wenn andererseits, besonders bei ausgeprägter Symptomatik und gravierenden sozialen Folgen, eine Behandlung gewünscht wird, kommt der umfassenden Information über die verschiedenen Behandlungsverfahren eine zentrale Rolle zu. Oft existieren, nicht zuletzt durch Internetrecherchen, unkritische Haltungen gegenüber nicht wirksamen oder auch nicht ungefährlichen Methoden und umgekehrt Befürchtungen gegenüber etablierten und sicheren Verfahren.
Trotz all der mittlerweile existierenden, mehr oder weniger seriösen Informationen erscheint es manchmal unglaublich, wie lange es dauert, bis eine korrekte Diagnose gestellt wird. In meiner Sprechstunde erlebe ich immer wieder Patienten, bei denen erst im Erwachsenenalter erkannt wurde, dass ein Tourette-Syndrom vorliegt. Dies ist besonders gravierend angesichts der Tatsache, dass die Beschwerden in aller Regel bereits im Kindesalter auftreten und für die Betroffenen und ihr Umfeld je nach Ausprägung eine grosse Belastung bedeuten können. Oft werden die Tics dann als schlechtes Benehmen oder Zappeligkeit verkannt. Dies führt zu langen Leidensgeschichten mit Streitigkeiten, Schulwechseln, unwirksamen Behandlungsversuchen sowie Frustration und schlechtem Gewissen bei den Betroffenen.
Das vorliegende Buch trägt einerseits dazu bei, dass mehr Menschen vom Tourette-Syndrom erfahren. Andererseits ermöglicht es denjenigen, die mit einer von einem Tourette-Syndrom betroffenen Person beruflich oder privat zu tun haben, ganz unmittelbare Schilderungen des Erlebens und der persönlichen Einstellungen Betroffener zu ihrer Krankheit zu erhalten. Ich bin dankbar für das Engagement aller Mitwirkenden und wünsche diesem wertvollen Werk eine grosse Verbreitung.
Wolfram Kawohl, August 2019
Professor Dr. med. Wolfram Kawohl (geboren 1971) ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Er ist Chefarzt und Leiter der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Psychiatrischen Dienste Aargau AG (PDAG) und beschäftigt sich klinisch und wissenschaftlich mit dem Tourette-Syndrom.
An den Anfang von »Und dann schreit sie Ortstarif!« möchte ich meinen Dank stellen:
Ich bin dankbar dafür, dass ich den neun in diesem Buch vorgestellten Menschen und einigen ihrer Angehörigen begegnen durfte. Ich habe sehr viel von ihnen gelernt, und jedes der Gespräche hat mich zutiefst berührt und bereichert.
Ich bin dankbar für das Vertrauen, das ich als Aussenstehende habe erfahren dürfen. Es war alles andere als selbstverständlich, dass mir nahezu unbekannte Menschen – einige sah ich beim Interview zum ersten Mal – Einblick in schwierige, peinliche, verletzende Situationen sowie in ihre Ängste und Nöte gewährt haben.
Und ich bin dankbar, dass man mir zugetraut hat, die persönliche Befindlichkeit von Tourette-Betroffenen in Worte fassen zu können, denn im Grunde genommen war es doch eine Anmassung. Wer nicht selbst an der Krankheit leidet, abgesehen natürlich von nahen Angehörigen, kann nicht wirklich nachvollziehen, wie es sich anfühlt, mit einem »Tic-Kobold« – so nennt Corinna Schmitz ihre Tics – zusammenleben zu müssen. Trotzdem ist mir von Anfang an grosses Wohlwollen entgegengebracht worden.
Zu guter Letzt bin ich auch dankbar für mein eigenes Schicksal. Ich fragte mich jedes Mal, wenn ich wieder in die Lebensgeschichte einer Person mit Tourette eintauchte: Warum ausgerechnet ich nicht? Warum bin ich gesund, und sie muss diese heimtückische, anstrengende und oft stigmatisierende Krankheit ertragen? Das Leben ist nicht fair.
Wenn wenigstens die Gesellschaft fair wäre. Dies ist wohl der grösste Wunsch der meisten im Buch porträtierten Menschen: Die Gesellschaft möge ihnen gegenüber unvoreingenommen sein und sie so akzeptieren, wie sie sind. Es kann doch nicht sein, dass sie wegen ihrer unwillkürlichen Tics, an denen sie wahrlich schon genug leiden, auch noch diskriminiert werden, dass sie als »Geisteskranke« oder »Spinner« abgestempelt oder als Menschen mit geistiger Behinderung angesehen werden! »Und dann schreit sie Ortstarif!« möge dazu beitragen, dass sich das Wissen um das Tourette-Syndrom als neuropsychiatrische Erkrankung durchsetzt.
Die Idee, ein Buch zum Thema Tourette-Syndrom zu schaffen, brütete meine Freundin und Akkordeonlehrerin Anne-Lise Meier, deren Lebensgeschichte den Reigen der Porträts eröffnet, zusammen mit mir aus. Sie erzählte mir manchmal – vor oder nach der Musikstunde – von der Krankheit, an der sie seit dem Ende ihres fünften Lebensjahres leidet, einer Krankheit, die sich aber während des Musizierens überhaupt nicht bemerkbar machte. Rückblickend bin ich erschüttert, denn heute weiss ich, wie viel Kraft sie aufgebracht haben muss, um ihre Tics so vollständig unterdrücken, vertuschen, umleiten und aufschieben zu können. Über die Jahre nahm dann unsere Idee immer konkretere Gestalt an: Es sollte nicht ihre Biografie werden, sondern ihr Porträt würde eines von mehreren sein, damit sich die individuellen Geschichten der Tourette-Betroffenen wie Mosaiksteine in ein Gesamtbild der Krankheit einfügen konnten.
Doch wie würde ich Menschen finden, die sich für ein Gespräch mit mir und für die Veröffentlichung ihrer Geschichte zur Verfügung stellen?
Es war einmal mehr Anne-Lise Meier, die mich dabei unterstützte. Sie ermöglichte es mir, mein Projekt in einer fünfminütigen Präsentation den Teilnehmenden eines deutschen Tourette-Camps vorzustellen. Und kaum hatte ich diese beendet, bildete sich schon eine Schlange vor meinem Tisch, sodass ich mehr Anwärter und Anwärterinnen hatte, als mir lieb war, denn ich wollte im Buch ja auch einige Personen aus der Schweiz zu Worte kommen lassen.
Deshalb musste ich schweren Herzens eine Auswahl treffen. Ich hielt mich dabei an vier Kriterien: Es sollten erstens verschiedene Altersgruppen, zweitens beide Geschlechter, drittens von der Krankheit unterschiedlich stark betroffene und viertens an möglichst unterschiedlichen Tics leidende Menschen sein.
Auch war mir wichtig, dass in den Porträts einige der Faktoren vorkommen, die bei der Entwicklung eines Tourette-Syndroms beteiligt sein bzw. dieses beeinflussen können. Und da männliche Personen drei- bis viermal häufiger vom Tourette-Syndrom betroffen sind als weibliche – aus ungeklärter Ursache –, habe ich das Verhältnis 6:3 gewählt. Drei leben in der Schweiz, sechs in Deutschland.
Ein kurzer Kommentar zur Auswahl der neun Porträtierten:
Simon Piringer hat eine schwach ausgeprägte Form der Krankheit, während Corinna Schmitz, Hermann Krämer und Anne-Lise Meier an einem hohen Tic-Level leiden. Bei den beiden Jugendlichen Jerome Mock und Jannik Sämann, die ebenfalls von heftigen Symptomen betroffen sind, ist der weitere Verlauf noch offen, da die Tics häufig nach der Pubertät zurückgehen oder sich sogar »auswachsen« können. Isabelle Imdorf, Michael Pöllen und Julien Schulz liegen irgendwo dazwischen.
Hinsichtlich der ursächlichen Faktoren seien die genetische Veranlagung (im Fall von Anne-Lise Meier, Corinna Schmitz und Julien Schulz), die Frühgeburt (ebenfalls Julien Schulz), eine psychosoziale Belastungssituation in der Kindheit (Isabelle Imdorf, Anne-Lise Meier und Corinna Schmitz), eine Infektion (Anne-Lise Meier) und eine medikamentöse Behandlung respektive Chemotherapie (Michael Pöllen) genannt.
Michael Pöllen ist zudem der erste deutsche Tourette-Patient mit einem Hirnschrittmacher. Auch das letzte Porträt hat seine Besonderheit: Es stellt gleich zwei Personen, Corinna Schmitz und Julien Schulz, vor. Bei ihnen handelt es sich um Mutter und Sohn.
Zusätzlich zu den Porträts bietet »Und dann schreit sie Ortstarif!« in den – hellgrau unterlegten – Sachtexten (je einer pro Porträt), im Glossar1 und in Wolfram Kawohls Vorwort ein breites Spektrum an Sachinformationen zum Thema Tourette-Syndrom.
Ich möchte meiner Hoffnung Ausdruck geben, dass viele Menschen sich durch die Schicksale der in »Und dann schreit sie Ortstarif!« porträtierten Tourette-Betroffenen berühren lassen und dass sie in Zukunft, wenn sie im Zug oder Tram, auf der Strasse oder in einem Einkaufsladen, im Kino oder in der Kirche einem Menschen mit Tics begegnen, dessen Verhalten einordnen können.
Dazu mein ganz persönliches Schlüsselerlebnis, dem ich allerdings noch eine Bemerkung vorausschicken muss: Ich weiss natürlich, dass ich mich, indem ich es preisgebe, der Kritik aussetze, auch ich hätte Vorurteile gegenüber Menschen mit Tourette. Aber genau dieses Thema – Vorurteile – möchte ich mit meiner Geschichte beleuchten: Sie sitzen tief in uns allen drin, so eben auch in mir, und sie sind uns oft überhaupt nicht bewusst. Um sie auszurotten, müssen wir jedem Menschen offen begegnen, müssen uns informieren, und wir müssen vor allem ehrlich zu uns selbst sein.
Im Herbst 2018, als ich noch ganz am Anfang der Arbeit an »Und dann schreit sie Ortstarif!« stand, stiegen mein Mann und ich in einem Dorf auf dem Land aus dem Bus aus. Mein Mann begab sich zum Wanderwegweiser, während ich zum WC-Häuschen eilte. Auf dem Weg dorthin kreuzte ich eine mir unbekannte Frau. Ich warf einen kurzen Blick in ihr Gesicht und erschrak über den verhärmten Ausdruck darin. Als ich zu meinem Mann zurückkehrte, sagte er: »Siehst du diese Frau dort? Beim Vorübergehen hat sie geflucht, als ob ich ihr etwas angetan hätte.« Er meinte die verbitterte Frau von vorhin. Da durchzuckte mich unwillkürlich der Gedanke: die arme Spinnerin. In diesem Moment machte sie rechtsumkehrt und rannte über die Strasse. Auf der gegenüberliegenden Seite blieb sie kurz stehen, von uns abgewandt, bevor sie die Strasse abermals überquerte und rasch in den soeben eingefahrenen Bus einstieg.
Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Was, wenn die Frau an einem Fluch-Tic litte und diesen vor dem Betreten des Busses nochmals hatte entladen wollen? Was, wenn sie Tourette-Patientin wäre? Was, wenn ich, indem mir automatisch das Wort »Spinnerin« durch den Kopf ging, einen Menschen mit Tics verkannt hatte, wenn auch nur für einen flüchtigen Augenblick? Dieses Erlebnis hat mich seither immer begleitet.
Worte des Dankes stehen am Anfang der Einleitung, und mit Worten des Dankes möchte ich sie abschliessen:
Mein besonderer Dank gilt Isabelle Imdorf, Hermann Krämer, Jerome Mock, Simon Piringer, Micha Pöllen, Jannik Sämann, Corinna Schmitz, Julien Schulz. Und insbesondere Anne-Lise Meier, die mir nicht nur ihre Lebensgeschichte anvertraut, sondern mich während der gesamten Arbeit am Projekt mit Rat und Tat unterstützt hat.
Ebenso Olaf Blumberg für sein kritisches Mitdenken und meinem Mann Bernhard Krapf für das Gegenlesen der Texte sowie für seine – nicht ganz widerwillige – Begleitung auf meinen Reisen nach Deutschland.
Sehr froh war ich über Wolfram Kawohls Beistand. Er hat alle meine Fragen beantwortet, hat die Sachtexte studiert und kommentiert und ein informatives Vorwort verfasst.
Eine Liste der Sponsorinnen und Sponsoren findet sich auf Seite 2. Sie haben an das Projekt geglaubt und es mit ihren finanziellen Beiträgen tatkräftig unterstützt. Vielen Dank auch ihnen. Und das letzte Dankeschön richtet sich an den Orell Füssli Verlag, der eine Herausgabe erst möglich machte.
Johanna Krapf, Oktober 2019
1Die Fachbegriffe im Glossar sind alphabetisch angeordnet. In den Porträts wird mit den Zahlen in Klammern darauf verwiesen, z.B. (1).
Anne-Lise Meier lebt zusammen mit ihren fünf Katzen, dem 14-jährigen Merlin, der Findelkatze Jonny, mit Shiva, die aus dem Tierheim zu ihr gekommen ist, und Schmusekater Marley sowie Yam-Yam, dem jüngsten Mitglied der Katzenfamilie, am Rand einer friedlichen Einfamilienhaussiedlung in Wolfhausen im Zürcher Oberland. Das Dorf liegt etwas abseits des Durchgangsverkehrs, gebettet in eine sanfte Hügellandschaft. Dort ist seit fünfzehn Jahren Anne-Lises Lebensmittelpunkt, dort fühlt sie sich wohl und geborgen.
Ihr helles, geräumiges Haus teilt sie nicht nur mit ihren geliebten Katzen und zahlreichen grossen Kakteen der Gattung Wolfsmilch, sondern auch mit ihren Tics (41). Hier – und nur hier – kann sie ihnen jederzeit freien Lauf lassen, kann tun und lassen, was sie will, ohne beobachtet und am Massstab der Normalität gemessen zu werden und ohne sich selbst kontrollieren zu müssen. Dieser geschützte Raum ist aber auch wichtig, da sie, zusätzlich zum Tourette, am Asperger-Syndrom (3) leidet.
Haus und Garten sind Anne-Lises Refugium, das ihr Vater mit einem Erbvorbezug möglich gemacht hat. Dafür ist sie ihm dankbar. Fast immer ist sie hier anzutreffen, denn vor zweieinhalb Jahren wurde sie durch ihre Krankheit gezwungen, die Stelle als Akkordeon- und Schwyzerörgelilehrerin – das Schwyzerörgeli ist eine Schweizer Variante des Akkordeons – an der Musikschule Rapperswil-Jona, wo sie zwei Jahrzehnte lang gewirkt hatte, aufzugeben. Das Ende ihrer Unterrichtstätigkeit kam als Erlösung, da sie für die Unterdrückung respektive das Aufschieben ihrer Tics immer mehr Kraft hatte aufbringen müssen. Zwar hatte sie schlecht und recht damit leben gelernt, denn sie war bei den Schülerinnen und Schülern, die sie mit grossem Einfühlungsvermögen und tiefer Freude an der Musik unterrichtete, sehr beliebt. Doch an die Auftritte anlässlich der Schülerkonzerte hatte sie sich nie gewöhnt, hatte sich von jeher davor gefürchtet, vor die Leute treten und diese begrüssen zu müssen, und hatte deswegen heftige Bauchkrämpfe über sich ergehen lassen. Nur schon die Vorstellung, dass ihr in der Öffentlichkeit ein Fluch, zum Beispiel »fick di« (23), oder ein Ausruf wie etwa »huhu« oder »du-du-du« herausrutschen könnte, hatte ihr Höllenqualen bereitet. Und bis sie nach diesen Anlässen endlich den sicheren Hafen ihres Hauses erreichte, war der Druck jeweils kaum mehr auszuhalten. Oft hatte ihr nichts geholfen, ihn abzubauen, ausser sich flach auf das Bett oder den Boden zu werfen, zu schreien, mit dem ganzen Körper zu rotieren und wild mit den Armen und Beinen zu zappeln wie ein Käfer auf dem Rücken, bis sie nach zwei bis drei Stunden erschöpft war, zur Ruhe kam und einschlief. In den letzten Jahren stressten sie nun aber zunehmend auch die eigenen Konzerte, die Begegnungen mit anderen Lehrkräften sowie mit Eltern und, ja, selbst die Unterrichtsstunden. Trotzdem, der Gedanke, die sichere Stelle aufzugeben und in Zukunft von der Invalidenversicherung abhängig zu sein, flösste ihr lange Zeit grosse Furcht ein, die sie davon abhielt, eine Rente zu beantragen.
So lange, bis es einfach nicht mehr anders ging, bis sie keine Kraft mehr hatte, ihre Tics Tag für Tag sozusagen wörtlich herunterzuschlucken, nur um sie am Abend doppelt und dreifach ausleben zu müssen. Bis sie sie nicht mehr mit immer höher dosierten Medikamenten in Schach zu halten vermochte. Bis sie die Angst nicht mehr ertrug, die Tics könnten sich plötzlich einen Weg aus ihrem Inneren bahnen. Anne-Lise liess sich schweren Herzens krankschreiben und lebte eineinhalb Jahre vom Krankentaggeld der Musikschule, bevor ihr eine volle Invalidenrente zugesprochen wurde. Welch eine Erleichterung! Endlich musste sie kein Doppelleben mehr führen. Langweilig wurde und wird es ihr trotzdem nie. Ihr Alltag ist ausgefüllt mit Tics, denn, wie sie selbst sagt, das Tourette ist – in dieser extremen Ausprägung – ein Fulltime-Job. Einzig ein Schwyzerörgeli, das immer griffbereit in der Stube steht, erinnert noch an ihre Musikkarriere. Es ist das Instrument, dem eigentlich seit ihrer Jugend ihre grosse Liebe gegolten hat. Darauf spielt sie denn auch weiterhin zu ihrem eigenen Vergnügen altbekannte und neue Melodien.
Nicht nur ihre Freude am Schwyzerörgeli, sondern auch ihr kunsthandwerkliches Geschick, ihre Liebe zum Material Glas und vor allem ihre Kreativität spannen einen Bogen über ihr ganzes Leben. Anne-Lise kann die Welt vergessen, wenn sie sich einer ihrer zahlreichen künstlerischen Tätigkeiten hingibt: dem Bemalen von Steinen, dem Schaffen von Glasperlen – dem Perlenwickeln und -drehen –, dem Brennen von Konservendosen zu Windlichtern sowie Laternen und Tiffany, einer speziellen Technik der Glasverarbeitung.
Das Kunsthandwerk bzw. das Basteln, wie es genannt wird, wenn Kinder sich damit beschäftigen, und das Musizieren gehören zu den wenigen positiven Erfahrungen, die Anne-Lise in ihrer Kindheit machen durfte. Ansonsten war diese von Ängsten, Zwängen, Verletzungen und Ausgrenzungen bestimmt.
Nie gab ihr ihre Familie den nötigen Schutz, die Liebe und Unterstützung, die sie – wie jedes Kind – gebraucht hätte.
Anne-Lises heutige Familie sind ihre fünf Katzen: Merlin, Jonny, Shiva, Marley und Yam-Yam.
Anne-Lise Meier über den Kater Merlin, geboren im Herbst 2004:
Mit 1 ½ Jahren wurde Merlin ins Tierheim gebracht, worauf ein Herr T. ihn aufnahm. Herr T. verstarb unerwartet im Februar 2010.
Glücklicherweise wurde ich gefragt, ob ich Merlin ein Zuhause geben könne! Er ist solch ein toller Kater!
Anne-Lise kam im Juli 1968 als jüngstes von vier Kindern zur Welt. Nun hatten ihre Eltern – der Vater war Sekundarlehrer, die Mutter Gitarrenlehrerin – zwei Pärchen: den fünf Jahre älteren Bruder Peter und die ein Jahr nach ihm geborene Schwester Silvia, den nur gerade elf Monate vor Anne-Lise zur Welt gekommenen Bernhard respektive Berni und sie. Eigentlich hätten acht weitere Kinder folgen sollen, denn zwölf war die Wunschzahl der Mutter. Aber da das vierte Kind, Anne-Lise eben, seine Eltern übermässig beanspruchte, wie sie oft genug betonten, kamen sie davon ab. Das Wissen um diese »Schuld« und um ihre Andersartigkeit hat Anne-Lises ganze Kindheit überschattet. Sie sei sehr schwierig, sie sei nicht wie ihre Geschwister, musste sie sich immer und immer wieder anhören. So sagte die Mutter einmal zu ihr: »Vater macht sich allmählich Sorgen, du seist nicht normal!« Anne-Lise selbst kann sich vor allem an ihre übermächtige Schüchternheit erinnern und empfand sich deshalb schon als Dreijährige als »anders«. Das kleine Mädchen versteckte sich oft hinter der Tür, wollte nicht mit den Kindern im Quartier herumtollen, wehrte sich gegen die musikalische Früherziehung, hing an Mutters Rockzipfel. Das »Schäfchenspiel« aber, das liebte es über alles. Dabei schlüpfte die Mutter in die Rolle eines Mutterschafes, das unter starken Presswehen ihr Junges – Anne-Lise – zur Welt brachte und inniglich säugte. Sehnte sich das Mädchen vielleicht danach, nochmals geboren zu werden, diesmal jedoch als normales Kind? Wünschte es sich einen besseren Start ins Leben? Und wie kam die Mutter dazu, sich dieses Spiel auszudenken?
Den Vater hingegen liess Anne-Lise nicht an sich heran. Auch das wurde ihr bis ins Erwachsenenalter unzählige Male vorgeworfen: Sie habe immer geweint, wenn er sie in die Arme genommen habe, ja, sie habe ihn überhaupt nicht gern gehabt.
Die Sprachentwicklung des Mädchens verlief ebenfalls nicht so, wie es sich die Eltern – beide Pädagogen – vorgestellt und gewünscht haben mochten, aber nicht etwa wegen seiner Lippenspalte. Diese war schon vor der Geburt verheilt und hatte nur eine kaum sichtbare Narbe hinterlassen, auf die Anne-Lise sogar stolz war. »Ich habe eine Narbe, die älter ist, als ich es bin«, sagte sie gern. Nein, ihre auffällige Redeweise hatte damit nichts zu tun, sondern war vielmehr von der Sprache der Eltern geprägt. Anne-Lise übernahm nämlich sowohl Wörter vom Vater, der Schweizerdeutsch sprach, als auch von der Mutter, die sich in Französisch ausdrückte, und mischte beide Sprachen munter durcheinander. Das tönte dann etwa so: »Maman, gisch mir le Pain?« (Mutter, gibst du mir das Brot?) Darüber konnte sich nun die ganze Familie, allen voran der Vater, krummlachen. Anne-Lise aber war völlig irritiert. Was war denn auf einmal so lustig? Sie protestierte, sie weinte, es kam zum Streit und sogar zu Handgreiflichkeiten, doch niemand nahm wahr, wie hilflos sie sich fühlte. Immer wieder wurde sie ausgelacht, bis sie schliesslich im Alter von drei Jahren einfach aufhörte zu reden. Ein Jahr, zwei Jahre, drei Jahre war sie nahezu stumm. Erst beim Eintritt in den Kindergarten schickten die Eltern das Mädchen zu einer Sprachlehrerin, die es schliesslich überzeugen konnte, seine Verweigerungshaltung aufzugeben. Anfänglich drückte es sich allerdings nur mit Wortbrocken aus, wie das Kleinkinder tun. Deshalb unterscheidet sich sein Stummsein vom Selektiven Mutismus (37), bei dem betroffene Kinder und Jugendliche nur in bestimmten Situationen sprechen, dann aber völlig normal.
Anne-Lise Meier über Jonny, vermutlich geboren im Jahre 2007:
Jonny ist eine Findelkatze. Er strich im Quartier herum und schien sein Zuhause nicht mehr zu finden. Jedenfalls hat ihn der Tierschutz eingefangen und zu meinem Tierarzt gebracht. Da sich die Besitzer von Jonny nie gemeldet haben, konnte ich ihn schlussendlich in meine Katzenfamilie aufnehmen. Wie alle anderen ist auch er ein Riesenschatz! Und er versteht sich mit Merlin, Shiva, Marley und Yam-Yam wunderbar!
In Anne-Lises fünfter Woche als Kindergartenkind, an einem Freitagnachmittag, erkrankte sie schwer. Sie weiss noch ganz genau, wie sie aus heiterem Himmel von einem Gefühl des Unwohlseins ergriffen wurde, das von Augenblick zu Augenblick schlimmer wurde, und wie sie dachte: Gleich halte ich es nicht mehr aus. Wenn ich bloss nach Hause dürfte. Drei Tage dauerte der mysteriöse Infekt: sehr hohes Fieber, aber keinerlei andere Symptome – zumindest kann sich Anne-Lise an keine erinnern. Doch schon am Montag hatte sie nur noch leicht erhöhte Temperatur, und die Mutter entschied: »Morgen musst du wieder in den Kindergarten gehen.« Da spürte Anne-Lise, wie sich ein Druck in ihrer linken Körperseite vom Kopf bis zu den Zehen ausbreitete und den Körper auszudehnen versuchte. Es fühlte sich an, als ob irgendetwas tief in ihr drin kaputtgegangen sei. Nur was wohl? Sie hatte Angst, riesige Angst, sodass sie ihre Scheu zu reden überwand und die Mutter fragte: »Mami, wird das wieder gut?« Genervt herrschte die Mutter das Kind an: »Sicher wird das wieder gut.«
Rückblickend ist es Anne-Lise klar: Der heftige Infekt stand in einem kausalen Zusammenhang mit ihrem Tourette-Syndrom, dessen erste Manifestation genau einen Tag später erfolgte. Er muss es ausgelöst haben. Da dieses Phänomen, das sogenannte PANDAS (33), bei dem nach einer Streptokokkeninfektion abrupt neuropsychiatrische Symptome einsetzen, jedoch erst seit 1998 systematisch erforscht wird, kann man heute nicht sicher sagen, ob Anne-Lises Tourette darunterfällt, zumal sie damals nicht von einem Arzt untersucht wurde. Ausserdem wurde der Zusammenhang von Infekt und Tourette bisher (noch) nicht wissenschaftlich untermauert. Eine andere Ursache von Anne-Lises Tourette ist hingegen wahrscheinlich, und zwar das Vorliegen einer genetischen Komponente, denn ein entfernter Verwandter ihrer Mutter litt gleichfalls unter einer Tic-Störung.
Zurück zum Infekt: Den Tag nach seinem Abklingen wird Anne-Lise nie vergessen. Ohne Begeisterung geht sie wieder in den Kindergarten, denn unter den vielen Buben und Mädchen, beim Schwatzen, Spielen und Streiten, fühlt sie sich nun mal nicht wohl. Sie wartet ungeduldig, bis die Lehrerin den Kindern erlaubt, das zu tun, worauf sie Lust haben. Wie immer will Anne-Lise zeichnen, da sie sich dabei in ihre eigene Welt zurückziehen kann. Sie schaut sich um, wer sich ausser ihr noch dafür entschieden hat, damit sie nicht selbst fragen müsse, ob sie zeichnen gehen dürfe. Doch ausgerechnet an diesem Dienstagmorgen ist sie die Einzige. Was tun? Wie schaffen es die anderen bloss, einfach so zu sagen: »Darf ich zeichnen?«, denkt Anne-Lise, und sie hämmert sich ein: Ich kann das auch, ich will das auch, ich gehe jetzt zur Lehrerin, ich rede einfach los. Zwanzig Minuten lang versucht sie sich innerlich zu stärken, zwanzig Minuten lang lässt sie die Lehrerin nicht aus den Augen. Und dann nimmt sie all ihren Mut zusammen und baut sich vor ihr auf, doch noch bevor sie ein Wort herausbringt, schiesst ein kurzer, scharfer Schmerz durch ihren Bauch. Dieser verkrampft, verknotet sich. Anne-Lise zuckt zusammen, ihr Gesicht schneidet eine Grimasse. Doch schreien, nein, schreien tut sie nicht.
Es war ein Schlüsselerlebnis, denn von diesem ersten Auftreten an bis zum heutigen Tag begleiten sie solche Bauchkrämpfe. Mehrmals täglich, im Extremfall weit über hundert Mal, zerreisst sie der Schmerz, bevor er nach ein paar Sekunden so abrupt, wie er aufgetreten ist, wieder abklingt. Ein Schmerz, den sie auf einer Schmerzskala von eins bis zehn mit zehn bewerten würde. Er ist bis heute das extremste Symptom ihres Tourette-Syndroms geblieben. Und für das Kindergartenkind damals war er eine traumatische Erfahrung, die es überhaupt nicht verarbeiten konnte. Jahrzehnte später erst würde Anne-Lise realisieren, was dahintersteckt: Der Schmerz tritt immer dann auf, wenn sie Tics unterdrückt, das heisst, in einem Umfeld, in dem sie unter keinen Umständen auffallen will, oder in einer Situation, in der das Ticcen2 stört, zum Beispiel, wenn eine der Katzen auf Anne-Lises Bauch kuschelt. Aber der Schmerz kann sie auch in Situationen, die mit Aufregung, ja sogar mit Freude verbunden sind, überfallen. Ausgelöst wird er durch das »Verschlucken« der Tics, das zu einer qualvollen Verkrampfung des Bauches führt. Und je nachdem, wie plötzlich diese auftritt, drückt sich der Schmerz auch in Anne-Lises Mimik und Gestik aus. Erst als sie diesen Zusammenhang durchschaut hatte, entdeckte sie, dass sie diesen Krampf bewusst lösen oder gar verhindern kann, und zwar, indem sie die Tics zulässt, ohne sich darum zu kümmern, ob sie dabei beobachtet wird.
Das sechsjährige Mädchen war natürlich völlig überfordert mit dieser Situation. Immerhin erzählte es zu Hause von den Krämpfen, als sie immer häufiger auftraten. Also liessen es die Eltern vom Kinderarzt wie auch von einem Spezialisten, einem Kinderneurologen, untersuchen. Es folgten verschiedene Abklärungen, doch erst als Anne-Lise in der fünften Primarklasse war, ergaben sie ein konkretes Bild: Sie litt unter einer leichten Epilepsie (14). Denn unterdessen wurde sie nicht nur von Bauchkrämpfen, sondern immer wieder auch von Absenzen sowie Anfällen heimgesucht. Im Grunde genommen hatte allerdings das eine mit dem anderen gar nichts zu tun, mit anderen Worten, die Ursache der Krämpfe blieb weiterhin im Dunkeln. Anne-Lise aber machte sich die Diagnose Epilepsie zunutze, indem sie ihre motorischen Tics, die ihr mehr und mehr zusetzten, als epileptische Anfälle tarnte. Sie hatte ja selbst auch keine Erklärung für ihren rätselhaften Bewegungsdrang. Nun schlüpfte sie also manchmal in die Rolle der zappelnden Epilepsiekranken, um so ihre Tics zu entladen. Aber natürlich alles immer nur im Geheimen.
Wer sich vor Augen führt, mit welchen Schwierigkeiten Anne-Lise während ihrer ganzen Kindheit und Jugend zu kämpfen hatte, erkennt unschwer: Ihr Leben war ein einziger Kraftakt. Da waren die Tics selbst, die sie mit verschiedenen Strategien (38) geheim zu halten, zu unterdrücken oder umzuleiten versuchte, und da waren die Bauchkrämpfe, mit denen sie das Verschlucken der Tics teuer bezahlte und die sie sich möglichst nicht anmerken lassen wollte. Da war die Angst, sie könne wegen der Tics auffallen – eine Angst, die ihrerseits unzählige weitere Phobien auslöste: im Lift mit anderen Leuten eingepfercht zu sein oder in der Öffentlichkeit, zum Beispiel beim Einkaufen, sprechen zu müssen, das Telefon abzunehmen oder die Haustür aufzumachen. Diese Ängste liessen ihr Leben zu einem einzigen Hürdenlauf werden. Ausserdem machte ihr ihre Schüchternheit zu schaffen und rief ebenfalls Bauchkrämpfe hervor. Und da waren die Epilepsie und die Medikamente, die sie ihretwegen einnehmen musste.
Wenn Anne-Lise wenigstens mit Verständnis seitens der Eltern und der Lehrpersonen hätte rechnen dürfen, dann wären die drastischen Einschränkungen ihres Bewegungsspielraums vielleicht gerade noch zu ertragen gewesen, doch dem war leider nicht so. Sanktionen der Eltern – einsperren, kalt abduschen, Beschimpfungen, ja, auch Schläge sowohl des Vaters als auch der Mutter – waren an der Tagesordnung, denn beide waren überfordert mit ihrer Jüngsten und sahen die Schuld allein bei ihr. Aggressiv sei sie, ein Problemkind, ihr Verhalten sei nicht normal, und dieses Bild übernahm Anne-Lise ganz selbstverständlich, so sah sie sich selbst, damit wuchs sie auf. Auch in der Schule war sie immer unter Strom, denn ihr fehlendes Selbstvertrauen und die Angst, vor der ganzen Klasse sprechen zu müssen, hinderten sie daran, entspannt am Unterricht teilzunehmen. Vielleicht streckte sie manchmal, wenn sie die Antwort auf die Frage der Lehrperson wusste, spontan auf, doch dann realisierte sie jeweils: Gleich werde ich aufgerufen – Scheisse, was mach’ ich denn jetzt? Rasch liess sie den Arm wieder sinken und spielte die Unschlüssige, die die Antwort nochmals überdenken muss. Denn sonst hätte sich – vermutlich – ein Tic gemeldet und sie blossgestellt. Diese Angst trübte ihre ganze Primarschulzeit, und sie führte auch dazu, dass sie bei den Mitschülerinnen und Mitschülern nicht sonderlich beliebt war.