Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
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Um den Urlaubsschein zu bekommen, muss der Gefreite Josef Brosik nur noch ins Krankenrevier und sich den Vermerk »Keine ansteckenden Krankheiten, ungezieferfrei« auf dem Laufzettel eintragen lassen.
»Fühlen Sie sich krank?«
»Nein, Herr Oberarzt. Kerngesund.«
»Juckt’s wo?«
»Auch nicht, Herr Oberarzt.«
Der Arzt schreibt schon und fragt so nebenbei: »Wo sind Sie zu Hause?«
»In Brüx, Herr Oberarzt, im Sudetenland«, fügt Brosik erklärend hinzu.
»Ach, ja! Braunkohlenpott«, nickt der Oberarzt und reicht ihm den unterschriebenen Laufzettel. »Dann viel Spaß daheim.«
»Danke, Herr Oberarzt.«
Jetzt hat Brosik alles beisammen. Nur der Urlaubsschein, das Wichtigste, fehlt noch.
Er rennt hinaus, zieht den Kopf ein und läuft über den mit Regenpfützen bedeckten Antreteplatz zur Kompaniebaracke hinüber.
Was ist das doch für ein scheußliches Wetter! Richtige Allerseelenstimmung! Regen, kalter Wind, der von der Kanalküste herüberfegt und die Nässe gegen die geteerten Barackenwände klatscht.
Die Schreibstube. Verqualmt. Es riecht nach Kognak, weil es heute Marketenderwaren gegeben hat. Für jeden Mann eine Flasche Sekt und Kognak, Zigaretten und noch allerhand Zeug. Die Schreibstubenhengste haben knallrote Gesichter und verschwiemelte Äuglein.
Brosik grüßt und legt den Laufzettel auf die Barriere. »Alles beisammen, Herr Unteroffizier. Kann ich jetzt den Urlaubsschein kriegen? Mein Zug fährt um sechs Uhr zwo.«
Warum grinst der Mayerhofer so? Und jetzt beugt er sich herüber.
»Wird leider nischt draus, Brosik. Sie werden noch heute in Marsch gesetzt. Empfangen Sie sofort auf der Kammer die Klamotten. Winterklamotten. Sie und neun Mann werden zu einer Division im Osten versetzt. Der Chef verabschiedet euch um …« – Mayerhofer schaut auf die Armbanduhr, unterdrückt einen Rülpser – »um Punkt drei Uhr in der Kantine.«
Brosik ist es, als habe man ihm einen Sandsack auf den Kopf geschlagen. In die Knie ist ein Zittern gerutscht.
»Aber … das ist doch …«, stottert er.
»Das ist ’n Regimentsbefehl«, sagt Mayerhofer. »Nischt zu machen, Brosik.«
»Mensch …« Mehr bringt Brosik nicht heraus. Dann macht er kehrt und geht. Draußen vor der Tür muss er sich an die Wand lehnen. Er wischt sich mit der flachen Hand übers Gesicht. Ihm ist hundeelend zumute, zum Heulen.
Ist das Schikane? Vorbedachte, raffiniert ausgeklügelte Schikane? Wie kann man einem Hungrigen die Wurst vor den Mund halten und sie wegziehen, wenn er zubeißen will! Warum plötzlich Versetzung, wo ich doch schon auf der Urlauberliste stehe? Warum ausgerechnet ich?
Der Spieß war immer nett. Der Chef – nun ja, mit dem wird keiner so richtig warm – ist einer von denen, die ihre Aufgabe tierisch ernst nehmen. Brosik ist kein junger Hupfer mehr und tat bisher seine Pflicht, wird sie auch weiter tun, wie jeder andere Besatzungssoldat in Frankreich.
Man weiß nicht genau, wer dieser Josef Brosik eigentlich ist. In der Kompanie heißt es, er sei schon in der polnischen Armee gewesen, andere wieder vermuten, dass er bei den Tschechen gedient habe, weil man hörte, dass er mit tschechischen Emigranten sprach. Aber dieser gescheit aussehende Gefreite unterhält sich auch mit der französischen Bevölkerung sehr fließend. Was hat man sich schon für Mühe gemacht, ihm ins Herz zu schauen; es ist bisher niemandem gelungen. Klar ist, dass Brosik mit den tschechischen Emigranten ebenso gut auskommt wie mit der französischen Bevölkerung. Wie viele Sprachen er kann, steht nicht einmal im Wehrpaß. »Ein undurchsichtiger Charakter«, hat der Chef unlängst zum Spieß gesagt. – Wirklich undurchsichtig? Nur weil Josef Brosik ein paar Sprachen im Repertoire hat und nur schwer mit jemandem Freundschaft schließt?
Insgesamt sind es zehn Mann, die versetzt werden. Brosik ist der einzige Verheiratete, die anderen sind ledig. Klar, dass diese Versetzung Schikane ist! Auch Leo Brumme, der Einzige, der Brosik näher steht, ist dieser Meinung. Leo wird ebenfalls versetzt, das nimmt der Angelegenheit ein bisschen die Schwere.
»Es stellt sich immer wieder heraus, dass der Barras ein verfluchtes Ding ist«, sagt Brosik. »Aber vielleicht kommen wir durch Brüx, und ich kann meine Frau sehen.«
»Jedenfalls ist es eine bodenlose Gemeinheit, dass sie dir statt den Urlaubsschein ’nen Marschbefehl in die Hand gedrückt haben.«
Brosik hat es überwunden. Befehl ist Befehl. So ähnlich lautet auch die kurze Ansprache des Chefs in der Kantine. Dabei schaut er Brosik an, als würden diesem speziell die üblichen Phrasen von der Treue zum Vaterland, Pflichterfüllung und tapferem Soldatentum gelten.
»Ich gebe euch eine gute Beurteilung mit«, sagt er noch. »Ihr werdet bald befördert werden. – So, und jetzt wünsche ich euch alles Gute und viel Soldatenglück!«
Sie sind entlassen. Zehn Mann gehen auf die Stuben und packen ihre Klamotten. Der Transport soll gegen Abend abgehen und besteht aus vier Waggons, in denen die »Versetzten« – etwa hundert Mann mit denen aus den anderen Kompanien sind es geworden – abgeschoben werden.
Es ist ein trostlos finsterer Novemberabend des Jahres 1942, als der Zug davonrollt und Ersatz für den Osten in die Nacht hinausträgt.
An der belgisch-französischen Grenze wird für längere Zeit Halt gemacht. Im Abteil, in dem Brosik sitzt, wird gepennt oder Dauerskat gekloppt. Die trübe Blaulichtfunzel an der Wagendecke verleiht den Gesichtern Totenblässe. Noch immer schnürt Regen an die sorgfältig verdunkelten Abteilfenster.
Ein paar belgische Schwarzhändler sind plötzlich da und verkaufen Zigaretten, obszöne Fotografien und »echt französische Parfüms«.
»Kamerad, haben Sie deutsche Mark zum Umwechseln?«
»Nee, nischt. Wir brauchen sie selber.«
»Pardon, Kamerad.«
Die Herren mit den krampfhaft lächelnden Gesichtern und den Baskenmützen auf den Köpfen verschwinden wieder.
Leo Brumme gähnt.
»Jupp«, sagt er plötzlich, »du hast doch die Wehrpässe mitbekommen. Los, mach das Paket auf. Wir schauen mal nach, was uns der Alte für ’ne Beurteilung geschrieben hat.«
Brosik zögert. »Leo, ich weiß nicht recht …«
»Quatsch! Mach den Umschlag auf!«
»Ja, wir wollen unsere Beurteilung sehen!« rufen die anderen.
Der große Umschlag, in dem die Wehrpässe stecken, ist nur flüchtig zugeklebt und lässt sich bei genügender Vorsicht leicht öffnen.
»Zur Einsichtnahme«, sagt Brosik und reicht jedem seinen Wehrpaß. »Wer die schlechteste Beurteilung bekommen hat, gibt einen Kasten Bier aus!«
Es wird still im Abteil. Jeder blättert aufgeregt in seinem Wehrpaß. Draußen lärmt der Bahnbetrieb. Der Regen hat nachgelassen.
Brosik ist auf einiges gefasst, aber was er jetzt liest, treibt ihm das Blut ins Gesicht. »Undurchsichtig«, steht da geschrieben, »charakterlich schwer zu beurteilen, schließt sich bewusst von der Kameradschaft aus. Benehmen: unsoldatisch, mangelhafte Pflichterfüllung, Vorgesetzten gegenüber von arrogantem Benehmen. Politisch unzuverlässig, wie es scheint, da Herkunft und Vergangenheit nicht feststellbar. Gesamturteil: schlechter Soldat, der streng geführt werden muss.«
Und alle haben mir ins Gesicht hinein freundlich getan, denkt Brosik. Der Spieß an der Spitze, der Alte und sämtliche Figuren um ihn herum. Schlechter Soldat! – Wie gemein! Ich habe mir immer Mühe gegeben, es recht zu machen, ich war nie frech, ich wollte bloß nichts mit dem großen Haufen zu tun haben … Und meine Vergangenheit? … – Brosik lehnt den Kopf an die Rückwand und schließt die Augen – Sauber ist alles … ohne Tadel! Was kann ich dafür, dass ich in Bukarest zur Welt gekommen bin? Deutsch sind wir, hat Papa gesagt. Immer nur deutsch gewesen – der Großvater, die Großmutter, alle, die vorher waren!
Um den schmallippigen Mund des Gefreiten spielt ein starres Lächeln. Dann gibt er sich einen Ruck und steckt den Wehrpaß in den Umschlag zurück.
Es sind noch zwei Kameraden da, die schlimm weggekommen sind. Der ehemalige Unteroffizier Franz Dachert – zum Grenadier degradiert, weil er einen Leutnant einen »dummen Hund« genannt hatte, ihm die Pistole aus der Hand schlug, dann die Faust zwischen die Augen setzte – ist ganz und gar ein unbrauchbarer Soldat. Der Beurteilung nach. Kein Wort davon, dass Dachert sich tadellos führte, Abbitte tat, sich willig zeigte und ganz offenbar die Wiedererlangung der verlorenen Litzen anstrebte. Gemeingefährlicher Charakter. Punktum. Lohnte es sich da überhaupt noch, etwas gutmachen zu wollen?
»So erzieht man Deserteure«, murmelt Franz Dachert. Dann steht er plötzlich auf, nimmt den Karabiner und will das Abteil verlassen.
Brosik weiß sofort, was der Kamerad vorhat, springt auf und verstellt ihm den Weg.
»Wo willst du hin, Franz?«
»Luft schnappen. Hier ist so ’n Mief.«
Brosik will ihm das Gewehr wegnehmen. »Wenn du Luft schnappen willst, brauchst du keinen Karabiner, Franz. Gib her.«
»Lass mich …!«
»Gib her, sag ich!«
»Du sollst mich in Ruhe lassen, Jupp!« brüllt Dachert. »Ich bin nichts wert! Kein Hahn kräht mehr nach mir! Ich will nicht mehr … ich hab’s satt … satt … satt!«
»Sei kein Idiot, Franz! Gib die Knarre her!«
Sie ringen um das Gewehr. Der eine zerrt hin, der andere her. Die anderen mischen sich ein und zerren die beiden auseinander. Nur schwer beruhigt sich Dachert, setzt sich keuchend auf die Bank und presst verzweifelt die Fäuste gegen die Augen.
»Mensch, Franz«, sagt Leo und legt ihm den Arm um die Schulter. »Denkste, mir geht’s besser? Ich les dir vor, was das Dreckschwein geschrieben hat: Grenadier Leo Brumme ist faul, widerspenstig und zeigt sich gelegentlich aufsässig. Schlechter Soldat. Liederlich. Zweimal von der turnusmäßigen Beförderung zurückgestellt. Na«, fragt Leo und klopft Dachert auf die Schulter. »Ist das nicht wunderbar?«
»Gebt die Wehrpässe her«, lässt Brosik sich mit auffallend sachlicher Stimme vernehmen. »Es hat keinen Zweck, wenn wir uns ärgern. Wir wissen jetzt, wen man an die Front schickt, und dort wird sich’s zeigen, was der Einzelne wert ist.«
Zwei Tage wartet der Transportzug an der belgisch-französischen Grenze, dann rollt er nach Lockern weiter, wo der »Ersatz« auf die verschiedenen Regimenter und Bataillone aufgeteilt wird. Leo Brumme kommt zur sechsten Kompanie, Brosik und Dachert zur elften.
»Ich bin froh, dass wenigstens wir beide zusammengeblieben sind«, sagt Dachert zu Brosik. »Hoffentlich reißen sie uns nicht doch noch auseinander.«
Am nächsten Tag steht ein Oberleutnant vor dem Ersatzhaufen. Jeder muss Dienstgrad, Name, wie lange Soldat und Ausbildung melden.
Der Oberleutnant, Brillenträger, baumlang und schmal, steht vor Franz Dachert. Der reißt die Knochen zusammen:
»Grenadier Franz Dachert, sechs Jahre Soldat, ausgebildet als Artillerist, seit acht Monaten bei der Infanterie!«
Die Augen hinter den Brillengläsern sind blassblau und schauen neugierig. »Sechs Jahre Soldat und erst Grenadier? Was haben Sie ausgefressen?«
»Ich habe …« Dachert versucht, das Geständnis so leise wie möglich zu formulieren, aber doch hören es alle.
»Aha«, macht der Oberleutnant und weicht einen kleinen Schritt zurück, »so einer sind Sie. Degradiert!«
»Rangherabsetzung, Herr Oberleutnant.«
»Das ist dasselbe.«
Der Oberleutnant geht weiter. Dann muss Brosik seine Meldung machen:
»Gefreiter Brosik, neunzehn Monate Soldat, U-Lehrgang, ausgebildet an allen leichten Infanteriewaffen.«
»Warum wurden Sie noch nicht zum Unteroffizier befördert?«
»Es war keine Planstelle frei, Herr Oberleutnant.«
Der Oberleutnant schaut zu Dachert zurück, der mit gesenktem Kopf im Glied steht. Jetzt die misstrauische Frage an Brosik: »Seid ihr beide etwa aus einer Kompanie?« Der Oberleutnant deutet mit dem Kopf zu Dachert.
»Nein, Herr Oberleutnant«, schnarrt Brosik. »Ich war bei der zwoten, er bei der dritten.«
Oberleutnant Kroske scheint kein »wilder Mann« zu sein. Mit der Brille sieht er wie ein Lehrer aus, ungefährlich also, ein bisschen schlaksig. Man hört noch am selben Tag, dass er kurz vor der Beförderung zum Hauptmann steht – sieht dann am nächsten Tag, dass es passiert ist, denn der neue Herr Hauptmann schaut reichlich verkatert aus der Wäsche. Da man einem verkaterten Vorgesetzten tunlichst aus dem Weg gehen soll, hält Brosik sich in der Unterkunft auf und hört mit Dachert den Wehrmachtsbericht.
»Im südlichen und nördlichen Abschnitt der Ostfront sind nur örtliche Kampfhandlungen im Gang. Die Abwehrkämpfe im mittleren Abschnitt dauern bei starker Kälte an. Zahlreiche Angriffe des Gegners sind am entschlossenen Widerstandswillen unserer Truppen gescheitert. Die Luftwaffe griff mit Kampf- und Jagdfliegerverbänden in die Erdkämpfe ein und zerschlug an mehreren Stellen im Tiefangriff die Bereitstellung sowjetischer Kräfte. Bei Nachtangriffen auf Moskau …«
»Achtung!«, brüllt jemand.
Ein Unteroffizier ist hereingekommen. Die Lautsprecherstimme bricht ab.
»Ist hier ein Gefreiter Brolek, Bruzek oder so ähnlich?« fragt der Unteroffizier.
»Jetzt kommt’s raus«, flüstert Dachert Brosik zu. »Sie holen dich, und du wirst wegen Falschmeldung bestraft.«
Brosik winkt ab und steht auf.
»Sie meinen wahrscheinlich mich, Herr Unteroffizier. Gefreiter Brosik bin ich.«
»Genau. – Sofort zum Chef kommen. Bringen Sie ja Ihren Anzug in Ordnung, sonst springt Ihnen der Hauptmann mit dem Nackten ins Gesicht.«
Brosik schnallt um, setzt das Krätzchen auf und folgt dem Unteroffizier.
Brosiks Herz rumpelt hart gegen die Rippen. Scheußlich, dass man nie die Angst loswird, von jemandem gefressen zu werden. Sind doch auch nur Menschen, in Uniform halt – der eine mehr, der andere weniger böse oder gut. Vielleicht haben sie meine Beurteilung gelesen, denkt Brosik, und jetzt will man mich wegen meiner »unsicheren Vergangenheit« ausquetschen.
Brosik betritt die Schreibstube, baut sein Männchen und schnarrt seine Meldung herunter, dass die Fensterscheiben klirren.
Der Spieß, fettlastig, mustert Brosik nicht gerade freundlich. In diesem Augenblick kommt auch der Hauptmann aus seinem Zimmer.
»Ja, das ist er«, sagt er zu Spieß Schimanek.
Brosiks Hände beginnen zu schwitzen.
Da kommt der Hauptmann heran und nimmt die Brille ab, blinzelt Brosik scharf an und sagt dann:
»Sie haben mir gestern gemeldet, dass Sie an allen Infanteriewaffen ausgebildet sind. Stimmt das?«
»Jawoll, Herr Hauptmann! In allen leichten Infanteriewaffen!«
»Kennen Sie sich mit dem Granatwerfer aus?«
»Den Fünf-Zentimeter-Granatwerfer kenne ich, Herr Hauptmann. Der Acht-Zentimeter gehört schon zu den schweren Waffen.«
»Sind Sie auch am Schießbecher ausgebildet worden?«
»Jawohl.«
»Herr Arsch …«, stirnrunzelt der Hauptmann.
»Jawohl, Herr Hauptmann«, ruft Brosik.
»Na, dann wollen wir mal sehen«, meint Kroske und hebt den langen, manikürten Zeigefinger. »Wenn Sie mich angelogen haben, passiert Ihnen was! Kommen Sie mit.«
Brosik folgt dem Hauptmann in einen Raum, wo sämtliche Dienstgrade der Kompanie versammelt sind. Ein Tisch steht in der Mitte, darauf liegt ein Karabiner mit einem Schießbecher. Ringsum ziemlich ratlose Gesichter. Keiner kennt sich mit diesem Ding hier aus. Das verraten auch sofort Kroskes Worte:
»Meine Herren, es hat keinen Sinn, wenn wir lange in der Gebrauchsanweisung herumsuchen. Der Gefreite wird uns das Ding erklären.«
Aller Blicke richten sich auf Brosik. Der atmet innerlich auf und verbirgt nur mit Mühe ein Lächeln.
Dann fängt er an, den Schießbecher zu erklären. Kurz und sicher ist sein Vortrag, schwungvoll. Der Hauptmann nickt anerkennend, der Spieß und alle Anwesenden zeigen sich nicht minder erfreut über Art und Weise der Instruktionsstunde.
»Gut«, sagt Kroske, als Brosik endet, »sehr gut. Sie werden ab sofort als Ausbilder eingesetzt. Als was sind Sie in der Kompanie eingeteilt?«, will er plötzlich wissen.
»Ich bin Schütze in der vierten Gruppe, Herr Hauptmann.«
»Bei Unteroffizier Leskau?«
»Jawohl, Herr Hauptmann.«
Kroske wendet sich an den untersetzten Unteroffizier mit dem breiten Bauerngesicht.
»Unteroffizier Leskau, der Gefreite Brosik wird Ihnen ab sofort als stellvertretender Gruppenführer zugeteilt.«
Na also, denkt Brosik, das ist schon etwas! Gleich nach der Instruktionsstunde erreicht Brosik es, dass Franz Dachert mit in die vierte Gruppe kommt.
Die elfte Kompanie soll am nächsten Abend verladen und in Marsch gesetzt werden. Brosik horcht in der Schreibstube herum, ob irgendeine Fahrtrichtung bekannt ist. Aber keiner weiß etwas Genaues. Sicher ist nur, dass es nach Osten geht, und dorthin führen viele Wege. In den Winter hinein – in den russischen Winter, und von diesem weiß man, dass er anders ist als der idyllische in den deutschen Landen.
Die Division ist gut ausgerüstet. Alles ist da: dicke Winterbekleidung, Schlitten, Schi, und das Regiment sowie die Kompanien sind auf Kriegsstärke gebracht worden. Die elfte Kompanie zählt 186 Mann. Der Bataillonsstab ist ebenfalls verstärkt worden. Das Regiment setzt sich aus über 3000 Mann zusammen.
Brosik macht die Entdeckung, dass man ausgerechnet den dreizehnten November schreibt, als die Verladekommandos zusammengestellt werden und zum Bahnhof abrücken. Er ist mit dabei. Zufrieden stellt er fest, dass man gut vorbereitet gen Osten zieht. Mit »Hooo-ruck« und »Zuuu-gleich!« werden Muni-Wagen, I-Karren, Schlitten verladen, dazu Verpflegung für Mann und Ross.
Die Latrinengerüchte schwirren herum.
»Nach Leningrad geht’s!«, wollen die einen wissen. »Quatsch«, sagen die anderen, »nach Stalingrad rollen wir.«
»Warten wir’s doch ab«, schlagen die Phlegmatiker vor. »Wir werden es ja früh genug spitzkriegen.«
»Und ich wette, dass es nach Finnland geht«, ist die Meinung einiger anderer. »Wir lösen die Edelweiß-Soldaten ab.«
»Ich hab gehört, dass die 306. Infanterie-Division Leningrad stürmen soll«, verrät der Bataillonsmelder.
Auf den Wagen und Karren ist eine Wildsau gemalt worden, als taktisches Zeichen. Man macht sich darüber lustig, und Dachert meint:
»Wildsau ist gut, Jupp. Schweine bringen Glück.«
»Hoffentlich macht uns der Russe nicht zur Sau«, erwidert Brosik. »Ich hab mir erzählen lassen, dass in Russland die Spucke im Maul gefriert und die Läuse so groß wie Maikäfer sind.«
»Mit ’m Ritterkreuz am Buckel«, lacht Dachert.
Noch lachen sie. Bald wird ihnen das Lachen vergehen, das Schwatzen vom Sieg und das Prahlen, wie leicht mit dem Iwan fertig zu werden ist.
Der Transport rollt – rollt Tag und Nacht. Je weiter man nach Osten kommt, umso kälter wird es. Aus dem Regen ist Schnee geworden. Weiß ist das Land, das der Schienenstrang durchschneidet.
Hinter Bromberg rangiert der Transportzug auf ein Nebengleis und hat Aufenthalt. Die Soldaten klettern aus ihren Viehwaggons und vertreten sich die Beine, laufen zu einem aus Richtung Osten heranrollenden Lazarettzug und sehen die ersten Opfer, hören das Gestöhne drinnen, vernehmen die ersten wirklich authentischen Berichte vom östlichen Kriegsschauplatz.
»Kameraden, ihr kommt ans Ende der Welt«, sagt ein stoppelbärtiger Gefreiter, dessen linker Arm von einem Granatsplitter getroffen wurde. »Nix Kultura, nur Läuse, Dreck und mehr Iwans, als ihr denkt! Ihr werdet das Fluchen lernen!«
Der Besuch bei den Verwundeten, das Herumsitzen bei den erzählenden Kameraden hat zur Folge, dass man die ersten Läuse mit zum Viehwagen nimmt.
»Mensch! Abschuss!«, jubelt ein junger Soldat und knackt die erste Laus mit Siegermiene.
Dachert vernichtet gleich sechs Stück dieser »malenki Partisan«, wie man sie nennt. Auch in den anderen Waggons werden hohe Abschussziffern gemeldet.
»Herr Oberarzt, der Transport hat bereits Läuse«, meldet der Sani-Feldwebel.
»Was? Jetzt schon? Bisschen früh! – Peukert, geben Sie sofort Ruslapulver aus. Jeder Läusepeter antreten und sich Ruslapulver verpassen lassen!«
Lachend dulden sie es, dass die dicke Zerstäuberspritze in den weggezogenen Hosenbund hineinbläst und das Ruslapulver in Aktion tritt. Stinken tut das Zeug zehn Meter gegen den Wind!
»Wie echte Säue«, lachen sie. »Riech mal, wie ich stinke, Kamerad!«
»Geh weg, du!«, schimpft der andere. »Dich riecht der Iwan schon von weitem!«
Weiter geht’s. Das polnische Land zeigt sich den Blicken. Weites, eintönig weißes Land. Dann und wann ein Dorf, eine zertrümmerte Kleinstadt.
»Mensch«, sagt Dachert zu Brosik, »man merkt’s doch schon, dass wir Winter haben.«
Alle merken es. Die Kälte wird schneidender, je weiter der Transportzug nach Osten gelangt.
Aufenthalt irgendwo an einer größeren Station. Der Zug wechselt die Lok. Rumpelnd fliegen die Schiebetüren der Viehwaggons zur Seite, und die Soldaten springen mit steifen Gliedern aus der Enge.
»Gibt’s hier kein Wirtshaus?« fragt der Grenadier Köhler. »Mir klebt die Zunge am Gaumen vor Durscht. Die Blutwurst war so scharf.«
»Gebt mal die Kochgeschirre her«, sagt Brosik, »ich hol ’n bisschen Kaffee beim Küchenbullen.«
Die Kameraden reichen die Kochgeschirre heraus, und Brosik läuft zum Waggon vor, wo die Küche untergebracht ist.
»He, Unteroffizier, wie schaut’s mit was Warmem aus?«
»Kannst du haben«, sagt der Küchenunteroffizier, »aber nur, wenn du mir Wasser besorgst.«
»Wieso? Habt ihr keins? Hier gibt’s doch überall Wasser.«
»Ja schon«, sagt der andere, »aber ehe wir die Wasserstelle gefunden haben, geht’s schon wieder weiter. Die Banausen hier verstehen kein Wort Deutsch.«
»Einsteigen!«, brüllt es. »Alles einsteigen!«
»Bei der nächsten Haltestelle besorge ich euch Wasser!«, ruft Brosik dem Küchenunteroffizier zu und rennt mit klappernden Kochgeschirren zum Waggon zurück.
Wasser fehlt also. Die Aufenthaltszeiten auf den Bahnhöfen sind zu kurz, um sich zur Wasserstelle durchzufragen. Vielleicht wollen die polnischen Bahnbediensteten auch nicht verstehen, was man von ihnen wissen will. Wasser ist wichtig. Die Pferde brauchen es noch dringlicher.
Brosik sitzt also auf dem Sprung und wartet auf den nächsten Halt. Die vierte Gruppe hat sich freiwillig als Wasserholer bereitgestellt und wird unter Brosiks Führung gleich losrennen, wenn der Zug anhält.
Das geschieht gegen Abend.
Zwölf Mann springen gleich nach dem Halten aus dem Viehwagen und rennen hinter Brosik her. Der knöpft sich einen polnischen Eisenbahner vor.
»Mensch«, sagt Euler zu Kamenski, »wie gut der Brosik Polnisch redet – wie Wasser.«
Um Wasser geht es. Brosik lässt sich von dem Eisenbahner die Wasserstelle zeigen. Eine Stunde später ist die ganze Kompanie mit reichlich Wasser versorgt. Auch die anderen Kompanien kommen in den Genuss dieser kostbaren Flüssigkeit.
»Wieso geht denn das auf einmal so ruckzuck?«, fragt Hauptmann Kroske.
»Wir haben einen Dolmetscher«, verrät der Küchenbulle. »Der ist gleich dran, wenn der Zug hält, und lässt sich von den Polen die Wasserstellen zeigen.«
»Dolmetscher?«
»Der Gefreite Brosik, Herr Hauptmann.«
Seitdem muss Brosik bei jedem Halt dafür sorgen, dass die Kompanie mit Wasser versorgt wird. Hauptmann Kroske ist stolz darauf, dass er in seiner Kompanie einen Mann hat, der fließend Polnisch spricht. Ein toller Hecht, dieser Gefreiter Brosik! Der hat doch allerhand auf dem Kasten!
Stolpce. Letzte polnische Station. Drüben liegt schon Russland – Feindesland. Von hier weg wird die Strecke eingleisig, weil die Russen eine breitere Schienenspur in ihr Land gelegt haben.
In Stolpce tritt ein längerer Aufenthalt ein. Der Zug hat keine Einfahrt, muss warten. Von einer Wasserstelle ist weit und breit nichts zu sehen.
»Gefreiter Brosik zum Chef!«, ruft man die Viehwaggons entlang. »Gefreiter Brosik zum Chef!«
Brosik eilt nach vorne und klettert in den Personenwagen, wo der Kompanietrupp untergebracht ist.
»Brosik«, sagt Hauptmann Kroske, »laufen Sie sofort los, und schauen Sie zu, dass der Zug an eine Wasserstelle zieht. Reden Sie mit dem polnischen Beamten!«
»Jawohl, Herr Hauptmann!«
»Wo haben Sie eigentlich Polnisch gelernt, Brosik?«, will er schnell noch wissen.
»Ich spreche auch Russisch, Herr Hauptmann. Slawische Sprachen machen mir Spaß, deshalb habe ich sie auch ziemlich leicht erlernt.«
Hauptmann Kroske nickt dem Gefreiten sichtlich wohlwollend zu und lässt ihn gehen.
Das Stellwerk liegt zweihundert Meter voraus. Brosik macht sich mit dem polnischen Eisenbahner bekannt und bittet ihn, mit dem Aufsichtsbeamten telefonieren zu können.
Zehn Minuten später zieht der Transport auf ein Nebengleis und hält neben der Wasserstelle.
»Bravo, Brosik! Gut gemacht!«
Auch der Spieß nickt anerkennend. »Sie gehörten eigentlich in den Kompanietrupp«, sagt er.
»Haben Sie eine Melderausbildung?«, will der Hauptmann wissen.
»Nur ’ne ganz mäßige«, lügt Brosik, keine Lust verspürend, beim Kompanietrupp unterzuschlupfen. »Ausgebildeter Melder darf ich mich nicht nennen, Herr Hauptmann.«
»Sie siedeln sofort zu uns um«, lautet der rasche Entscheid. »Holen Sie gleich Ihre Klamotten, Brosik.«
Mist verdammter, denkt Brosik, gefällt mir gar nicht.
Er trollt sich aber trotzdem und siedelt vom Viehwagen in die zweite Klasse um.
»Wir bleiben beieinander«, tröstet Brosik die betrübte Kameradschaft. »Ich werde immer sehen, dass ihr gut dabei wegkommt, Kumpels.«
»Schade«, brummt Unteroffizier Leskau, als Brosik mit Sack und Pack umsiedelt, »war ein cleverer Kerl, der Brosik.«
Der Gefreite Josef Brosik ist also beim Kompanietrupp und fährt jetzt nicht mehr im Viehwaggon. Tagsüber hat das seine Vorteile, weil es in der zweiten Klasse wärmer ist als im Viehwaggon, aber nachts kann man sich auf den schmalen Bänken entschieden schlechter ausschlafen als auf dem Stroh im Mannschaftswagen.
Die Fahrt geht weiter. Minsk ist die nächste Station. Man rollt also dem Mittelabschnitt der Ostfront entgegen. Links und rechts des Bahndammes sehen sie die Spuren des Krieges. Und weit ist das Land, geheimnisvoll weit, unendlich.
Die verrücktesten Parolen schwirren umher. Nachts ist es lausig kalt, und man kriecht zusammen, um sich gegenseitig zu wärmen.
Längerer Aufenthalt in Minsk. Die Lok wird abgehängt. Ein paar Minuten später kriecht der Frost in die Waggons und bringt einen Vorgeschmack von dem, was im freien Kampffeld auf den einzelnen Mann wartet.
Brosik und Franz Dachert halten die Verbindung miteinander aufrecht. Bei jeder Gelegenheit sucht Brosik den Freund auf, den er vor ein paar Wochen vor einer Verzweiflungstat gerettet hat.
»Weißt du, Jupp«, sagt Dachert, »ich freue mich auf den Kampf. Ich will meine Gurkenschalen wiederhaben – und ich krieg sie auch wieder.«
Brosik schaut lange und aufmerksam in das hagere, schlecht rasierte Gesicht des Freundes.
»Du hängst noch immer an dieser blöden Geschichte«, sagt Brosik. »Vergiss sie doch. Was sind so ’n paar Litzen schon wert? Oder willst du sie nur haben, um die Klappe weiter aufmachen zu können?«
»Ich bin Soldat, Jupp – ich hab nichts anderes gelernt und wollte meine zwölf Jahre abreißen. Die Geschichte mit dem Fatzken hat mich um drei Jahre zurückgeschmissen. – Ich bin verheiratet, Jupp. Als Unteroffizier kriegt man mehr Moos, und das brauche ich. Außerdem …«, fügt er leise hinzu, »schäme ich mich auch.«
»Vor dir oder den anderen?«
»Vor mir nicht so sehr, Jupp – aber vor den anderen. Man wird über die Schulter angeguckt, wenn’s heißt, dass man degradiert ist.«
»Hier tut’s niemand, Franz.«
»Doch, doch, Jupp – im gegebenen Moment kriegst du’s immer aufs Tablett.«
»Wie war das damals?«
Dachert dreht sich mit klammen Fingern ein Röllchen. »Ich war blau wie ’ne Haubitze. Da kam die Streife ins Lokal und wollte uns rausschmeißen. Der Leutnant hatte die größte Schnauze und faselte von Tatbericht und so. Ich sagte daraufhin dummer Hund zu ihm. Er riss die Pistole raus, und ich schlug sie ihm aus der Hand. Dann gab ich ihm noch eine ins Genick, weil er mir gegen das Schienbein latschte. Was weiter war, weiß ich nicht mehr genau. Die anderen haben mich zusammengedroschen. Ich bin erst bei Vater Philipp aufgewacht. Da war der Bart ab. Tatbericht, Kriegsgericht. Jetzt bin ich wieder dort, wo ich vor sechs Jahren angefangen hab: Schütze Arsch im letzten Glied.«
Brosik klopft dem Freund auf die Schulter.
»Du kommst wieder hoch, Franz. Ganz bestimmt. Im Einsatz geht das schnell. So oder so.«
»Oder so …?«, grinst Dachert. »Bevor ich aber ins Gras beiße, gehen noch etliche andere mit!«
Jemand steckt den Kopf durch den Türspalt und ruft:
»He! Los! Kommt! Russen sind da! Wir können prima Geschäfte machen!«
Auf dem Abstellgleis haben sich Zivilisten eingefunden und versuchen, mit den Germanski ins Geschäft zu kommen. Man braucht alles, was angeboten wird.
»Hier, Towarisch – eine Mundharmonika! Prima Musika!« Der Soldat bläst ein paar Töne, und der Russe horcht verzückt zu.
»Was kosten Musika?«
»Was du gibst?«
Sie handeln. Der Russe zahlt gerne achtzig Reichsmark für die Mundharmonika. Eine Russin braucht Nähnadeln und kauft das Stück für drei Mark. Ein alter Wecker bringt dem Grenadier Emil Baumer ganze 330 Mark.
»Menschensginner«, staunt ein Sachse, »wo haben die Kollächen bloß das viele Moos her?«
Keiner weiß es zu sagen. Sie haben es einfach. Der Tauschhandel, der Schwarzmarkt blüht in Minsk.
»Wo kommt ihr her?«, fragt eine auffallend gut Deutsch sprechende Russin.
»Aus Frankreich«, verrät der flaumbärtige Grenadier und wird sich seines Leichtsinnes gar nicht bewusst.
»Und wo fahrt ihr hin?«, will die hübsche Russin wissen.
»Wahrscheinlich nach Leningrad.«
Die Soldaten sind ja noch so unerfahren. Sie kommen sich als siegreiche Eroberer vor und sonnen sich im Erfolg derer, die das Land so weit aufgerollt haben und jetzt ganz vorne liegen. In Schnee und Eis, in finsterer Nacht, im Gebrüll der Feuerüberfälle, im Gehämmer der Maschinenwaffen.
Ab und zu tauchen russische Flugzeuge auf, aber sogleich sind deutsche da und vertreiben die feindlichen Flieger. Die Luftüberlegenheit der Deutschen ist eindeutig und schützt den Bahnhof von Minsk vor Bomben und ratterndem Bordwaffenbeschuss.
»Jungs, es geht los!«, heißt es am dritten Tag. Die Zivilisten sind verschwunden. Die Soldaten klettern wieder in ihre eiskalten, engen Quartiere.
Der erste Transportzug zieht ab. Irgendwo am sternklaren Himmel steigt eine Leuchtkugel hoch.
Was ist das für ein dumpfer Donnerschlag in der Ferne?
Eine halbe Stunde später weiß man Bescheid. Der erste Transportzug ist auf eine Mine gefahren. Glücklicherweise hat es keine Verluste gegeben. Aber das Gleis ist zerstört. Warten heißt es. Stunden werden vergehen, ehe die Strecke wieder in Ordnung ist.
»Das waren Partisanen«, flüstern die Neulinge sich zu und ahnen nicht, dass sie selbst an diesem Zwischenfall schuld sind, weil sie geschwatzt haben.
»Gibt’s hier Partisanen?«
»Na klar!«
»Mensch, wenn ick so’n Schwein in die Finger krieg, mach ich Hackfleisch aus ihm!«
So reden sie herum, so heizen sie sich gegenseitig mit Worten ein, weil die Kälte die Glieder lähmen will. Stundenlang dauert das Warten auf das Abfahrtssignal.
Endlich setzt sich eine Lok vor den Transportzug. Zwei Russen bedienen sie, Kerle mit finsteren Gesichtern und struppigen Bärten.
Der Morgen graut, als die Lok anzieht. Langsam rollt die lange Wagenschlange aus dem Bahnhofsgelände von Minsk. Plötzlich, kaum zehn Kilometer von Minsk entfernt, tauchen zwei Ratas auf.
Kreischend hält der Zug.
»Was’n los?«, wird erschrocken gefragt.
»Ratas!«
»Wo? Ich seh nischt!«
Die Ratas sind weg. Die beiden Russen von der Lok ebenfalls. Schneespuren führen in den Wald und verschwinden zwischen den Bäumen.
»Himmeldonnerwetter!«, schimpft der Major. »Wir müssen weiter! – Wer kann eine Lok fahren?«
»Wer kann eine Lok fahren?«, geht es von Mund zu Mund, von Waggon zu Waggon. »Ist jemand da, der eine Lok fahren kann?«
Es scheint niemand da zu sein.
Doch! Brosik geht nach vorn und meldet sich.
»Sie können eine Lok fahren?«
»Ich weiß nicht genau, Herr Major. Ich fuhr aber schon einmal eine Grubenlok. Vielleicht ist der Unterschied zwischen einer Grubenlok und einer großen Maschine nicht allzu groß.«
»Der Brosik fährt die Lok!«, geht es jetzt reihum. »Mensch, der Brosik! Das ist vielleicht ’n Kerl! Der kann aber auch alles!«
»Frisst Reißnägel und scheißt Lokomotiven!«, sagt Unteroffizier Leskau.
Brüllendes Gelächter.
Brosik ist nach vorn gegangen, klettert auf die Lok und schaut sich erst mal alles genau an, denn es ist lange her, dass er die Grubenlok gefahren hat.
Hm … Die Bremse ist da. Der Dampfhebel steht in der Mitte. Drückt man ihn nun nach oben oder unten? Auf »Vorwärts« muss man ihn natürlich stellen.
Indessen haben die Grenadiere sich auf einen Feuerüberfall der Partisanen vorbereitet. Zum erstenmal spüren sie das, was man heiße Erwartung, Aufpassen, Spannung nennt. Der Wald ist nahe. Wie leicht kann es plötzlich zu knallen anfangen.
Der Major klettert auf die Lok. Sein faltiges Gesicht unter der Anorakkapuze verrät Unruhe.
»Na, was ist, Gefreiter?«, fragt er. »Werden Sie das Ding schaukeln?«
»Denke doch, Herr Major.«
»Wir müssen weiter«, drängt der Major. »Wir müssen es versuchen!«
Na schön, denkt Brosik, probieren wir es einmal. Schließlich hängen ja über 400 Mann hintendran und Kriegsmaterial, das eine Menge Geld gekostet hat.
»Herr Major«, wendet der Gefreite ein, »die Verantwortung ist groß. Wenn Sie …«
»Natürlich übernehme ich die Verantwortung«, fällt der Major nervös ins Wort.
Brosik spuckt in die Hände, packt die Kohlenschaufel und schippt erst einmal die Feuerung voll. Dann drückt er den Regulator, löst die Bremse. Langsam zieht die Lok an. Kreischend und polternd setzt sich der Transportzug in Bewegung.
Links und rechts schleicht der tief verschneite Wald vorüber. Schnurgerade durchschneidet der Schienenstrang das Land. Der Schnee rieselt von den Bäumen. Fauchend und im Schneckentempo poltert der Zug durch die weiße Einsamkeit, über der ein bleifarbener Himmel hängt.
»Ich achte auf die Signale«, ruft der Major in das Gezische. »Passen Sie nur auf die Strecke auf, Gefreiter … Ah, wie heißen Sie?«
»Gefreiter Brosik, Herr Major!«, schreit er in den Lärm.
Der Major wirft seinem Lokführer einen anerkennenden Blick zu. Dann die Frage:
»Wie lange sind Sie schon Soldat?«
»Es werden jetzt zwanzig Monate, Herr Major.«
Die beiden Männer auf der Plattform schweigen, schauen aufmerksam geradeaus. Denn jetzt tritt der Wald zurück, und man fährt in freies Land hinaus.
Da erschrickt Brosik. Vorne taucht ein Gegenzug auf! Wenn der nun mit achtzig Sachen ankommt …
»Achtung!«, schreit der Major.