Bov Bjerg, geboren 1965, Studium in Berlin, Amsterdam und am deutschen Literaturinstitut in Leipzig: Linguistik, Politik, Literatur. Er lebt heute in Berlin. Er gründete mehrere Lesebühnen, u.a. Dr. Seltsams Frühshoppen, Mittwochsfazit, Reformbühne Heim und Welt. Arbeitete als Schauspieler und Autor beim Kabarett und schrieb für verschiedene Zeitungen. Die Kurzgeschichte »Howyadoin« erhielt 2004 den MDR-Literaturpreis. 2008 erschien sein Debütroman »Deadline« im Mitteldeutschen Verlag.
»Wir sollten alle im Auerhaus wohnen.« David Wagner
»Auf berührende Weise zeigt Bov Bjerg, daß der Tod letztlich nur eine Erinnerung ist, an das Leben, das wir geführt haben.« Horst Evers
»Das hat einen guten Sound, das hat Kraft. Und plötzlich bin ich wieder 17, 18 wie die Romanhelden, Wildheit der Jugend, will mit ihnen aufbrechen, ausbrechen, lieben, Unsinn machen.« Clemens Meyer
»Auerhaus zeigt, dass die Kostbarkeit einer Gemeinschaft aus den Besonderheiten der Einzelnen erwächst. Ein schönes und ein warmherziges Buch.« Terézia Mora
»Gelegentlich, sehr selten, gibt es Bücher die sind wie Songs. Man möchte das Auge, ähnlich wie man die Nadel bei Singles wieder auf den Anfang der Rille setzt, sofort wieder auf den Beginn der ersten Seite setzen. Und `Auerhaus` ist genau so ein Buch.« Robert Stadlober
»Ein schöner Bericht über jene schweren Jahre, die man Jahrzehnte später als die besten Jahre bezeichnet.« Christoph Hein
Sechs Freunde und ein Versprechen: Ihr Leben soll nicht in Ordnern mit der Aufschrift Birth-School-Work-Death abgeheftet werden. Deshalb ziehen sie gemeinsam ins Auerhaus. Eine Schüler-WG auf dem Dorf – unerhört. Aber sie wollen nicht nur ihr Leben retten, sondern vor allem das ihres besten Freundes Frieder. Denn der ist sich nicht so sicher, warum er überhaupt leben soll.
Bov Bjerg erzählt mitreißend und einfühlsam von Liebe, Freundschaft und sechs Idealisten, deren Einfallsreichtum nichts weniger ist als Notwehr gegen das Vorgefundene. Denn ihr Ringen um das Glück ist auch ein Kampf um Leben und Tod.
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Roman
Alle Personen sind erfunden,
alle Handlungen verjährt.
Inhaltsübersicht
Über Bov Bjerg
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Impressum
Vera leuchtete runter. Auf den Stufen lag Frieder.
Ich: »Weint er?«
Vera: »Er lacht.«
Frieder lag auf dem Rücken, den Kopf treppauf. Unter der Bommelmütze kniff er die Augen zusammen. Er kicherte: »Ich hab’s gemacht! Ich hab’s gemacht!«
Ich stieg über ihn rüber, nach unten. Aus den Sohlen seiner Stiefel bröckelte der Schnee. Unten an der Treppe lag die Axt.
Die Haustür knarrte. Schneeflocken schwebten auf meine nackten Arme. Im ganzen Dorf war der Strom ausgefallen. Hinter den Fenstern sah man Kerzen brennen. Ich erkannte Frieders frische Stiefelstempel im Schnee und ging ihnen nach.
Die Absätze wiesen die Richtung.
Die Spur führte von der Haustür zur Straße, rüber zum Seidel, an den Häusern entlang. Auf ein Misthaufenmäuerchen rauf, um den zugeschneiten Hügel rum und wieder runter.
Ein Auto rollte vorbei, ganz langsam, es knirschte. Sogar das Licht der Scheinwerfer schien im Schneegestöber langsamer zu leuchten als sonst.
Am Dorfplatz verschwanden Frieders Spuren im Neuschnee. Mitten auf dem Platz blinkten Lichter, orange und blau.
Es hörte auf zu schneien. Im selben Moment war der Strom wieder da. In den Fenstern ging das Licht an, die Straßenlaternen flackerten auf und die Parkplatzbeleuchtung vom Penny. Die Leuchtreklame an der Volksbank zuckte. Auf dem Dorfplatz standen ein Laster von der Gemeinde und ein VW Käfer von der Polizei. Daneben lag der Weihnachtsbaum.
Gerade hatte er noch über die Häuser geragt und über den Platz geleuchtet mit eintausend Glühbirnen. Jetzt lag er zwischen den geparkten Autos. Die Birnen waren dunkel.
Bogatzki fummelte an seiner Mütze. Das war der Dorfsheriff.
Er setzte sie wieder auf.
Er setzte sie wieder ab.
Der Mann vom Bauhof beugte sich über den Stamm. Er hob das durchgetrennte Lichterkabel vom Boden hoch und hielt es Bogatzki vor die Nase.
Ich folgte den Spuren zurück. Zwei Paar Stiefel nebeneinander, die von Frieder und meine. Die einen kamen, die anderen gingen.
Die Straße und die Dächer leuchteten vom Schnee. Ich sprang auf das Mäuerchen und drehte eine Runde um den hellen Haufen.
Frieder hatte am Heiligen Abend den großen Weihnachtsbaum auf dem Dorfplatz gefällt. Ich drehte noch eine Runde.
Das war nicht der Anfang der Geschichte, und das war nicht das Ende.
Ich drehte noch eine Runde.
Aber das war das, was jeder von Frieder wissen sollte.
Die Seidels kamen von der Christmette. Es war besser, wenn sie mich nicht sahen. Ich trug bloß ein T-Shirt. Ich duckte mich hinter den Schneeberg.
Frieder und ich, wir gingen schon lange zusammen in eine Klasse. Ohne dass irgendwann mal groß was los gewesen wäre.
Jedenfalls, als die Sache passierte, da war ich gar nicht da. Und hatte auch nichts mitbekommen, logisch. Ich hatte wieder mal die Schnauze voll gehabt vom fiesen Freund meiner Mutter und war für ein paar Tage abgehauen.
Der Fiese Freund Meiner Mutter. Wenn ich den Kumpels von ihm erzählte, nannte ich ihn F2M2.
Frieder nannte ihn erst F2DM. Das war viel zu umständlich und nicht besonders witzig. Dann nannte er ihn F2D2, was überhaupt nicht hinhaute. Deiner Dutter, oder was?
Jetzt nannte er ihn F2M2, genau wie ich. Das war auch seltsam, es war ja nicht seine Mutter, aber irgendwie war es auch okay. Ich hatte bloß zwei kleine Schwestern, aber wenn Frieder den Freund meiner Mutter auch F2M2 nannte, war das ein bisschen so, als ob ich noch einen Bruder hätte.
Egal.
Der F2M2 war vor ein paar Jahren bei uns eingezogen, und seitdem baute er das Haus um. Er war einen Kopf kleiner als ich. Ihm waren die Zimmer zu hoch, also zog er überall eine Zwischendecke aus Holz ein. Ein Zimmer nach dem andern. Ich musste ihm dabei helfen. Was völlig hirnrissig war, weil er dauernd darauf hinwies, dass ich eh für alles zu schwächlich und zu ungeschickt sei. »Gib mir mal den Zimmermannshammer! Weißt du überhaupt, was das ist?«
Wegen dem F2M2 hatte ich mir einen eigenen Fernseher gekauft, von dem Job in der Hühnerfarm. Einen kleinen portablen mit einer Teleskopantenne. Wenn ich zuhause war, saß ich in meinem Zimmer und guckte fern. Serien, alte Filme, alles. Sogar den ganzen Heile-Familie-Kram in Schwarzweiß guckte ich mir an, der am Sonntagnachmittag kam. Außer eben, wenn ich dem F2M2 wieder mal helfen musste.
Der F2M2 war Maler von Beruf. Kein Maler, der malen konnte, Landschaften oder Leute oder so was. Sondern einer, der anmalen konnte. Wände und so. Er hatte quasi gelernt, Farbe einigermaßen gleichmäßig zu verteilen, und jetzt war er Malergeselle. Und tapezieren, das hatte er auch gelernt.
Während wir das Wohnzimmer tapezierten, merkte er, dass er sich verrechnet hatte und dass die Tapeten nicht reichen würden. Er fuhr los, um noch mehr Tapeten zu besorgen. Ich hatte meine Verabredung mit Vera abgesagt, und jetzt stand ich auf einmal doof und ohne Vera und ohne Tapeten im Wohnzimmer rum und musste warten, bis der F2M2 zurückkam.
Ich kratzte mit dem Spachtel die Reste der alten Tapete ab, dann holte ich aus dem Keller die braune Farbe für den Haussockel. Auf den blanken Putz der Wohnzimmerwand pinselte ich: ARSCHLOCH DUMM WIE 1m FELDWEG.
Dann begann ich zu tapezieren. Ich wollte nicht, dass der F2M2 mein Gepinsel auf sich bezog, wenn er nach Hause kam. Das würde bloß wieder in einem großen Geschrei enden. Der F2M2 reagierte auf Kritik ziemlich empfindlich.
Ich schnitt ein paar Tapetenbahnen zurecht und leimte sie ein. Ich schob die bunten Karos rauf und runter, bis sie an den Stoßkanten passten, und strich die Bahnen mit der Bürste glatt.
Als der F2M2 wiederkam, war die Schrift hinter der Tapete verschwunden. Eine Wand war fast fertig.
Der F2M2 sagte: »Nicht schlecht.«
Ich fürchtete, die Tapetenbahnen könnten sich wieder lösen und vom schweren Leim nach unten gezogen werden, eine nach der anderen. In Gedanken las ich schon die Schrift an der Wand. Nachdem drei Bahnen abgefallen waren: ARSCHL, WIE 1m. Nach sechs Bahnen: ARSCHLOCH DU, WIE 1m FELDW.
Aber die Tapetenbahnen lösten sich nicht.
Ich sagte: »Ist doch gut, wenn wir beizeiten fertig sind.«
Ich rasierte die Überstände mit dem Tapeziermesser ab.
Der F2M2: »Ich hab Latten besorgt und Paneele. Morgen hängen wir die Decke im Hausgang ab.«
Das war mein Stichwort. Ich packte meine Sachen und fuhr mit dem Fahrrad zu Vera, über die Felder. Am nächsten Tag trampten wir nach Berlin.
Wir fuhren immer wieder mal für ein paar Tage weg. Zu Veras Bruder nach München oder nach Amsterdam oder an den Bodensee. Die Entschuldigungen für die Schule schrieben wir selbst. Vera hatte die Unterschrift meiner Mutter ziemlich gut drauf und ich die Unterschrift ihrer Mutter.
Ich wollte nach dem Abitur so schnell wie möglich nach Berlin. Ich war noch nie in Berlin gewesen. Ich wusste bloß, dass man nicht zur Bundeswehr musste, wenn man da wohnte. Und dass die Mauer irgendwie mittendurch ging.
Wir übernachteten bei einem Bekannten von Veras Bruder. Die Wohnung hatte bloß ein großes Zimmer, das war ganz zugestellt mit Baudielen, Schalbrettern und Absperrgittern. Der Bekannte von Veras Bruder wollte irgendwas daraus bauen, aber ich verstand nicht, was. Ein Zwischengeschoss oder eine Art Fußgängerbrücke quer durch die Wohnung oder so was. Ein großes Zimmer und eine kleine Küche. Vera schlief im Zimmer, ich in der Küche. Vera sagte, das würde vom Platz her nicht anders gehen, und ich wollte es glauben.
Die U-Bahn in Berlin fuhr alle paar Minuten. Man musste gar nicht auf den Fahrplan schauen, bevor man aus dem Haus ging. Man konnte einfach zum U-Bahnhof gehen und einsteigen.
Ich sagte zu Vera: »Schwarzfahren?«
Vera sagte: »Trampen.«
Ich: »In der Stadt? Wie soll das gehen?«
Wir streckten den Daumen raus, aber niemand hielt an.
Ich sagte: »Zehn Minuten. In der Zeit wären drei U-Bahnen gefahren!«
Dann hielt ein Bus. Ein Linienbus, ein gelber Doppelstocker. Es zischte. Die Tür ging auf.
Vera sagte: »Wir haben kein Geld.«
Der Busfahrer winkte uns rein. Es zischte, die Tür ging zu. Der Fahrer schaute in den Rückspiegel, setzte den Blinker und fädelte sich wieder ein in den Verkehr.
Ich sagte: »Wir haben kein Geld.«
Der Fahrer brummte: »Kein Geld kann ich nicht wechseln. Aufrücken, oben ist auch noch Platz!«
Wir guckten uns das Univiertel an, dann gingen wir zum Essen in eine riesige Mensa. Vor der Mensa war ein Schwarzes Brett, vielleicht dreißig Meter lang und zwei Meter hoch. Vera zupfte einen Zettel vom Brett. Ein Zimmer zur Untermiete.
Vera: »Wohnung suchen üben?«
Das Zimmer war eine dunkelbraun verholzte Höhle in einer alten Backsteinvilla. Durch die Gardinen sah man einen Stoppelrasen hinter dem Haus, der war von der Sonne verbrannt.
Die Vermieterin war eine alte Dame.
»Das war das Zimmer von Jürgen. Unser Großer.«
Sie glotzte Vera an, als ob sie noch nie grüne Haare gesehen hätte.
»Das Zimmer ist nur für eine Person«, sagte sie, als wir rausgingen.
»Natürlich«, sagte Vera, »kein Problem. Ich hab ja schon den Studienplatz in Moskau. Philosophie, Marxismus-Leninismus und so weiter.«
Die Alte glotzte wie ein ausgestopfter Falke, in den irgendwer zwei viel zu große Glasaugen gesetzt hatte.
Vera sagte: »Wir wollen uns auf halbem Weg treffen. Wissen Sie vielleicht, wie lang die Bahn von Berlin nach Warschau braucht?«
Der Mund der alten Dame ging auf und zu: »Die Reichsbahn? Von Ostberlin?«
Nach Hause zu trampen dauerte viel länger, als wir erwartet hatten.
Am Grenzübergang standen zwanzig oder dreißig Leute, die auch nach Süden wollten. Sie trugen Pappen vor der Brust, auf denen »München« stand oder »Freiburg« oder einfach »S« wie Stuttgart. Ein Pärchen, das andauernd kicherte, hatte ganz frech »ROM« auf sein Schild gemalt. Nach einer halben Stunde hielt ein Sattelschlepper mit einer italienischen Aufschrift, und die beiden stiegen kichernd ein.
Um Mitternacht hatten wir erst die Hälfte geschafft. Die Raststätte lag in so einem gelben Licht. Wir sahen keinen Menschen. Die Abstände zwischen den Autos auf der Autobahn wurden größer, und manchmal hörten wir für Sekunden keinen einzigen Motor.
Auf dem Parkplatz standen die Laster dicht an dicht.
Wir rollten die Schlafsäcke neben einer Hecke aus und legten uns schlafen.
Ich sagte: »Wenn ich nach Berlin ziehe, besuchst du mich dann?«
Vera sagte: »Na, was denkst du denn?«
Ich: »Willst du mal Kinder?«
Vera: »Du spinnst.«
Sogar der Himmel war gelb vom Raststättenlicht. Ich konnte nicht erkennen, ob es bewölkt war oder nicht.
Dann streichelte Vera meine Wange. Die Sonne knallte durch die Hecke. »Die werden langsam wach. Ich geh mal fragen.«
Sie schlenderte rüber zu den Lastwagen. Ihr Körper schwang beim Gehen ein bisschen hin und her, die schmalen Schultern, die Taille, der Po. Das sah wahnsinnig schön aus. Von mir aus hätte sie noch weiter gehen können als bloß bis zu den Lastwagen. Aber dann hätte ich sie nicht mehr so gut sehen können.
Egal.
Jedenfalls, sie quatschte jeden an, der aus einer Kabine rauskletterte. Die Männer sahen ihr ins Gesicht, wenn sie fragte, und während sie überlegten, ging der Blick erst langsam nach unten und dann genau so langsam wieder nach oben.
Einer nickte kurz und deutete zur Raststätte.
Vera kam wieder. Sie fluchte: »Was krieg ich dafür? Deinen Freund kann ich leider nicht mitnehmen! Ohne Gummi? – Alles Wichser. Der kommt mir okay vor, einigermaßen. Wenigstens hat er bloß geglotzt.«
Der Lastzug hatte Salz geladen. Der Fahrer war beleidigt. Er sagte: »Was kutschier ich morgen durch die Welt? Sand?«
Vera flirtete auf Teufel komm raus. Sie sagte »Salz in der Suppe« und so Zeug.
Das klappte gut. Er fuhr einen Riesenumweg, von der Autobahn runter, zwanzig Kilometer über Land, bis direkt vor die Schule. Um drei viertel acht kletterten wir aus der Fahrerkabine.
Auf dem Schulparkplatz stand Axel, ein paar Schritte neben seiner nagelneuen Karre. Die hatte er zum Führerschein von seinen Eltern bekommen. In der Raucherecke standen die Neuner. Axel führte die ferngesteuerte Zentralverriegelung vor. Niemand hatte ein Auto mit einer ferngesteuerten Zentralverriegelung. Nicht mal einer von den Lehrern. Axel streckte die Hand Richtung Auto und zauberte: Klick, offen. Klack, zu.
Der Sattelschlepper röhrte zum Abschied. Die Neuner warfen erschrocken die Köpfe rum.
In der Eingangshalle zog Vera ein Wunderbäumchen aus der Jacke. Vera klaute alles, was nicht niet- und nagelfest war. Leider immer irgendwelchen nutzlosen Scheiß. Das Wunderbäumchen stank nach Vanille. Unter ihrem T-Shirt holte sie ein Blechschild hervor: »Damen, aufgepasst! Meiner ist 18 Meter lang!«
Sie stöhnte: »Was für ein Blödmann!«, und steckte das Schild in meine Reisetasche.
Ich sagte: »Aber das stimmt doch gar nicht.«
Vera gab mir einen Kuss und sagte: »Te amo.«
Das hieß »Ich liebe dich« auf Latein. Das sagte sie immer, und dann sagte ich: »Und wie heißt das auf Mathe?«
Dann sagte Vera: »Minus mal Minus gibt Plus.«
Leistungskurse Latein und Mathe. Ich fand das eine wahnsinnig tolle Kombination.
Jedenfalls, ich hatte von der Sache überhaupt nichts mitbekommen. Doktor Turnschuh hob zur Begrüßung die Augenbrauen.
»War krank«, sagte ich. Normalerweise drehte er den Blick genervt zur Decke, wenn er mal wieder glaubte, mich beim Schwänzen ertappt zu haben, aber heute reagierte er nicht. Er guckte mich einfach an. Oder in mich rein.
Ich setzte mich an meinen Platz. Frieder war noch nicht da. Doktor Turnschuh begann mit der Stunde, aber er fragte nicht. Frieder kam nicht.
Der echte Name von Doktor Turnschuh war Faller, aber er hieß schon Turnschuh, als wir an die Schule kamen. Also schon ewig. Vorname: Doktor, Nachname: Turnschuh. Nicht Sport, sondern Deutsch, das verwirrte immer alle, die den Namen zum ersten Mal hörten. Doktor Turnschuh, Deutsch.
Turnschuh hatte eine kahle Platte auf dem Kopf und außenrum so einen schmalen haarigen Rand. Also, eher eine Haarsichel oder einen Haarbogen, weil, vorn über der Stirn, da wuchs gar nichts mehr. Wahrscheinlich fühlte er sich zu jung für eine Glatze, dabei war er mindestens schon dreißig. Er ließ die Haare auf der rechten Seite bis zur Schulter runter wachsen, fettete sie ein und legte sie quer über die Platte. Wir wussten nicht, ob es ihm niemand sagte oder ob es ihm egal war. Jedenfalls, die Haare bedeckten die Glatze nie ganz. Die Strähnen schlossen sich immer zu drei etwa bandnudelbreiten Streifen zusammen.
Turnschuh schob die Tafel hoch und schrieb über dem Kopf mit kurzen, heftigen Hieben, so dass der Kreidestaub runterrieselte auf die Haarstreifen: STURM UND DRANG.
Sturm und Drang, Klassik, Romantik, ich konnte mir die Reihenfolge nie merken. Ich verstand nicht, wie das funktionierte mit diesen Epochen. Hatte sich Goethe irgendwann mal vorgenommen, so, genug Klassik geschrieben, das wird mir langweilig, jetzt schreibe ich Sturm und Drang? Außerdem war der Epochen-Name völlig bescheuert. »Sturm und Drang«, das klang wie so eine christliche Teenie-Band.
Jedenfalls: Goethe, Werther.
Turnschuh war knallhart. Ob eine unglückliche Liebe denn tatsächlich ein hinreichender Grund sei, sich das Leben zu nehmen. »Andere Mütter haben auch schöne Töchter, nicht wahr?«
Die anderen sagten nichts. Das Merkwürdige war: Ich konnte sehen, dass es ihnen nicht egal war, was Turnschuh da redete. Ich konnte sehen, dass sie wirklich nachdachten.
Irgendwas war hier faul.
Ob es denn für Selbstmord sonst irgendeinen guten Grund geben könne, fragte Turnschuh. Sein Blick pendelte durch die Sitzreihen. Bei mir blieb er hängen. Ich schaute so konzentriert wie möglich zur Tafel.
»Herr Höppner?«
Woher sollte ich das wissen? Manche Leute brachten sich um. Blöde Sache. Aber warum? Das wusste kein Mensch. Man konnte sie ja nicht mehr fragen. Jedenfalls die, bei denen es geklappt hatte. Die, bei denen es nicht geklappt hatte, die konnte man noch fragen. Aber zählte das, was die sagten? Vielleicht gab es für einen Selbstmordversuch, der schiefging, ganz andere Gründe als für einen Selbstmordversuch, der gelang?
Ich fand das ganze Buch langweilig. Ein Brief nach dem anderen, immer vom gleichen Typen. Erst verknallte er sich in eine Frau, obwohl er genau wusste, dass die schon einen anderen hatte. Und dann jammerte er die ganze Zeit rum, dass sie schon einen anderen hatte. Es war echt erstaunlich, wie kindisch die Erwachsenen zu Goethes Zeiten waren.
Turnschuh sagte noch mal: »Herr Höppner?«
Ich sagte: »Das ist ja Literatur, also ausgedacht. Den Selbstmord am Schluss hätte Goethe auch weglassen können. Den hat er vielleicht bloß hingeschrieben, damit das Ende gut knallt.«
Turnschuh neigte den Kopf zur Seite und sagte: »Interessant.«
Für den spöttischen Ton, in dem er das sagte, hätte er in der Hauptschule eins aufs Maul bekommen. Aber hier waren wir auf dem Gymnasium.
Die Haarstreifen bewegten sich. Erst war es kaum zu sehen, dann rutschten sie von der Glatze, dann hingen sie übers Ohr wie ein sinnloser Fadenvorhang.
Turnschuh fragte: »Frau Schreiner?«
Cäcilia begann zu flüstern. Normalerweise hätten jetzt welche getuschelt und gekichert. Aber heute machte sich niemand darüber lustig, dass sie immer so leise sprach. Normalerweise hätte Turnschuh längst mit einem zackigen Kopfruck die drei Streifen wieder auf die Platte zurückgeschleudert. Jetzt hingen sie einfach runter.
Turnschuh sagte: »Etwas lauter, bitte.«
Cäcilia sprach schneller.
Turnschuh sagte ganz sanft, als ob er sie beruhigen wollte: »Frau Schreiner.«
Dann wurde Cäcilia doch noch laut. Dass sie das einfach nicht verstehen würde. Sie weinte. Ich dachte, dass das doch ein bisschen übertrieben war, wegen so einem Adligen von vor zweihundert Jahren das Heulen anzufangen.
Cäcilia rief: »Das mit Frieder! Das tut mir so leid! Warum hat er das gemacht?«
Die Preispistole hüpfte klackernd von Dose zu Dose. Dritte Reihe, vierte Reihe, nächster Karton. Meine Mutter kniete auf den Fliesen und preiste Konserven aus. Sie sah hoch.
»Na, wieder da?«
»Ich war schon in der Schule.«
Sie zog sich am Holm des Regals hoch.
Meine Mutter fragte: »Und?«
»Was weiß denn ich! Ich fahr gleich ins Krankenhaus.«
Sie ging zwischen den Regalen durch, zog leere Kartons raus und faltete sie im Gehen zusammen. Ich trottete hinterher.
Meine Mutter sagte: »Er ist nicht mehr im Krankenhaus, hat Frau Wittlinger gesagt.«
Das war Frieders Mutter.
Ich fragte: »Wo denn sonst? Die können ihn doch nicht einfach wieder nach Hause schicken!«
Auf einmal dämmerte mir, dass Frieder wahrscheinlich im Irrenhaus war, im Schwarzen Holz. Ich dachte: »Wenn du so weitermachst, kommst du ins Schwarze Holz!« Die Drohung kannte jeder.
Meine Mutter nahm eine Packung Butterkekse, holte ein Netz Mandarinen, ging damit zur Kasse und bezahlte.
»Da hast du was zum Mitbringen.«
Die Klapse lag am Rand der Stadt. Nervenklinik. Irrenhaus. Psychiatrie. Ein alter Bau mit Verzierungen aus Gips außen dran, wie ein kleines Schloss. Als die Klapse gebaut wurde, war noch Wald ringsrum.
Ich war noch nie im Irrenhaus gewesen. Auch nicht als Besucher.
Den Wald gab es schon lange nicht mehr. Von ihm war bloß der Spitzname der Klapse geblieben. Inzwischen lag die Klapse zwischen dem Schlachthof und dem Krematorium, gleich an der Bahnstrecke. Was bescheuert war, weil hier ziemlich viele Züge fuhren. Man hätte den Depressiven, wenn sie Ausgang hatten, genauso gut eine geladene Pistole in die Hand drücken können. Jede Woche hieß es, da sei wieder einer von den Verrückten vor den Zug gesprungen, aber in der Zeitung stand nie was davon. Als Kinder waren wir manchmal mit dem Fahrrad über die Felder bis an den Rand der Stadt gefahren, zu den Schienen. Wir suchten nach Blutlachen, abgetrennten Beinen oder kleineren Körperteilen, aber die vielen Züge machten eine gründliche Suche gefährlich.
Ich fuhr auf dem Gehweg an der hohen Backsteinmauer entlang. Das große Eisentor stand offen. Ich schob das Fahrrad auf das Gelände. Auf den Bänken im Park saßen Leute in Trainingsanzügen und rauchten. Das waren wahrscheinlich die Verrückten. Warum rannten sie nicht einfach davon?
Die Glastür zur geschlossenen Abteilung war geschlossen. Logisch. Der Klingelschalter war so groß wie meine Hand. Ich patschte einmal drauf. Nichts passierte. Ich drückte extra deutlich mit dem Daumen. Es summte.
Eine Krankenschwester brachte mich in den Aufenthaltsraum. Ein Fernseher lief ohne Ton, ein Herr im dunkelblauen Anzug, Weste, weißes Hemd und alles, starrte mit offenem Mund auf den Bildschirm. Da lief irgendein Schwarzweißfilm, Dick und Doof oder so was.
Drei Männer spielten Karten. Eine Frau hoppelte von einer Ecke des Raumes zur anderen, mit einer Blechdose in der Hand. Sie beugte sich über einen Aschenbecherständer und hoppelte wieder zurück in die andere Ecke.
Die Schwester fragte: »Zum ersten Mal in der Psychiatrie?«
Wie sollte so eine kleine Krankenschwester einen Verrückten bändigen, wenn es mal darauf ankam?
»Ja, zum ersten Mal. Also, zu Besuch. Also, zum ersten Mal überhaupt.«
»Hier tut dir niemand was«, sagte die Schwester. »Die Patienten hier sind auch nicht verrückter als wir.«
Sie wies zu einem braunen Kunstleder-Sofa. Ich solle mich setzen, hieß das.
Sie sagte: »Aber wir haben den Schlüssel.«
Sie lächelte.
Ich versuchte, in dem tiefen Sofa möglichst lässig zu sitzen. Ich lehnte mich zurück. Es war irre warm im Irrenhaus. Ich schob die Ärmel hoch. Wenn man genau hinsah, konnte man im Sofapolster kleine Brandlöcher erkennen. Mein Unterarm klebte auf der Armlehne. Ich hob ihn etwas an, bis die Haut sich vom Kunstleder löste. Das ziepte. Ich hielt den Arm in der Schwebe.
Einer von den Kartenspielern nahm einen langen Zug, dann drückte er die Zigarette aus. Sofort hoppelte die Frau hin und klaubte die Kippe aus der Asche. Sie pulte den Tabak aus dem Papier in ihre Dose.
Dann stand Frieder am anderen Ende des Raumes, am Gang zu den Zimmern. Im Schlafanzug. Er kam langsam auf mich zu, ganz steif, die Arme hingen schwer an den Seiten runter, die Hausschuhe schleiften über den Boden. Sie haben ihm einen Stock in den Arsch geschoben, dachte ich. Einen Stock bis hoch ins Hirn.
Das war der Bär, das war übrig von dem Bären, mit dem jeder gern aufs Schützenfest ging und zur Maifeier, weil sein Anblick jeden, der Ärger suchte, sofort beruhigte.
Er setzte sich. Das sah so ungelenk aus, als wären »er« und »sich« zwei verschiedene Personen.
Wer setzte sich?
Er setzte sich.
Wen setzte er?
Sich setzte er.
Ich legte den Unterarm auf der Lehne ab.
»Hallo«, sagte ich. »Wie geht’s?«