LOU PARKER
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ICH HABE GETÖTET
Mathias Wünsche
Ein Lou-Parker-Krimi
edition oberkassel
Bedrohlich zogen die schweren grauen Wolken über den Michaelsberg hinweg. Vorboten. Ein Unwetter kündigte sich an. Die Abtei glich im Zusammenspiel zwischen aufsteigendem, dichter werdendem Bodennebel und dem kalten Mondlicht einer Trutzburg, die sich gegen alle Angriffe von außen zu verteidigen versuchte. Die Grünanlage auf dem Vulkankegel, die tagsüber von Touristen und Siegburgern gleichermaßen rege frequentiert wurde, war verwaist. Auch wenn die Nacht an diesem 30. Januar frostfrei war, so war das Gras feucht und das Erdreich ausgekühlt.
Er schmeckte das Blut in seinem Mund. Ein bitterer Geschmack. Er spuckte aus. Der pochende Schmerz unter seiner Schädeldecke war unerträglich. Und das lag nicht am Alkohol allein. Mühsam rappelte er sich auf, schüttelte sich kurz und lief weiter. Einfach weiter, ohne zu wissen, wohin. Orientierungslos. Sein Blick war getrübt, er nahm seine Umgebung wie durch einen Schleier wahr. Verwaschen. Er stolperte. Blieb auf den Beinen. Ruderte mit den Armen. Es ging bergab. War das gut? Er musste achtsam sein, wollte er mit seinen glatten Sohlen nicht ein weiteres Mal ausrutschen. Irgendwo mussten die Wohnhäuser sein. Verdammt! Irgendwo mussten sie doch sein! Lief er etwa im Kreis?
Er wagte es nicht, stehen zu bleiben. Wagte es nicht, sich umzusehen. Sie waren zu dritt. Sicher, er war ihnen entkommen. Hatte ihre ersten Attacken einigermaßen abwehren können. Aber nein, sie würden ihn nicht so einfach davonkommen lassen. Sie waren hinter ihm, auch wenn er sie nicht hörte. Nicht sah. Und es war niemand da, den er hätte um Hilfe bitten können. Der Schrei blieb ihm im Halse stecken.
»Nein, tu das nicht!«, schluchzte er. Vielleicht …! Sollte es noch eine Chance geben, ihnen zu entkommen, musste er leise sein. Vielleicht …! Vielleicht konnte er ihnen doch noch … Vielleicht hatten sie ihn ja aus dem Blick verloren. Mit aller Macht versuchte er, die erdrückende Panik niederzuringen. Vielleicht hatten sie aufgegeben. Ja, verflucht, er hatte sich mit den falschen Leuten eingelassen, war unvorsichtig gewesen. Er hatte die Typen unterschätzt. Aber diese Erkenntnis half ihm jetzt nichts mehr.
Der scharfe Wind trieb ihm die Tränen in die Augen. Mit dem Handrücken wischte er sich übers Gesicht, was das Brennen noch verstärkte. Sein Atem ging stoßweise. Seine Lunge brannte. Das Laufen auf dem harten, unebenen Boden fiel ihm zusehends schwerer. Ihm wurde schwindelig. Alles um ihn herum schien sich zu drehen. Ob er wollte oder nicht, er brauchte eine kurze Verschnaufpause. Er stoppte abrupt und verlor dabei beinah das Gleichgewicht. Vornübergebeugt stützte er sich mit beiden Händen auf seine Oberschenkel ab. Gierig rang er nach Luft. Nur einen Moment. Er benötigte nur einen Moment … Seine Beine fingen plötzlich an zu zittern, ohne dass er etwas dagegen hätte tun können. Sie gehorchten ihm einfach nicht und er fiel auf die Knie. Der stechende Schmerz erreichte ihn prompt, und er stöhnte auf.
»Komm hoch!«, schrie ihn die innere Stimme an. Vergebens.
Und dann waren sie da. Standen wie aus dem Nichts kommend um ihn herum. Wortlos starrten sie auf ihn herunter. Sekunden vergingen, ohne dass irgendetwas geschah. Er sprang hoch, kam zum Stehen, versuchte zu fliehen. Doch instinktiv wusste er, dass es dafür zu spät war. Dem Baseballschläger konnte er nicht ausweichen, und er traf ihn genau in den Magen. Der jähe, explodierende Schmerz warf seinen Körper mit solcher Kraft nach vorne, dass er beinah freigekommen wäre, doch einer der Männer riss ihn zurück und richtete ihn wieder auf. Ein anderer schlug erneut zu. Das Letzte, was er hörte, war das Geräusch von zerbrechenden Knochen. Schädelknochen. Den zweiten Schlag, der ihn mitten ins Gesicht traf, spürte er schon nicht mehr.
Da war diese Tür. Groß und weiß lackiert. Hochglänzend. Einen Augenblick der inneren Einkehr. Deutlich vernahm sie ihren Herzschlag. Hanna Herzog stand vor dieser massiven Holztür, und ihre Hand, die sich nun auf die Messingklinke legte, war plötzlich wieder klein. Ja, es war die Hand eines Kindes. Früher hatte sie geglaubt, die Türklinke sei aus purem Gold. Felsenfest hatte sie das geglaubt. Als sie kleiner war, musste sie sich auf die Zehenspitzen stellen, um sie zu erreichen.
Die schweren Vorhänge waren aufgezogen und die wärmende Sonne durchflutete den Raum. Es war einer dieser Frühsommertage, an die sie sich so gerne erinnerte. Und sie schaute zur Decke empor und betrachtete fasziniert die Stuckaturen.
Die Ornamente, Muscheln, Rosetten und die Engel. Ja, die pausbäckigen Engel hatten es ihr besonders angetan. Sie sahen aus, als seien sie geschminkt. Sie lächelten. Strahlten unbändige Freude aus. Manchmal glaubte Hanna, sie juchzen zu hören. Und sie hatten so gar nichts gemein mit den großen, steinernen Engeln, die Hanna vom Friedhof her kannte und die so erhaben und ernst auf sie herabsahen. Sie fürchtete sich vor ihnen und traute sich kaum, sie anzuschauen.
Er wusste das. Er blickte dann jedes Mal zu ihr hinunter, lächelte und drückte zart ihre Hand, die in seiner lag und die sie in solchen Momenten nicht loslassen wollte.
Dieser Moment wiederholte sich einmal im Jahr. Immer am 15. April. Alles in ihr wehrte sich dagegen. Sträubte sich. Am liebsten wäre sie an diesen Tagen im Bett geblieben. Sie hätte vorgeben können, krank zu sein. Er hätte sie nicht gezwungen, da war sie sich sicher. Jedoch spürte sie trotz ihrer Kindlichkeit, dass es ihm wichtig war. Und sie wollte ihn nicht enttäuschen. Nein, es war nicht so, dass sie dieses Datum hasste – sie war nicht in der Lage, zu hassen. Es entsprach nicht ihrem Naturell. Nein, Hanna verstand nicht, warum. Warum musste sie an diesen kalten Ort?
Vehement schüttelte sie den Kopf. Nein, nicht diese Erinnerungen! Wo es doch so viele schöne gab! Bedeutsame! Und die hatten mit dem Hier zu tun. Hier fühlte sie sich geborgen. Hier hatte sie ihre Zuflucht gefunden. In dieser Villa aus der Gründerzeit, die seit drei Generationen im Familienbesitz war, war sie seit drei Jahren zu Hause. Sie war acht und kannte jeden Winkel des stattlichen Gebäudes. Jedenfalls glaubte sie das damals. Und der Garten war ihr Abenteuerland. Einen nicht unerheblichen Teil der riesigen Anlage ließ er verwildern. Weil Hanna es so wollte. Und er hatte seinen Gärtner angewiesen, dass es wuchern und wachsen sollte.
Egal ob Winter oder Sommer, sie ging jeden Tag auf Entdeckungsreise. Kinderlachen. Er hatte nie etwas dagegen gehabt, dass sie Spielkameraden zu sich einlud. Auch an diesem verregneten Sonntagnachmittag im Juni 1996 hatte sie ihre zwei besten Freunde, Lara und Benny, zu Besuch. Wie so oft wurde der Garten zum tropischen Regenwald, und die Expedition war bereits im vollen Gang, als sie auf einen vom letzten Herbststurm gebeutelten, schräg stehenden Apfelbaum kletterte. Sie war schon auf halber Höhe, da passierte es: Sie rutschte auf der glitschigen Rinde ab und fiel zu Boden. Dabei bohrte sich ein spitzer Ast in ihr Bein. Benny lief sofort los, um ihn zu Hilfe zu holen. Hanna hörte ihn schon von Weitem rufen. Als sie ihn sah, bleich das Gesicht, die schwarzen Haare klebten ihm am Kopf, erschrak sie, trotz ihrer Schmerzen. Nein, so aufgewühlt hatte sie ihn noch nie gesehen. Mit sorgenvoller Miene trug er sie schnellen Schrittes ins Haus, legte sie nass und verdreckt, wie sie war, auf das cremefarbige Ledersofa und rief den Arzt. Seitdem hatte sie die Narbe auf ihrem rechten Oberschenkel.
Ein Räuspern ließ sie zusammenfahren und riss sie aus ihren Kindheitserinnerungen.
»Du solltest hineingehen«, sprach die sonore Stimme dicht hinter ihr. »Ihm bleibt nicht mehr allzu viel Zeit. Der Herr wird ihn schon bald zu sich holen. Er hat bereits ein paar Mal nach dir gefragt. Er will dich sehen, will, dass du …« Die Stimme brach ab. Der Satz blieb unvollendet. Sie konnte seinen Atem im Nacken spüren. Und ein kalter Schauer kroch ihr über den Rücken. Hanna brauchte sich nicht umzudrehen; sie wusste, wer hinter ihr stand. Für wenige Sekunden schloss sie die Augen und ließ das Gesagte im Raume stehen. Antwortete nicht. Hanna schmeckte das Salz der Tränen auf ihrer Zunge, als sie sich damit über die Lippen fuhr. Dann drückte sie die Klinke hinunter und öffnete entschlossen die Tür.
Im Zimmer war es warm. Ein Hauch von Old Spice hing in der Luft. Sein Aftershave. Obwohl die Vorhänge zurückgezogen waren, lag das Schlafzimmer im Halbdunkeln. Es war kurz vor 13:00 Uhr. Der Tag draußen war grau und trist. Januargrau.
Sie setzte einen Fuß über die Schwelle und blieb dann stehen. Keine Geräte. Gott sei Dank! Man hatte seinem Wunsch, nein, seiner Anordnung entsprochen. Wie hatte er immer gesagt? Wenn es mal so weit sein sollte, dann lasst mich in Würde sterben! Ich will keinen Technik-Schnickschnack, der mein Leben künstlich verlängert. Letztendlich entscheidet alleine mein Herz darüber, wann der Zeitpunkt gekommen ist, das Schlagen einzustellen! Dem Tod begegnet man mit Anstand und Respekt! Es gehört zum Leben dazu, dass man den Tod anerkennt.
Ihr Blick heftete sich an das Bett. Es war circa fünf Meter von ihr entfernt. Weiße Bettwäsche. So wie immer. Er könne nur in weißer Bettwäsche schlafen, hatte er ihr einmal scherzhaft erzählt. Sie sah die Umrisse. Seine Umrisse. Er musste es sein.
Mit Anstrengung zwang sie sich, ihre Schritte zu verlangsamen. Durch all ihren Schmerz fühlte sie, dass sie ruhig bleiben musste. Er mochte es nicht, wenn man sich gehen ließ.
Sie trat an das Bett. Auch wenn er ihr plötzlich viel kleiner, schmaler vorkam, so war er es doch. Der Kopf schien ebenfalls geschrumpft zu sein. Sein offener Mund zeigte zur Zimmerdecke.
Hanna hörte ein leises Röcheln. Sicher schlief er. Es war das erste Mal, dass sie auf ihn herabsah. Da lag der Mann, den sie ihr Leben lang bewundert hatte.
Seine Haut spannte sich über den Wangenknochen, und die geschlossenen Augen lagen tief in ihren Höhlen. Die schmalen Lippen waren blass, so als wäre ihnen alles Blut entzogen worden. Sie erkannte ihn kaum noch wieder. Grausam. Grausam, wie schnell ein Körper verging. Wie er abbaute. Einfach verschwand. Und damit auch das, was einen Menschen ausgemacht hat. Nein, da war nichts mehr übrig von dieser Entschlossenheit. Dieser kämpferischen Ausstrahlung, der Aura, die ihn umgab und der man sich nur schwerlich entziehen konnte.
Einen Augenblick stand sie regungslos da, durchdrungen von der vernichtenden Hoffnungslosigkeit des herannahenden Verlustes. Hanna verbarg ihr Gesicht in beide Hände und weinte. Lautlos. Und mit einem Mal kam die Müdigkeit. Die Auswirkungen des Jetlags ließen sich nicht länger unterdrücken. Was hatte sie erwartet? Sie war auf einer Auslandsreise gewesen, als sie die Nachricht erhielt. Vor gerade mal sieben Wochen war sie aufgebrochen, dabei waren drei Monate geplant gewesen. Es hatte sie unvorbereitet getroffen. Auch wenn er mit seinen einundachtzig gewiss kein junger Mann mehr war, so hatte sich das Ende nicht angekündigt. Er strotzte vor Vitalität. Sie kannte ihn nur so.
In ihrer Erinnerung war er nie krank. Er besaß eine körperliche Fitness, die man einem zwanzig Jahre jüngeren Menschen hätte zuschreiben können. Hanna hatte seinen wachen Verstand, der sich in seinen klaren, blauen Augen widerspiegelte, immer bewundert. Seine große Nase verlieh ihm etwas Aristokratisches.
Vielleicht hatte sie die Anzeichen auch nicht sehen wollen. Er hatte sie darauf gedrängt, die Niederlassung in Guatemala zu besuchen. Sie sollte sich wohl schon mal mit dem Gedanken vertraut machen, dass sie in absehbarer Zukunft die Geschäfte zu leiten hatte. Da duldete er keinen Widerspruch. Sie hätte ihm auch nicht widersprochen. Dafür hatte sie ihm zu viel zu verdanken.
Gedankenverloren setzte sie sich auf den Polsterstuhl, rückte damit etwas näher ans Bett und nahm seine knöchrige Hand. Was sollte nun werden? Er würde sterben, das war traurige Gewissheit. Kaum dass sie in Deutschland gelandet war, hatte sie am Frankfurter Flughafen mit dem behandelnden Arzt telefoniert, einem langjährigen Freund der Familie. Diagnose: Lungenkrebs im Endstadium.
Es war schon eine bittere Ironie des Schicksals, dass ein Mann wie er, der nie geraucht hatte, nun von dieser furchtbaren Krankheit getötet wurde. Ein Gesundheitsfanatiker. Hatte er es gespürt? Möglich. Er, der immer betont hatte, wie gut er mit seinem Körper im Kontakt war. Körper und Geist bildeten für ihn eine Einheit. Und er alleine trug die Verantwortung dafür, dass beides auch im Einklang bliebe. Das war seine Überzeugung. Sein Lebensmotto.
Keine Maßlosigkeiten. Keine Exzesse. Er verachtete Menschen, die dickleibig waren. Oder Menschen, die übermäßig Alkohol konsumierten. Für ihn Zeichen von Schwäche. Mit dieser Einstellung hatte er schon so manchen brutal vor den Kopf gestoßen. Nein, Diplomatie war seine Stärke nie gewesen.
Aber er konnte auch sehr liebevoll und fürsorglich sein. Ihre Eltern waren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, da war sie fünf Jahre alt gewesen. Es war seine Tochter, die in den Flammen starb. Er hatte es nie verwunden, dass er nicht verhindert hatte, dass sein geliebtes Kind den Mann, der ihr Vater war, geheiratet hatte.
Ronald Schwab, ihr Großvater, erfolgreicher Pharmaunternehmer, hatte seinen Schwiegersohn bis aufs Blut gehasst. Das war offensichtlich, auch wenn er nie mit ihr über seine Beweggründe gesprochen hatte.
Gab er ihm die Schuld am Tod seiner Tochter? Dabei hatte sie hinter dem Lenkrad gesessen! Hanna kannte den Polizeibericht – den hatte der Großvater ihr gezeigt, aber erst, nachdem sie ihn im Erwachsenenalter wiederholt und eindringlich danach gefragt hatte.
Der Unfall geschah am 9. April auf der A 50 in Südfrankreich, fünfzehn Kilometer vor Marseille. Laut Bericht kam der Sportwagen ihrer Mutter um circa 16:30 Uhr von der regennassen Fahrbahn ab und prallte frontal gegen einen Baum. Sie war sofort tot. Weiter sagte der Obduktionsbericht aus, dass ihre Mutter 1,8 Promille Alkohol im Blut hatte. Der Vater soll auf dem Beifahrersitz gesessen haben. Er war nicht angeschnallt gewesen, wurde durch die Wucht des Aufpralls aus dem Wagen geschleudert und verstarb noch an der Unfallstelle. Schädelbruch. Neben dem ausgebrannten Autowrack fand die Polizei eine leere Rotweinflasche. Hanna war an diesem 9. April bei ihren Großeltern in Aubagne, keine zehn Kilometer von der Unfallstelle entfernt. Die Leichname wurden nach Deutschland überführt und am 15. April in Bonn beigesetzt.
Ronald und Gertrud Schwab besaßen in der Provence-Alpes-Côte d’Azur ein Landhaus. Hannas Großmutter war damals schon unheilbar an Leukämie erkrankt und starb ein halbes Jahr später.
Hanna beugte sich etwas nach vorn, strich ihrem Großvater über die eingefallenen Wangen. Strich sanft über die feucht-kalte Stirn. Ein, zwei Mal. Dann legte sie ihre Hand auf seine Brust. Was wäre ohne ihm aus ihr geworden? Alles, was sie heute war, verdankte sie diesem Mann. Seiner liebevollen Führung …
Nach dem Einser-Abitur studierte sie an der TU München Chemie. Hanna hatte die Zusage für Harvard in der Tasche gehabt. Aber das kam für sie nicht infrage, hätte es doch bedeutet, ihn für eine längere Zeit zu verlassen. Nicht in seiner Nähe zu sein. Er hatte versucht, sie zu überzeugen, das Angebot anzunehmen. Erfolglos. Nein, Amerika war zu weit weg von Bad Godesberg. Zu weit weg von der Rheinallee. Zu weit weg von ihm.
»Schick den Priester raus!«
Hastig zog sie die Hand weg. Die heisere Stimme, die plötzlich die Stille durchschnitt, hatte sie überrascht. Ja erschrocken. Der alte Mann hielt die Augen geschlossen, doch seine farblosen Lippen wiederholten den Befehl.
»Hanna, hörst du«, zischte er, und in seinem Ton lag die Schärfe vergangener Zeit. »Schick den Pfaffen raus!« Hanna wandte sich um. Sie sah den groß gewachsenen Mann in der Soutane, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, regungslos am Fenster stehen. In seiner Miene konnte sie keine Reaktion ablesen. Noch bevor sie etwas sagen konnte, nickte der Priester ihr kurz zu und wendete sich dann ab, um mit lautlosen Schritten den Raum zu verlassen.
»Ist er fort?«
Hanna bejahte mit leiser, gepresster Stimme.
»Gut«, sagte ihr Großvater und deutete mit einem schwachen Fingerzeig an, dass sie näherkommen sollte. Sie beugte sich zu ihm hin, bis sie seinen fiebrigen Atem auf ihrem Gesicht spürte.
»Ich habe getötet!«, hörte sie den alten Mann sagen. Seine Stimme – für einen Moment fest und klar. Doch verstand sie nicht, was er sagte.
»Ich habe getötet«, wiederholte er und schlug die Augen auf. Er drehte den Kopf und blickte sie an. »Ja, Hanna, ich habe getötet. Ich habe Menschen getötet!«
Und?«
»Er ist wieder in seinen Dämmerzustand zurückgefallen. Der Arzt ist bei ihm.«
»Das meine ich nicht! Hat der Alte mit ihr gesprochen?«
»Ja, sie weiß es. Er hat es ihr gebeichtet.«
»Woher weißt du das?«
»Sie hat es mir gesagt.«
»Verflucht!«
»Mäßige dich!«
»Dieser starrsinnige alte Mann! Mit seiner sogenannten Beichte hat er unsere Zukunft aufs Spiel gesetzt.«
»Beruhige dich! Wir müssen jetzt einen kühlen Kopf behalten. Alles Wehklagen hilft da nichts!«
»Das passt zu ihm! So war er doch sein ganzes Leben lang. Erst kommt er, und dann kommt lange nichts … nein, er hat noch nie Rücksicht genommen. Und jetzt, kurz vor seinem Ableben, will er sich noch rasch erleichtern und bricht uns damit das Genick. Konnte er diese alte Geschichte nicht mit ins Grab nehmen? Sie wird uns alle hochgehen lassen. Man wird uns alles nehmen!«
»Du dramatisierst. Sie …«
»Ach ja? Na, wenn du meinst! Du kennst sie ja besser. Und, wie hat sie reagiert?«
»Sie war natürlich erschüttert.«
»Verständlich. Das arme Püppchen. Das passt so gar nicht in ihr verklärtes Opa-Bild. Was denkst du, wird sie tun? Die Polizei einschalten?«
»Nein, wohl eher nicht. Sie wird das Ansehen ihres geliebten Großvaters nicht beschmutzen wollen. Sie hat vor, einen Privatdetektiv zu beauftragen.«
»Einen Privatdetektiv?«
»Ja.«
»Wozu?«
»Um ihn mit der Suche zu beauftragen, bevor es von anderer Stelle veranlasst wird.«
»Und? Eventuell verläuft das Ganze im Sande und niemand wird gefunden. Besser wäre es, die Füße stillzuhalten. Sie macht doch alles nur noch komplizierter.«
»Vielleicht tut sie es auch, um eine alte, schlimme Schuld zu begleichen. Vielleicht geht es ihr um Gerechtigkeit. Vielleicht zeigt sie uns auch, dass sie ein Gewissen besitzt – im Gegensatz zu uns.«
»Was?«
»Ja, Hanna will die Nachkommen am Erbe teilhaben lassen. Will dafür sorgen, dass sie das bekommen, was ihnen zusteht.«
»Wie bitte? Was glaubt sie, wer sie ist? Eine Heilige?«
»Was regst du dich so auf? Das ist doch eine sehr …«
»Humane Geste etwa? Ha, dass ich nicht lache! Als ob Geld etwas ungeschehen machen könnte.«
»Es geht doch nicht darum, etwas ungeschehen zu machen. Es geht darum, Gerechtigkeit walten zu lassen.«
»Ach, bleib mir weg damit! Verschon mich mit dieser Gutmensch-Attitüde! Im Haus von Ronald Schwab ist es noch nie um Gerechtigkeit gegangen. Wenn, dann nur um das, was er darunter verstand! Er war Richter und Henker in Personalunion. Das weißt du doch am allerbesten. Wie hat er gerade dich behandelt? Hör mir doch auf! Hanna wurde dir … uns doch immer vorgezogen. Oder etwa nicht? Nein, er war kein guter Mensch.«
»Halt dich zurück! Bitte! Er liegt im Sterben, aber er ist noch nicht tot!«
»Kann man die Kleine davon abhalten?«
»Bitte?«
»Na, diese bescheuerte Idee mit dem Privatschnüffler. Kann man ihr das ausreden?«
»Ich wüsste nicht, wie.«
»Aber ich: Ihr muss klargemacht werden, dass der Detektiv zur Polizei gehen wird, sobald er von der Mordbeichte erfahren hat. Dazu ist er verpflichtet. Mord verjährt nicht. Und dann haben wir den Schlamassel!«
»Für wie dumm hältst du Hanna? Natürlich wird sie dem Privatdetektiv nichts vom Mordgeständnis erzählen. Ich wiederhole mich – sie wird ihn lediglich mit der Suche der Personen beauftragen, die rechtlich gesehen einen Teilanspruch auf das Erbe haben. Schließlich sind deren verstorbene Erzeuger maßgeblich am Erfolg des Unternehmens beteiligt.«
»Ha, ›verstorben‹ ist gut! Warum sprichst du es nicht aus? Warum stellst du dich nach wie vor hinter den Alten? Fürchtest du ihn immer noch so sehr? Er allein trägt die Schuld an dem, was damals passiert ist. Ihm klebt das Blut an den Fingern.«
»Du solltest dich mit solchen Äußerungen zurückhalten. Du hast dich selbst viel zu oft schuldig gemacht.«
30. Januar, 8:30 Uhr
Der Hexenturm an der Bergstraße zum Michaelsberg war weiträumig abgesperrt worden. Polizisten in Uniform sorgten dafür, dass keiner der Schaulustigen das rot-weiße Flatterband ignorierte und den Tatort betrat. Personen in weißen Overalls knieten am Boden, während Journalisten und Fotografen etwas abseits stehend auf ihren Einsatz warteten. Polizeihauptkommissar Denis Fährenborg blickte mürrisch auf den gekrümmten Körper, der unmittelbar vor seinen Füßen lag, und zog scharf die Luft ein.
Mein Gott, was für eine Schweinerei! Er strich über sein hageres Kinn und kniff die Augen zusammen. Und so etwas in seiner Stadt! Das wird Wellen schlagen.
Er sah die Schlagzeile schon vor sich – schwarz und rot: ›Mord am Hexenturm!‹ ›Wie sicher ist das Leben in Siegburg? Kann die Polizei seine Bürger noch schützen?‹
Schweigend betrachtete er die leblose Person, und wieder einmal ertappte sich Fährenborg dabei, wie er seinen Beruf innerlich verfluchte. Ein Knirschen hinter ihm ließ den Kommissar herumfahren.
»Man hat den armen Kerl regelrecht unkenntlich geschlagen!«
Der Mann neben ihm, Pathologe Felix Schänzer, fuhr sich durch sein langes Haar, was ihm einen missbilligenden Augenaufschlag von Fährenborg einbrachte.
»Tatwaffe?«, fragte Fährenborg knurrend, wobei er sich versicherte, dass seine Mütze noch akkurat auf dem fast kahlen Kopf saß. Ohne den Blick von der Leiche abzuwenden, antwortete der Pathologe: »Ich vermute, ein harter Gegenstand aus Holz. Höchstwahrscheinlich ein Baseballschläger.«
»Ist er hier zu Tode gekommen?«
»Nahe liegend. Die große Menge Blut deutet darauf hin. Man hat ihm den Schädel eingeschlagen, da fließt immer viel …«
»Ja, ja, nahe liegend!«, sagte Fährenborg mit einem herablassenden Nicken in Schänzers Richtung und schickte sogleich die nächste Frage hinterher: »Todeszeitpunkt?«
»Kann ich noch nicht genau sagen.« Lakonisch zuckte der Pathologe mit den Schultern. »Ich schätze, so vor sechs, sieben Stunden. Die Luft ist kalt und lässt den Körper schnell auskühlen. Wenn ich ihn auf meinem Tisch habe, werde ich ihn fragen.« Mit dieser Aussage hob der Doktor seinen Arm, drehte sich um und ließ den Kommissar stehen.
Kopfschüttelnd starrte Fährenborg dem Rechtsmediziner hinterher, der nun mit raschen Schritten zu seinem Wagen ging, einem schwarzen Jeep mit einem großen Batman-Logo auf der Motorhaube. Er starrte auch noch, als dieser sich seines Overalls entledigte, einstieg und davonfuhr. Fährenborg mochte den Doktor nicht – konnte seinem, wie er fand, kruden Humor nichts abgewinnen.
»Wer hat den Toten gefunden?«, rief der Kommissar dem Uniformierten zu, der am nächsten zu ihm stand.
»Eine Joggerin«, antwortete der junge Polizist. »Sie erlitt einen Schock und wird gerade ärztlich versorgt.« Er zeigte mit dem Finger auf den Rettungswagen rechts von ihm. Fährenborg hob das Kinn, eine Geste, die als Befehl aufgefasst werden konnte.
»Personalien aufnehmen!«, ergänzte er knapp, wandte sich wieder dem Toten zu und zog ein Paar Latexhandschuhe aus seinem Parka. Seine Kieferknochen arbeiteten, als er sich die Handschuhe überstreifte. Er ging in die Hocke und betrachtete den leblosen Körper für einen Moment. Soweit er erkennen konnte, war der Tote Mitteleuropäer. Circa 185 Zentimeter groß und von schlanker Statur. Zwischen dreißig und vierzig Jahre alt. Das Opfer war mit einem beigen Lederblouson bekleidet. Etwas zu dünn für diese Jahreszeit, befand Fährenborg. Zudem trug er eine schwarze Jeans und schwarze Sneakers. Unter der Jacke erkannte der Kommissar einen dunkelblauen Rollkragenpullover. Sachte zog er den Reißverschluss herunter, griff in die Seitentasche des Blousons und beförderte ein Portemonnaie zutage. Es befand sich kein Geld darin. Aber Fährenborg entdeckte die Karten und den Personalausweis. Er nickte grimmig.
»Gleich werde ich wissen, wer du bist!«, flüsterte der Kommissar, während er mit spitzen Fingern die Karte mit der Aufschrift BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND herauszog. Unmittelbar danach wurde das Foto darauf sichtbar, und zeitgleich traf es Fährenborg wie ein harter Faustschlag in die Magengrube. Augenblicklich ließ er den Pass fallen, so als hielte er glühende Kohlen in der Hand. Er kannte diesen Mann! Kannte ihn gut!
»Degen.« Der Kriminaloberkommissar stellte seine Kaffeetasse auf dem Schreibtisch ab und horchte in den Hörer. Nichts. Er versuchte es noch einmal, diesmal mit etwas mehr Nachdruck.
»Degen!« Er streckte den Rücken durch und verzog die Mundwinkel. Es rauschte zwar, aber niemand antwortete. Im Geiste hatte Jo Degen sich schon vom Telefon verabschiedet, als er endlich die Stimme hörte: »Hal… Jo … ich bin’s, Denis …«
»Denis, hi! Die Verbindung ist ganz miserabel …«
»Warte, ich … geh … mal ein paar … Schritte! Wie … ist es … jetzt? Bes… …ser?«
»Nicht wirklich!«
»Mo… …ment!«
Degen schmunzelte. Er sah seinen Kollegen direkt vor sich, wie er staksend versuchte, irgendwo in der Pampa aus dem Funkloch zu kommen.
»Und jetzt? Kannst du mich jetzt besser verstehen?«
Degen zuckte augenblicklich zusammen und nahm jäh den Hörer vom Ohr.
»Du musst nicht schreien!«, stöhnte er auf. »Sag mal, wo bist du? In Sibirien?«
»Nein, in Siegburg. An einem Tatort.« Fährenborgs Tonfall veränderte sich schlagartig. »Ich hab hier einen Toten, den solltest du dir ansehen.«
»Ähm, du weißt schon, dass ich hier im Polizeipräsidium in Köln sitze und der Rhein-Sieg-Kreis außerhalb meiner Zuständigkeit liegt. Weit außerhalb.«
Auch wenn das Lächeln auf Degens Gesicht blieb, so ließ ihn ein inneres, unbestimmtes Gefühl aufhorchen.
»Denis? Bist du noch dran?«
Die Antwort kam zögerlich: »Komm her! Der Tote …«
Fährenborg brach ab und Degen riss der Geduldsfaden.
»Was ist mit dem Toten?«, bellte er unbeherrscht in den Hörer. »Tu mir den Gefallen und mach es nicht so spannend!«
Wieder brauchte Fährenborg einige Sekunden, bevor er stockend erklärte: »Laut Personalausweis, den er bei sich hatte … handelt es sich um … Lou!«
Degen drückte sich das Mobiltelefon fest ans Ohr.
»Lou, geh ran! Verflucht!«, presste er leise zwischen den Zähnen hervor. Mailbox. Verdammt! Der Kommissar hatte es schon auf dem Festnetz versucht, doch da sprang auch nur der Anrufbeantworter an.
»Lou, wo bist du?«, seine Stimme überschlug sich fast. »Ruf mich an, sobald du das hörst! Hast du verstanden? Ruf auf der Stelle zurück!« Degen sprang aus dem Bürosessel, griff nach seiner Jacke und verstaute das Handy. Ohne sich abzumelden, verließ er das Gebäude und saß keine zehn Minuten später in seinem Auto. Degen zwang sich zur Ruhe. Dass das Opfer den Personalausweis seines Freundes bei sich trug, bedeutete nicht zwangsläufig, dass es sich bei dem Toten um Lou handeln musste.
Er lenkte den anthrazitfarbenen 3er-BMW rechts auf den Walter-Pauli-Ring und sah sie schon von Weitem die dicht befahrene Straße überqueren. Mehr stürzend als laufend, sich gegenseitig festhaltend, grölten die vier Eisbären etwas von Karawane und Sultan.
Verdrossen schaute Degen auf die Uhr und schüttelte den Kopf. Kurz nach neun und bereits sternhagelvoll. Nur noch gut eine Woche bis Weiberfastnacht. Dann brach über Köln wieder der Ausnahmezustand herein.
Degen hatte nichts am Hut mit den tollen Tagen, auch wenn er hier geboren war. Fastelovend bedeutete für die meisten seiner uniformierten Kolleginnen und Kollegen, weitere Überstunden und noch mehr üble Pöbeleien als üblich zu ertragen. Karneval war für die Polizei eine gefährliche Zeit und für Degen der pure Horror.
Der Kommissar fuhr auf die A 3, beschleunigte, zog den Wagen auf die linke Spur und ließ die anderen Fahrzeuge hinter sich. Fließender Verkehr, eine wahre Seltenheit um diese Uhrzeit. Es begann zu nieseln. Automatisch glitten die Wischblätter über die Frontscheibe. Der Regen wurde stärker. Am Himmel formierte sich eine dunkle Wolkenbank, und der Wind nahm zu. Das monotone Geräusch der Scheibenwischer lullte ihn ein, und ohne dass er es wollte, kamen die Bilder. Grauenvolle Bilder! Und ohne dass er sich hätte dagegen wehren können, wurden es mehr. Strömten auf ihn ein. Ja, sie fielen regelrecht über ihn her. Parker! Er sah seinen Freund mit eingeschlagenem Schädel zwischen vermodertem Laub und Unrat auf dem Boden liegen. Sogleich sträubten sich ihm die Nackenhaare, und das Rumoren in der Magengegend nahm rapide zu. Dann tauchte plötzlich Alexandra auf, die tränenüberströmt an Lous Grab stand. Gab sie ihm die Schuld an seinem Tod? Unwirsch schüttelte der Kommissar den Kopf.
»Scheiße, Lou!«, ächzte er und rieb sich dabei über die Augen. »Du kannst dich doch jetzt nicht so einfach aus dem Staub …« Die Tachonadel des BMW zeigte 160 km/h, als ein verbeulter Kleinwagen ohne zu blinken und ohne erkennbaren Grund die Spur wechselte und sich vor ihn setzte. Degen stieg abrupt in die Eisen und stieß einen Fluch aus: »Hey! Was soll das jetzt! Verdammt noch mal!« Er bremste den Wagen bis auf 100 km/h herunter und klebte beinah an der Stoßstange des Vordermanns. Dieser blieb stoisch bei seiner Geschwindigkeit und machte keine Anstalten, Platz zu machen.
Degen spürte, wie sich der kalte Schweiß auf seiner Stirn sammelte. Spürte, wie sich das Gefühl in seinem Bauch ausbreitete. Wut! Eine Wut, die unkontrollierbar zu werden drohte. Im Geiste sah sich Degen auf die Mittelspur wechseln, neben die Schrottkarre fahren … Ein rascher Blick in den Innenspiegel und der Kommissar bremste ein weiteres Mal hart ab. Der Abstand zu dem Kleinwagen vergrößerte sich. Degen stöhnte laut auf.
»Reiß dich zusammen, verflucht noch eins!« Er schaute in den Außenspiegel, betätigte den Blinker und lenkte den BMW auf die ganz rechte Spur.
»Du benimmst dich wie der letzte Honk!«, schalt er sich, während er das Radio anmachte in der Hoffnung, dadurch auf andere Gedanken zu kommen.
›Ein Hoch auf uns … auf dieses Leben …‹ NEIN! Alles, bloß das jetzt nicht! Degens Hand schnellte vor, sein Finger drückte auf das CD-Symbol und AC/DC hämmerte ihm ›Highway To Hell‹ um die Ohren.
Schief grinsend drehte er die Lautstärke hoch. Besser!
›Mensch Lou, tu mir das nicht an! Wie soll ich das denn deiner Alex beibringen? Und deiner Mutter? Und Watson? Wenn du glaubst, ich nähme deinen fetten Kater bei mir auf, dann hast du dich aber … ach, Scheiße!‹
Degen wischte sich über die Augen. Parker und er – ein Team! Eine Freundschaft! Sie kannten sich seit der gemeinsamen Zeit an der Polizei-Hochschule. Fast zwanzig Jahre war das jetzt her. Was war das für ein Leben damals! Ungebunden und frei. So hatten sie sich jedenfalls gefühlt. Zwei Studenten, die voller Energie waren! Pure Lebensfreude! Es gab so gut wie keinen Abend, an dem sie nicht gemeinsam um die Häuser gezogen wären. Das Kölner Quartier Lateng und die Kölner Südstadt nannten sie ihre Weide. Und nicht selten saßen sie morgens mit einem Schädel und kleinen Augen in der Vorlesung und hielten sich gegenseitig davon ab, einzuschlafen. Obwohl die beiden Freunde in vielen Punkten unterschiedlicher nicht sein konnten, waren sie doch sehr davon überzeugt, die Welt ein bisschen besser machen zu können. Genau aus diesem Grund waren sie Polizisten geworden.
Zugegeben: ein – aus heutiger Sicht – verklärter Blick auf die Polizeiarbeit. Sie waren jung, noch keine zwanzig, und voller Ideale. Ja, und Parker war schon immer der vermeintlich leichtlebigere, risikobereitere von ihnen beiden. Und das blieb er auch, als sie zusammen den Dienst antraten. Sie waren beide im Rang eines Kommissars unterwegs, beide bei der Kriminalpolizei. Zuständig für den Bereich Prostitution, Menschenhandel und Drogendelikte. Beileibe keine leichte Zeit, besonders zu Beginn einer Laufbahn.
Jetzt waren sie also nicht nur Freunde, sondern auch Kollegen, denen häufig ein Fall zugewiesen wurde. Dies führte manches Mal zu Konflikten zwischen ihnen, was unter anderem daran lag, dass es Parker nicht immer so genau nahm mit den Dienstvorschriften. Doch er war ein guter Ermittler, ein sehr guter sogar. Degen hatte ihn dafür bewundert, dass er so ein feines Gespür hatte. Sein Freund konnte jedem Terrier das Wasser reichen. Hatte Parker sich einmal in einen Fall festgebissen, so ließ er sich auch nicht von einem Vorgesetzten zurückpfeifen. Er hatte schon immer seinen eigenen Kopf und, ja man konnte sagen: ein Problem mit Autoritäten. Nein, sein Freund besaß weiß Gott kein diplomatisches Geschick, dafür aber einen renitenten Widerspruchsgeist. Und er trat so einigen Verbrechern erheblich auf die Füße. Dabei war es ihm egal, ob es sich um einen kleinen Zuhälter handelte oder um einen Kommunalpolitiker. Auf Posten und Ansehen pfiff Parker schon aus Prinzip. Dickköpfig und fast schon zwanghaft. Und diese Sturheit brach ihm vor gut sechs Jahren das berufliche Genick. Und es hätte noch schlimmer kommen können: Ohne das Eingreifen von Katharina Gemma, die im Rotlichtmilieu ehrfürchtig »Die schwarze Witwe vom Eigelstein« genannt wurde, wäre Parker beiseitegeschafft worden. Man hatte ihn unter einem Vorwand nachts aus dem Haus geholt. Hatte ihn vor seiner Tür abgefangen, zusammengeschlagen und unter Drogen gesetzt.
Die Handlanger legten ihn unter das Eigelsteintor, wo ihn Katharinas Leibwächter mehr tot als lebendig fanden und von dort aus ins Krankenhaus brachten. Parker verlor seinen Job, weil man eine größere Menge Kokain in seiner Jacke fand. Er konnte nicht beweisen, dass ihm der Stoff zugesteckt worden war. Zudem gab es die Aussage eines polizeibekannten Dealers, Parker habe regelmäßig Drogen bei ihm gekauft. Und das alles, weil Parker gegen einige Honoratioren der Gesellschaft wegen Kinderpornografie ermittelt hatte. Bis heute war sein Freund hinter den Leuten her, die ihm damals die Falle gestellt hatten. Degen hatte Parker mehr als einmal davor gewarnt, auf eigene Faust zu ermitteln.
›Diese Szene ist ein Wespennest! Das weißt du besser als ich. Und die halten alle zusammen. Hör auf, weiter darin herumzustochern – das bringt nichts! Außer dich in Gefahr. Mensch, Lou, du bist mit einem blauen Auge davongekommen. Du hattest Glück! Fordere dein Schicksal nicht noch weiter heraus. Die haben dich auf der Liste! Vergiss nicht, die haben dir schon mal einen Profikiller geschickt. Kümmere dich um deine betrogenen Ehefrauen und überlass uns den Job!‹ Degen hatte mit Engelszungen auf seinen Freund eingeredet. Aber er kannte Parker. Ein hoffnungsloser Fall. Ein Besessener. Und jetzt war er unterwegs, um ihn in einem Kühlraum zu identifizieren.
›Nein verdammt! Lou ist nicht tot! Und ich werde mich davon überzeugen, werde ihm einen Besuch abstatten. Werde einfach zu ihm nach Hause fahren. Klingeln. Unangemeldet. So wie das Freunde nun mal tun, wenn sie in der Gegend sind. Scheiß was auf die Pathologie!‹ Fünfundzwanzig Minuten später stellte Degen seinen Wagen in einer der Parkbuchten in der Herrengartenstraße ab. Siegburg. Die Stadt, in die sein bester Kumpel vor gut einem Jahr von Köln hergezogen war. Degens Magenrumoren verstärkte sich um ein Vielfaches, als er den BMW verließ und geradewegs auf das Gründerzeithaus in der Mühlenstraße zusteuerte.