MEIN WEG ZUM NHL-STAR
Orell Füssli Verlag, www.ofv.ch
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Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-280-05723-0
eISBN 978-3-280-09092-3
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.
VORWORT DER AUTORIN
THE VORWORT
DER DRAFT
DIE ENTSCHEIDUNG
NORDAMERIKA ZUM ERSTEN
TEAMGEIST: MEINE ZEIT ALS LÖWE
CAPTAIN
UNTER SCHWEIZER FLAGGE
DER STREITFAKTOR
DIE ZEHN GEBOTE (ZUM ERFOLG)
DER STANLEY CUP, SÖLDNER FÜR DEN SIEG
AUF GUTE FREUNDE
DAVID AEBISCHER
ANDRES AMBÜHL
NICO HISCHIER
DOUG HONEGGER
ROMAN JOSI
RALPH KRUEGER
NINO NIEDERREITER
MATHIAS SEGER
RETO VON ARX
YANNICK WEBER
FABIENNE
SUDDEN DEATH UND DAS LEBEN DANACH
EPILOG
DANKSAGUNG DER AUTORIN
FOTO-CREDITS
Vorreiter, Vorkämpfer, Türöffner, Pionier, Leitwolf, Leader… Bringt man den Namen Mark Streit ins Spiel, fallen unweigerlich diese Worte. Sie charakterisieren den 42-Jährigen treffend, selbstverständlich, wenn es um seine sportliche Laufbahn geht. Ob einstiger Mannschaftskamerad oder Gegner – alle zollen dem Berner höchsten Respekt. Er war der erste Schweizer Feldspieler, der Captain eines NHL-Teams wurde und der den Stanley Cup gewonnen hat. An seiner Karriere orientieren sich die nachfolgenden Generationen, ihm ist es zu verdanken, dass die Schweizer im internationalen Eishockey auf den Radar gelangt sind. Doch da gibt es noch die andere Seite des Mark Streit: Er ist durch und durch ein Familienmensch, höflich, zuverlässig, grosszügig und lustig. «Als er sich einen Ferrari gekauft hat, haben meine Frau und ich gefürchtet: Jetzt dreht der Bub durch. Doch wir haben schon dafür gesorgt, dass er nicht abhebt», erzählte Vater Hansjürg Streit nicht ohne Stolz. Und das, obwohl Mark in der NHL im Privatjet seines jeweiligen Arbeitgebers von Spielort zu Spielort flog. Wahrscheinlich nennen ihn die langjährigen Kollegen auch aufgrund seiner Bodenständigkeit «Streiti» und schwärmen, dass man sich glücklich schätzen darf, ihn als Freund zu haben.
An unserer ersten persönlichen Begegnung verrät mir Mark, dass eines seiner Lieblingsbücher «Der friedvolle Krieger» des US-Autors Dan Millman ist. Das Werk, das von der spirituellen Reise eines jungen Mannes erzählt, die durch Licht und Dunkelheit, Triumph und Zweifel führt, hat Mark und seinen Lebensweg beeinflusst. Auch seine Reise führte ihn durch Licht und Dunkelheit. Er triumphierte und zweifelte. Und er hörte nie auf zu träumen und für die Verwirklichung seiner Träume zu arbeiten. Mit den Erfolgen stiegen die Erwartungen. Um dem Druck standzuhalten, besann er sich immer wieder auf seine Stärken. Was ihn leitete, war der Glaube an sich selbst. Dass er sich in der härtesten und besten Liga der Welt an die Spitze gekämpft hat, strafte viele Kritiker Lügen, die ihm die konstanten Topleistungen nicht zutrauten. Denn Mark Streit war Mark Streits schärfster Kritiker, angespornt vom unbedingten Willen zu siegen. Im Mai 2020 wird er als fünfter Schweizer von der IIHF in die Hall of Fame aufgenommen. Der internationale Eishockeyverband beschreibt ihn als «besten Schweizer Spieler aller Zeiten» und als «wahren Superstar».
Warum will er eine Autobiografie nach «nur» der Hälfte seines Lebens schreiben, frage ich ihn vor unserer Zusammenarbeit. «Etwas, das du erlebt hast, kann auch für andere nützlich sein, ihnen z. B. einen Weg aufzeigen, sie inspirieren und motivieren; aber das ist nur möglich, wenn du deine Erfahrungen weitergibst.» Das tut der Vater von zwei Töchtern auf eindrückliche Weise. Die Schilderungen relevanter Matches sind so leidenschaftlich wie ein Livekommentar. Viele Prinzipien lassen sich vom Sport aufs Leben übertragen. Entstanden ist ein Buch, das von einem grossen Athleten erzählt und dem Leser den Menschen nahebringt. Es enthält Weisheiten, ohne zu belehren.
«Wenn ich etwas mache, dann zu 100 Prozent, egal ob es sich ums Trainieren, einen Match, ums Feiern oder um Ferien handelt», sagt Mark. Hierin sind wir uns (unter anderem) einig. Dieses Buch enthält 100 Prozent Mark Streit.
Sherin Kneifl (Autorin)
Mark Streit hat die Welt gesehen. Die äussere und die innere. Auf scharfen Kufen über glattem Eis. Er hat den Himmel gesehen, aber auch die heisseren Teile der Hölle. Er stand auf den höchsten Gipfeln oder durchschritt die tiefsten Täler. Und ich betrachtete ihn dabei. Meistens aus der Distanz, manchmal voller Mitleid und immer mit grosser Bewunderung. Ich hier, er dort. Zwischen uns der Atlantik und ein paar Zeitzonen.
Ich weiss nicht mehr, wo und wann wir uns zum ersten Mal persönlich begegneten. Aber ich erinnere mich, dass mich in der folgenden Nacht die Frage beschäftigte, weshalb ein so freundlich zugewandter, höflicher und bescheidener Mann «S.T.R.E.I.T» heisst? Unpassender – so schien mir das damals – könnte ein Name für einen Gentleman gar nicht sein.
Ein paar Jahre später besuchte ich ihn in Philadelphia und hörte, dass ihn der Speaker im Wells Fargo Stadion «Mark Straight» nannte. Im allgemeinen Durcheinander der Geräusche klang das wie «Smart Straight» und ich kriegte dabei eine Gänsehaut, die sich erst viele Tage später, ich war längst wieder in meiner Heimat, langsam verflüchtigte.
Bei einem der ersten Treffen schenkte er mir sein dunkelblaues New York Islanders-Dress mit dem aufgestickten A (Assistant) und ich hängte es in meinem Atelier direkt gegenüber meinem Arbeitstisch an die Wand. Und immer wenn ich um Worte, Bilder und Töne rang, wenn ich orientierungslos durch meine innere Dunkelheit mäanderte, wenn ich versucht war, den Bettel hinzuschmeissen, wenn ich mich gerne davongestohlen hätte, war mir das Trikot eine Art Fetisch. Ein Fetisch, der mich ermutigte und bestärkte, der mir auf eigenartige Weise Kraft zu geben schien. Smart und straight.
Und irgendwann erreichte mich aus den Vereinigten Staaten ein Luftpostbrief mit Eselsohren. Der Inhalt, ein grosser Buchstabe aus Stoff. Ein C und ein kleiner Zettel mit der Aufforderung, das A auf dem Trikot doch bitte durch das C zu ersetzen. «Smart Straight» war als erster Schweizer Hockeyspieler zum Captain eines NHL-Teams erkoren worden. Er dort und ich hier. Zwischen uns der Atlantik und ein paar Zeitzonen und ich bin fast verreckt vor Stolz.
Es gäb so vieles zu erzählen und noch viel mehr zu verschweigen. Nur so viel: «Smart Straight» ist ein guter Mann und ich bin stolz, dass er mein Freund ist.
Büne Huber (Musiker, Patent Ochsner)
An einem Sonntagmorgen im Juni 2004 riss mich das Klingeln meines Handys aus dem Schlaf. Die Nummer auf dem Display war mir unbekannt. Die WM in Tschechien war schon länger vorbei und ich steckte mitten im Aufbautraining für die nächste Saison bei den ZSC Lions, die ich als Captain anführte. «Wer sollte mich im Sommer kontaktieren?», überlegte ich.
Da ich am Vorabend mit Kollegen im Ausgang gewesen und das Zürcher Nachtleben ausgiebig und lange genossen hatte, nahm ich eher verstimmt ab. «Gratuliere Mark», tönte es in mein Ohr. «Danke, aber wofür?», lautete meine Antwort. «Was, du weisst noch von nichts?! Du bist gedraftet worden von den Montréal Canadians! Echt toll, Mark!» Simon Graf, der Journalist vom «Tages-Anzeiger», der mich angerufen hatte, konnte kaum fassen, dass er mir als Erster diese Botschaft überbrachte. Er freute sich, mich so positiv überrascht zu haben, und wollte mit mir über den Coup sprechen. Tatsächlich hatte ich von diesem so sehnsüchtig verfolgten Ziel in meiner Eishockeykarriere noch nichts mitbekommen. Nun sollte es mich endlich in die NHL verschlagen?! Die Montréal Canadians hatten mich in der neunten Runde an Nummer 262 gedraftet. «Träume ich noch?», fragte ich mich. Nein, alles war real, ich war wach und mein Traum sollte Wirklichkeit werden…
Nach dem kurzen Telefonat lief vor meinem geistigen Auge ein Film ab. Seit meinem 18. Lebensjahr hatte ich jeden Juni gehofft, gefiebert, gebangt – und war enttäuscht worden. Mein grösster Wunsch, den NHL-Draft zu schaffen, hatte sich bisher nie erfüllt. Und das, obwohl ich seit meinem Wechsel von Fribourg-Gottéron (meiner ersten Station als Profi) zum HC Davos über einen einjährigen Ausflug in die unteren nordamerikanischen Ligen bis nun bei den ZSC Lions alles nur Erdenkliche dafür gegeben hatte. Zum Beispiel hatte ich als erster Schweizer Spieler bereits zum neuen Jahrtausend einen Personal Trainer engagiert.
Nun, nachdem ich mit fast 27 den Glauben daran eigentlich schon aufgegeben hatte, sollte der Sprung in die NHL tatsächlich gelingen! Eine Welle der Emotionen ergriff mich. Nach den Enttäuschungen der Jahre zuvor hatte ich den Draft diesmal nicht verfolgt und war überglücklich und stolz. Denn nicht irgendein Team, sondern die Montréal Canadiens wollten mich. Das Team gehört zu den «Original Six», den sechs von heute 31 Mannschaften, die seit dem Erhalt des Exklusivrechts für die Austragung des Stanley Cups durch die nordamerikanische National Hockey League (NHL) in derselben vertreten sind. Der Klub hat eine grosse Tradition und darf seit der Gründung 1909 auf eine lange Historie zurückblicken. 24 Mal hat er bereits den Stanley Cup gewonnen, die höchste Auszeichnung, die es im Eishockey gibt, und führt damit die Liste aller Vereine an. In Montreal ist Eishockey kein Sport, es ist eine Religion. Aber das wurde mir erst später so richtig bewusst.
Der Juni ist der Monat, in dem sich alles entscheidet, in dem die ganze Eishockeywelt nach Nordamerika blickt. Denn genau in dieser Zeitspanne finden die Drafts statt. So auch in diesem, für mich entscheidenden Jahr 2004. Wer von einem kanadischen oder US-amerikanischen Klub gewählt wird, dem steht eine Topkarriere offen. Seit Bubentagen wollte ich genau das erreichen, denn ab dem 18. Lebensjahr kann man gedraftet werden. Da die NHL in der Saison 2004/05 streikte, wurde die Schweizer Nationalliga A zum Auffangbecken vieler Söldner aus Übersee. Dies gab mir die Möglichkeit, mich mit den Stars zu messen und zu erkennen, dass ich nun bereit für die beste Liga der Welt war. Im April 2004 hatte ich als Captain des Schweizer Nationalteams eine tolle WM in Tschechien gespielt und ich denke, Montréal hat sich da entschieden, mich zu holen. Meinen Eltern gegenüber hatte ich das Ziel «NHL» natürlich formuliert und sie unterstützten mich dabei nach Kräften. Nun überlegte ich mit ihnen zusammen, was ein solcher Schritt für mich bedeuten würde.
Ich stand noch beim ZSC unter Vertrag. In der aktuellen Saison 2004/05 hatten wir es in die Play-offs geschafft, dort den HC Ambrì-Piotta sowie den EV Zug jeweils mit 4:1 besiegt. Im Finale (28. März bis 11. April) trafen wir auf den HC Davos, dem wir 1:4 unterlagen. Diese Niederlage gegen den Klub mit den Kanadiern Rick Nash, Joe Thornton und dem Finnen Niklas Hagman schmerzte. Gern wäre ich als Schweizer Meister nach Kanada gegangen. Denn mein Entscheid stand fest: Ich wollte meine Chance nützen und das Angebot der Canadiens, auf die Saison 2005/06 zu ihnen zu kommen, annehmen. Aus sportlichen Gründen war ich felsenfest überzeugt, dass dies das Richtige ist. Auf privater Ebene fiel mir der Entscheid hingegen schwer.
Die vergangenen fünf Jahre in Zürich waren wunderschön gewesen. Wir hatten ein super Team, das sich als eine verschworene Einheit erwies. Wir machten alles gemeinsam. Ich war bei den Lions sehr glücklich. Auch hatte ich eine tragende Rolle inne und durfte 2003 sogar das Captain-Amt von Claudio Micheli übernehmen. Es stimmte einfach alles. Das Leben meinte es gut mit mir. Ich hätte mir locker noch weitere zehn Jahre in Zürich vorstellen können. Aber mein Traum erwies sich als stärker als die Wohlfühloase an der Limmat; ich unterschrieb bei den grossen Canadiens einen Einjahresvertrag zum NHL-Minimalsalär von 450000 US-Dollar brutto, wovon die Hälfte an Steuern wegging. Es handelte sich um einen sogenannten Two-way-contract mit zwei Salären: ein höheres für die NHL sowie ein Gehalt, falls ich in einer tieferen Liga eingesetzt würde.
Wer glaubt, dass ich nun direkt ins Schlaraffenland des Eishockeys geflogen worden bin, der irrt. Ich flog Holzklasse. In Montreal angekommen holte mich ein Mitarbeiter des Vereins ab und brachte mich in ein Hotel in der Nähe des Stadions. Das Zimmer teilte ich mit Tomas Plekanec, einem Prospect der Canadiens, der seinen Preis bereits einige Jahre im Farmteam bezahlt hatte und Hoffnungen auf den NHL-Kader hegte. Wir sassen im gleichen Boot; ich war einfach sechs Jahre älter. Er erwies sich als Glücksfall: Tomas wurde mein bester Freund im Team bzw. wir beide zu Leidensgenossen. Denn der Anfang gestaltete sich harzig.
Ich hatte etwas Zeit, mich auf die neue Situation einzustellen, denn das Training begann erst in einer Woche. So erkundete ich die Stadt und machte mich mit den Gegebenheiten vertraut. Als ich mir eines Abends an einem Kiosk eine Packung Kaugummi kaufte, starrte mich der Verkäufer an. «Du bist doch der Schweizer, der Neue im Team», meinte er. Er hatte mich tatsächlich von den Ankündigungen im TV und den Zeitungen erkannt, obwohl ich noch nicht mal einen Fuss aufs Eis gesetzt hatte. Die Verbundenheit der Einwohner zu «ihrem Team» erreicht in Nordamerika eine ganz andere Dimension als in der Schweiz. Durch solche Erlebnisse wurde mir der Stellenwert, den Eishockey dort einnimmt, erst bewusst. Noch mehr war das der Fall, als ich zum ersten Mal die Katakomben der NHL, sprich das Stadion Centre Bell in Montreal betrat. Ich hatte das Gefühl, in einem Museum oder einer Hall of Fame zu stehen, und erstarrte fast vor Ehrfurcht, als ich all die Legenden erblickte, deren Porträts an den Wänden hingen. Jeder Spieler seit der Gründung des Vereins war auf einer Plakette der jeweiligen Saison verewigt. Die Plätze der aktuellen Spieler wie Saku Koivu, Alexei Kovalev, Andrei Markov usw. waren ebenfalls mit Schildern gekennzeichnet. Und dann – zu meinem Erstaunen – las ich auch meinen Namen: Mark Streit. Das machte mich stolz. Denn von den rund 60 Männern, die zu Beginn der Saison ins Camp kommen, haben eigentlich alle Neulinge ihren Spind in einer kleinen Kabine nebenan. Aber nicht ich. Bald merkte ich jedoch, dass das nichts zu bedeuten hatte.
Kapitän Koivu, eine finnische Legende, beachtete mich als Einziger und hiess mich willkommen. Die meisten ignorierten mich. Tomas ging es gleich, sogar seine Landsmänner aus der Tschechei und Slowakei behandelten ihn wie Luft. Welcome to the NHL! Zu Anfang konnte ich mein Potenzial in den Trainings nur äusserst selten ausschöpfen. Ich, der kleine Schweizer in dieser grossen Show, fühlte mich gehemmt. Das Camp war hart oder einfach ungewohnt für mich. Circa 60 Spieler kämpften um 23 Plätze. Da bereits die meisten unter Vertrag standen und somit gesetzt waren, blieben zwei bis drei freie Plätze für Junge oder Neue. Wie sich nach kurzer Zeit herausstellte, war in der Verteidigung nur ein Platz offen. Das Tempo im Trainingslager empfand ich als enorm hoch. Die Intensität im Spiel lag um so vieles höher als in der Schweiz. Es wurde sehr konzentriert gearbeitet. Jeder Pass kam knallhart und genau. Wem das einmal nicht gelang, den musterte der Trainer sofort mit einem «Are you not ready»-Blick.
Ich konnte nicht zufrieden mit meinem Camp sein und rechnete eigentlich jeden Tag damit, in das Farmteam (die Mannschaft, deren Hauptaufgabe die Ausbildung junger Spieler ist, die Erfahrung in einer der unteren Ligen sammeln sollen) geschickt zu werden. Mir war bewusst, dass ein langer, steiniger Weg vor mir lag und ich eventuell einen Umweg durch die American Hockey League (AHL) machen musste. Feedbacks von den Coaches gab es nicht. Ich kann mich erinnern, eines Tages an der Ampel gewartet zu haben, als mich ein Mann ansprach und mich fragte, wie es mir gehe. Ich sagte: «Okay.» Er meinte, ich solle mir keine Sorgen machen und weiter hart arbeiten. Ich hatte keine Ahnung, wer mich da gerade angesprochen hatte. Etwas später erfuhr ich, dass es sich um Pierre Gauthier, den kanadischen Eishockeyfunktionär in der Organisation der Montréal Canadiens gehandelt hatte. Er war für meinen Draft verantwortlich und ein massgeblicher Supporter von mir.
Ein Camp dauert 21 Tage, dann wird der 23-Mann-Kader ernannt. Diese drei Wochen kamen mir ewig vor. Wenn du ständig das Gefühl hast, jeden Moment ins Farmteam gehen zu müssen, ist das sehr ermüdend und eine mentale Belastung. Am Tag der Entscheidung kam ich in die Kabine und trank einen Kaffee in der Players Lounge, als mein Gegenüber Mike Ribero sagte: «Congrats, you made the team.» Ich hatte keine Ahnung, dass ich es tatsächlich geschafft hatte. Kein Trainer, geschweige denn der General Manager (GM) hatte mich informiert, sondern ein Mitspieler. Mir fiel eine gigantische Last von den Schultern. Die Erleichterung wandelte sich aber keineswegs gleich in Euphorie, weil in der NHL jeden Tag einiges passieren kann und ich sicher nicht «safe» war. Es bedeutete lediglich einen weiteren wichtigen Schritt in die richtige Richtung.
Nach sechs Wochen im Hotel erhielt ich jetzt grünes Licht, mir eine Wohnung zu suchen. Das stimmte mich zuversichtlich und positiv. Mithilfe einer Mitarbeiterin des Vereins fand ich eine schmucke Bleibe unterhalb unseres Stadions. Von meiner Wohnung aus konnte man es direkt sehen. Am 8. Oktober 2005 gab ich mein NHL-Debüt im kanadischen Derby gegen die Toronto Maple Leafs. Ich werde nie vergessen, wie nervös ich war, aber auch voller Freude allein darüber, bei einem Match dabei zu sein. Ich verbuchte gleich einen Assist und schnappte mir den Puck, mit dem ich die Torvorlage geliefert hatte, als Erinnerungsstück. Wir gewannen auswärts im Air Canada Center mit 5:4.
Ich gewöhnte mich schnell an diese eishockeyverrückte Stadt, doch leider liess das, was ich auf dem Eis zeigte, zu wünschen übrig. Einmal zitierte der General Manager Bob Gainey, eine Canadiens-Hockeyikone, einige Männer einzeln zu sich ins Büro. Auch mich. Ich hatte Angst davor, was er mir sagen würde. Als ich bei ihm im Zimmer sass, schwieg er gefühlte fünf Minuten lang, die wahrscheinlich in Wahrheit nur 30 Sekunden dauerten. «Es wird Zeit, dass du dem Trainer sagst, du solltest wieder einmal spielen.» Seine Worte motivierten mich eigentlich, doch ich traute mich nicht, sie umzusetzen und von Claude Julien meine Einsetzung zu fordern. Letztlich habe ich meine Chance doch bekommen.
Ein Erlebnis an einem kalten Wintertag in Montreal verunsicherte mich sehr. Nach einem verlorenen Spiel gegen die Florida Panthers bekam ich den Frust eines unserer Fans zu spüren. «Go back to fucking Switzerland!», rief er mir zu. Ich konnte noch nie mit schlechten Leistungen gut umgehen. Sie bescherten mir schlaflose Nächte, in denen meine Gedanken kreisten und ich die Gründe für das Versagen suchte. Nach dem besagten Spiel ging ich nach Hause, stellte mich auf eine dieser langen und einsamen Nächte ein und blickte auf das Canadiens-Logo, das am Centre Bell so hell strahlte. Mein Weg zu einem Stammplatz würde steinig sein, aber ich wollte es mit jeder Faser meines Körpers schaffen, ich wollte ein Canadien sein.
Es gab auch unglaublich schöne Momente, beispielsweise als ich das erste Mal gegen meinen Kindheitshelden Chris Chelios spielen durfte. Er war immer mein Vorbild gewesen. Als kleiner Junge hatte ich das Originaltrikot mit seinem Namen und seiner Nummer zu Weihnachten geschenkt bekommen und die Wände meines Zimmers mit seinen Bildern und Postern dekoriert. Nun sollte ich mit den Canadiens gegen die Detroit Red Wings mit Chelios als Verteidiger antreten. Ich konnte es kaum glauben und musste erst meine Ehrfurcht ablegen, als ich ihn sah. Als ich gegen einige weitere Koryphäen spielte, ging es mir ähnlich, etwa gegen Mario Lemieux mit den Pittsburgh Penguins. Ein eigenartiges Gefühl überkam mich. Ähnliches erlebte ich, als ich erstmals im Madison Square Garden in Manhattan gegen die New York Rangers spielte, bei denen Captain Mark Messier, einer der berühmtesten Führungsspieler der Liga, gerade seine Karriere beendet hatte. Schon als Bub war ich NHL-orientiert, ein fanatischer Fan, besass diverse Sammelkarten und Poster – und nun standen mir meine Heroes leibhaftig gegenüber. Spielte ich gegen solche Legenden, hatte ich lange Zeit Berührungsängste, vor allem, weil ich Schweizer war. In der nordamerikanischen Liga galten wir als Nobodys oder zumindest als Hockey-Exoten. Viele Kollegen hielten die Schweiz für Schweden! Es hat gedauert, bis ich diese Ehrfurcht bzw. den übermässigen Respekt ablegen und zeigen konnte, was ich draufhatte. Ich bin generell keiner, der mit der Tür ins Haus fällt, sondern eher zurückhaltend. Das entspricht mehr meinem Naturell. In jedem Team, in das ich neu kam, habe ich zunächst abgewartet und geschaut, wie alles funktioniert, wer die Leadertypen sind etc. Ich habe versucht, mit Leistung zu überzeugen und mich hochzuarbeiten, anstatt mit einer Riesenklappe aufzutreten.
Sicher gibt es Orte, die es einem Spieler leichter machen, sich in der NHL zu etablieren, als Montreal. Es ist eine grosse Ehre, das Canadiens-Trikot tragen zu dürfen. In meiner ersten Saison kaufte ich mir das Heim- und das Auswärtstrikot als Andenken an diesen Meilenstein meiner Karriere. Die Fans, die Medien, die Bevölkerung fiebern und leiden mit. Man wird überall erkannt und kann eigentlich alles haben, was man will. In der Tat besteht die Gefahr, sich in dem Hype zu verlieren. Mir war klar, dass das Lesen der Zeitungen und das Anschauen der verschiedenen Eishockeyshows im Fernsehen negative Auswirkungen auf mich hatten. Ich achtete ohnehin auf jedes noch so kleine Detail, war hypersensibel, setzte mich schon selbst viel zu sehr unter Druck. Deshalb wollte ich mich auf meine Leistung konzentrieren und mich nicht von den Medien beeinflussen lassen. Obschon einen die Kritik in dieser Eishockeymetropole gnadenlos treffen kann, wissen es die Leute zu schätzen, wenn man für «ihre Mannschaft» immer alles gibt. Und das versuchte ich in jedem Training und in jedem Spiel zu tun. Ich benötigte fast eine ganze Saison, um mich an den Level zu gewöhnen. Während meiner ersten Saison 2005/06 absolvierte ich ca. 50 Spiele, bei 32 sass ich unter den Zuschauern. Im Nachhinein stellte ich fest, dass die Verantwortlichen sehr geduldig mit mir waren. Sie gaben mir den nötigen Raum, um mich zu entfalten.
Als in der zweiten Saison Guy Carbonneau unser Trainer wurde, kam mir ein wenig die Rolle des Jokers zu. Die ersten 20 Spiele wurde ich auf meiner angestammten Position als Verteidiger eingesetzt. Dann verloren wir einige Male und ich musste ein paar Matches pausieren. Zwei, drei Spieler sind stets Ersatz. Wer dafür vorgesehen ist, absolviert die komplette Vorbereitung am Spieltag. Des Öfteren traf es mich: Ich habe das Einlaufen mitgemacht und dann entschied sich der Trainer, einem anderen den Vorzug zu geben. Auf dem Weg vom Eis in die Kabine hat mich in der Regel der Materialwart – nicht der Trainer oder der Sportdirektor – informiert, dass ich nicht mit von der Partie sein würde. Das ist hart. Du ziehst vor dem ganzen Team die Ausrüstung aus, wünschst allen Mitspielern viel Erfolg, gehst ins Gym und machst ein Workout mit dem Fitnesstrainer während des ersten Drittels. So sah mein Alltag in der Regel aus. Klar kamen Zweifel in mir auf, doch ich biss mich durch.
Die Geduld sollte sich lohnen. Als ich nach einem Warm-up in die Kabine lief und bereits auf das «No-Go» vom Materialchef wartete, stand auf einmal Trainer Carbonneau da und fragte mich, ob ich Stürmer spielen könnte. Ich sagte: «Ja klar», obwohl ich vorher noch nie in meiner Karriere Stürmer gespielt hatte. Aber ich hätte was auch immer getan, um spielen zu können. Aus der Not wurde eine Tugend. Ich bemühte mich, so schnell wie möglich die neue Position zu erlernen. Und nicht nur das: Ich wurde zum absoluten Allrounder. Teilweise setzte man mich während eines Spiels auf fünf verschiedenen Positionen ein. Diese Vielseitigkeit war äusserst anspruchsvoll, aber um in einem Team bestehen zu können, muss man eine bestimmte Rolle innehaben. Nur so wird man zum Fixstarter. Und genau das wurde ich. Mit Stolz führte ich meine Aufgaben aus und erkämpfte mir einen Stammplatz, den meine Kameraden mit dem Spitznamen «Swiss Army Knive» krönten, da ich so universell brauchbar wie ein Schweizer Taschenmesser geworden war.
Mein drittes Jahr war statistisch gesehen mein bestes, mit 81 Spielen auf dem Konto. Ich gab 165 Schüsse aufs Tor ab, erzielte 13 Tore und sieben Powerplaytore, wovon es sich bei dreien um Siegestore (Game Winning Goals) handelte. Ausserdem gab ich 49 Assists. Insgesamt erzielte ich 62 Punkte. Wir wurden Erster in der Eastern Conference, was dem Klub seit Anfang der 1990er-Jahre nicht mehr gelungen war. Damit hatten wir die Qualifikation für die Play-offs in der Tasche und unterlagen erst im Conference-Halbfinale den Philadelphia Flyers. Allmählich festigte sich in mir das Gefühl, «es geschafft zu haben». Nach meiner aktiven Karriere sagte mein Vater einmal zu mir, dass er schon ein Jahr zuvor überzeugt gewesen sei, dass ich mich bei den Canadiens etablieren würde.
Auch privat erlebte ich in Montreal eine schöne Zeit. Im Ausgang hatte ich eine 21-jährige Jus-Studentin kennengelernt, deren Familie ursprünglich aus Syrien stammte. Wir wurden ein Paar und ihre Eltern behandelten mich sehr freundlich, fast wie einen Teil der Familie. Trotzdem vermisste ich meine Lieben in Bern oft. Wenn ich mich einsam fühlte oder einen schlechten Tag hatte, rief ich sie mittels einer Prepaid-Karte von einem öffentlichen Telefon aus an. Allzu viel konnten sie mich nicht unterstützen und ich wollte sie auch gar nicht mit meinen Sorgen belasten. Alles in allem war ich in Montreal, in der NHL angekommen. Ich verwirklichte meinen Traum. Nur das zählte.
Die Passion für den Sport wurde mir praktisch in die Wiege gelegt. Mein Grossvater und meine Eltern waren schon immer eishockeybegeistert. Mein Vater Hansjürg Streit hätte auch gern Eishockey gespielt, doch seine Eltern waren zu arm, um sich die Eintritte für die Eisbahn, die Ausrüstung etc. leisten zu können. Also spielte er Fussball und Handball und brachte es mit Letzterem sogar einmal in die Schweizer Juniorennationalmannschaft. Meine Mutter Silvia spielte Korbball. Beide liefen Ski, spielten begeistert Tennis… In unserer aktiven Familie wurde Sport grossgeschrieben. Dieses Umfeld hat mich sicher geprägt. Schon mit drei Jahren stand ich auf Skiern, mit fünf spielte ich Fussball. Der Trainer der Kindermannschaft vom FC Bern war ein Freund meines Vaters und offenbar begeistert von mir. Sein einziger Kritikpunkt: Ich sei ein wenig langsam. Doch als ich beim Verein Mitglied werden sollte, wollte ich das nicht. Nach nur einem Probetraining hatte ich irgendwie keine Lust auf Fussball.
Dann hat unser Nachbar meine Mutter überredet, mich ins Eishockeytraining zu bringen. Als ich das erste Mal auf dem Eis stand, fiel ich gleich auf die Nase. Aber ich habe mich hochgerappelt und bin dem Tor entgegengeschlittert. Meine Mutter stand an der Bande und meinte trocken zu einer Kollegin: «Ich mache aus meinem Sohn einen Eishockey-Star.» Wie schon mein Grossvater hatten meine Eltern Saisonkarten für den SC Bern. Sie unterstützten den Klub und liessen kaum einen Match aus. Mit Laurent Müller, der mit seinem Bruder bereits beim SCB spielte, ging ich in die erste Klasse. Durch ihn und den engen Bezug meiner Familie zum Eishockey kam ich mit sieben Jahren zum SC Bern, wo ich alle Stufen der Juniorenmannschaften durchlief. (Mit Laurent Müller sollte ich nicht nur in Bern zusammenspielen, sondern auch bei Fribourg-Gottéron, beim ZSC und im Nationalteam.) Es braucht eine intakte Familie, um einen Buben auf diesem Weg zu unterstützen.