Das kulinarische Erbe der Alpen
Enzyklopädie der alpinen Delikatessen
Inhaltsverzeichnis
A
Aargauer Rüeblitorte
Abondance
Abricotine
Absinth
Ackerbohne, Favabohne
Aglio di Resia / Strok
Agneau de Sisteron
Agrest, Verjus
Albeli-Rogen
Alblinsen, Alb-Leisa
Alpenbitter
Alpengemse
Alpenrosen-Honig
Alpines Steinschaf
Alp-Sanddorn
Altreier Kaffee
Andutgel, Bauernsalsiz
Angelika
Anis
Appenzeller Käse
Appenzeller Spitzhauben
Appenzeller Ziege
Arborio
Aromahopfen
Arvenkerne, Zirbennüsse
Arvenschnaps, Zirbengeist
Äsche
Asiago di allevo / Asiago pressato
Ausseer Bergkern-Rauchsalz
B
Badischer Reis, Grünkern
Bagòss di Bagolino
Bärlauchkapern
Bärwurz
Bärwurz-Schnaps aus der Alpen-Mutterwurz
Baselbieter Müsli
Basler Brot
Batavia rouge grenobloise
Bätziwasser
Bayerische Rübe
Bayerischer Senf
Beaufort d’alpage
Belper Knolle
Benita
Berberitze
Bereczky-Quitte
Berg-Bohnenkraut, Winter-Bohnenkraut
Bergchabis / Chou blanc de montagne
Bergfichte
Bergkümmel, Berg-Laserkraut
Berner Rosen (Apfel)
Berner Rosen (Tomate)
Berner Zungenwurst
Bescoin/Biscoin
Bettelmatt
Birnbrotgewürz
Birnbrot, Kletzenbrot, Hutzenbrot
Birnenhonig
Bitto storico
Blancmanger, Mandelsulz
Blaue St. Galler
Blaue Veltlin
Bleu de Gex
Bleu de Termignon
Bleu de Vercors-Sassenage
Bleu du Queyras
Blutwurz, Tormentill
Boutefas
Boxelemehl, Johannisbrotmehl
Bozner Zelten
Bramata
Bratblutwurst
Braunvieh
Brebis brigasque
Bregenzerwälder Alpkäse
Brenzer Kirsch
Bresaola
Brez’n
Brünnerling
Bucheckernöl, Öl aus Buchennüssen
Buchweizen, Heidekorn
Buchweizenhonig
Bündnerfleisch
Burgermeisterli
Burgunder-Trüffel
Büscion
Buttenmost
C
Capra grigia, Graue Bergziege
Caprinello
Caprino ossolano
Cardon argenté épineux du Plainpalais
Castelmagno
Cavolo nero, Schwarzkohl, Palmkohl
Chanzet du Pays d’Enhaut
Chartreuse
Chevrotin des Aravis
Chüsenrainer
Ciuighe del Banale
Comice
Coppa, geräuchert
Corne de gatte
Cuchaule
D
Damassine
Diepholzer Gans
Dinkel, Spelz
Dinkelreis
Distelöl, Safloröl
Dörrbohnen
Dörrkastanien
Dost, Alpenoregano
Drusenzelten
E
Echter Beinwell
Echter Steinklee
Eglibottarga, Flussbarschbottarga
Einkorn
Elsbeere
Emmentaler
Emmer
Eppich, Sellerie
Erdbeerspinat
Eringer
F
Farina bóna
Feldsalat (D), Nüsslisalat (CH), Vogerlsalat (A) oder Vogelsalat (I-Südtirol)
Fellenberg-Zwetschgen
Fischlebern
Flageolet
Formaggini della Valle di Muggio
Frâche
Franzosenkraut, kleinblütiges Knopfkraut
Fraurothacher
Fuatscha grassa
Furmagin da Cion
G
Gangfisch
Gänseschmalz
Gartenmelde
Garten-Sauerampfer
Gâteau de Savoie / Bisquit de Savoie
Geissbart, Waldgeissbart
Gelbe von Thun
Gelbe von Triest
Gemsfarbige Gebirgsziege
Génépi
Germanenwurz, Pastinake
Gewöhnliche Felsenbirne
Gewöhnlicher Knollenkümmel, gewöhnliche Erdkastanie
Gewöhnliches Hirtentäschel
Ghürotne
Glarner Kalberwurst
Glarner Schabziger
Gniff
Goldmelisse, Monarde
Grataron d’Arêches / Graitariron
Graukäse
Graumohnöl
Grauvieh
Griebenschmalz
Grubenkraut
Gruyère d’alpage
Gsig, Sig, Älplerschokolade
Gundermann / Echte Gundelrebe
H
Haferpflaume, Prünelle, Kriechenpflaume, Kriecherl
Haferwurzel/Purpur-Bocksbart/Habermark
Hanföl
Hasel
Hinterwälder
Hirschbirne
Hobelkäse
Holderküchlein
Hölzige Geiss
Hopfensprossen, Hopfenspargel
Höri-Bülle
Huchen
Hüppen/Hippen
I/J
Illzer Rosenapfel
Jaglačaist, Breinwurst
Jaune de Savoie
Jersey blue
K
Käferbohne, Feuerbohne
Kaminwurz
Kärntner Reindling/Pogača/Gubana
Karpfenmilch
Kartoffelmehl
Kastanienhonig
Kerbelrübe, Knolliger Kälberkopf
Kesch, Toma di Gressoney
Kirschpflaume/Myrobalane
Kirschstengeli
Knieküchle, Auszogne
Knoblauchrauke, Lauchhederich
Knollenziest
Kornelkirsche
Kranjska Klobasa, Krainerwurst
Kraški pršut, Karstschinken
Krautinger
Kren, Meerrettich
Kriecherlbrand
Kubebenpfeffer
Kübelfleisch, Prleška tünka
Kürbiskernmehl
Kürbiskernöl
Küttiger Rüebli
L
L’Etivaz
L’Olio del Garda
Lammbries
Lammlidji/Schaflidji/Schaflittli
Langer Pfeffer
Lardo di Arnad
Latschen/Latschenlikör
Lauerzerkirsche, Rigikirsche
Lavantaler Bananenapfelbrand
Lavaret
Le Maréchal
Lebkuchen, Lebzelten
Lebkuchengewürz
Leindotteröl
Leinöl, Leinsamenöl
Lesachtaler Brot
Liebstöckel
Linthmais
Lionga di tartuffels
Liwanzen
Löhrpflaume
Longeole
Luganigha, Lugànega, Luganica
Lungauer Rahmkoch
M
Mädesüss
Magenträs, Trietpulver
Maigold
Mangold, Krautstiel
Marmorataforelle
Mascarpin, Mascarplin, Mascalpel
Mehlbeerenbrot
Meisterwurz
Miassa
Milzwurst
Mispel
Missoltini
Mohant
Mohnsamen
Mont Vuilly
Montasio
Mortadella di fegato
Moschusschafgarbe, Iva
Mostbröckli
Motsetta di capra
Moutarde aux noix / Baumnuss- oder Walnusssenf
Moutarde de Bénichon
Mühlistein
Murmeltier
Murnau-Werdenfelser
Mustardella delle Valli Valdesi
N/O
Nacktgerste
Nägeliapfel/Palmapfel
Nillon/Nion
Noix de Bruis
Noix de Grenoble
Nusswasser
Osterpinze
P/Q
Palabirne
Pane ticinese
Pannonischer Safran, Aargauer Safran
Papet vaudois
Parli
Patate Verrayes
Persillé du Haute Tarantaise / Bleu de Tignes
Persipan
Pferdeeppich, Alisander, Gespenst-Gelbdolde
Pinzgauer Rind
Piora, Tessiner Alpkäse
Pizzoccheri
Platterbse, Saat-Platterbse
Poire à Botzi
Poire Sarteau
Pormonaise/Pormonier
Portulak
Poulet de Bresse
Puina
Purpurenzian, Enzianschnaps
Pusterer Breatl
Pustertaler Schecken, Pustertaler Sprinzen
Quendel, Thymian
Quittenpästli/Quittenkäse
R
Radic di Mont
Rapsöl
Räucherziger
Reblochon de Savoie fermier
Rhabarber
Ribelmais, Riebelmais
Riso nostrano ticinese
Riso rosso
Riso San Andrea
Riso venere
Robinien- oder Akazienhonig
Rockenbolle, Schlangenknoblauch
Rohmilchbutter
Rollgerste, Graupen, Mehrzeilige Gerste
Römische Schmalzbirne
Ronde de Montignac
Rosa di Gorizia
Röseler
Rosoli/Röteli/Rosoglio
Rotauge
Rote Donaunuss/Rote Gublernuss
Roter Holunder
S
Saanenziege
Saiblingskaviar
Saint-Marcellin
Saras del fen
Saucisse au foie
Saucisse aux choux
Saucisson vaudois
Sauergrauech
Saure Pflaumen / Essigzwetschgen
Sbrinz
Schattenmorelle
Schinkenwurz, Gemeine Nachtkerze
Schlangenknöterich
Schlipferkäse
Schlorzifladen/Birnenfladen
Schlüsselblumentee
Schnalser Nudeln
Schöne von Einigen
Schuastabuam
Schüttelbrot
Schuxen, Schuxn
Schwäbische Seele
Schwarze Nüsse / Johanninüsse
Schwarzhafer/Waldhafer
Schwarznasenschaf
Schwarzwurzel, echte oder spanische
Schwefelbohne
Schweizer Wasserbirne
Schwinigi Stückli
Schwoasnudeln oder Bluatnudeln
Selchroller/Rollbraten
Sel des Alpes
Sept en gueule
Siedwurst/Chruutwurst
Signalkrebs
Soglio
Spalenkäse
Spampezi
Spanische Nierli
Speckbirne
Speierling
Spitzwegerich
Springerle, Anisbrötli
St. Galler Brot
St. Galler Kalbsbratwurst
Stanser Fladen
Steckerlfisch/Staberlfisch
Steckrübe/Kohlrübe
Steirerkäse, Steirerkas
Stengelkohl, Cime di rapa
Stockwurst
Subirer
Südtiroler Speck
Sulmtaler Huhn
Sura Kees
Suufi/Brossa
T
Taillé au greubons
Talggen
Tannensprossenhonig
Taubenkopf-Leimkraut
Tauernroggen
Tête de moine
Teufelskrallen
Theilersbirne
Tilleul des Barronies
Tilsiter
Tirggel, Züri-Tirggel
Tiroler Spitzlederer
Tiroler Zelten
Tirtlen, Tirtln, Türschtlan
Tisner Kastanien, Tisner Keschtn
Toggenburger Ziege
Tolmin-Käse
Tombea
Tome de Bauges
Tomme/Tome/Toma/Tuma/Mutschli
Tomme vaudoise, Tomme fleurette
Topinambur, Erdartischocke
Torrone
Triester Broccoli
Trüsche, Aalquappe, Quappe
Tüpfelfarn/Engelsüss
Turopolje
V
Vacherin fribourgeois
Vacherin Mont d’Or
Vermouth de Chambéry
Verveine-Würzöl
Villnösser Schaf
Vin cuit
Vinschger Marille
Vinschger Paarl
Vogelbeere
W
Wacholderlatwerge
Walderdbeere
Waldmeister
Waldstaudenkorn
Walliser Landschaf
Walliser Roggenbrot
Walser Kraut
Weisse Herzkirsche
Weisse Lötschentaler
Weisslacker
Weisswurst
Wiener weisser Glas – Kohlrabi
Wiesenbärenklau
Wiesenschaumkraut
Wilde Möhre
Wildschönauer Stoppelrübe
Wirsing, Wirz, Welschkohl, Chou frisé
Wisbirer, Husbirer
Wollschwein
Wurzelpetersilie
Z
Zgornjesavinjski želodec
Zibarte/Ziparte/Zyberli/Seiberl
Zigerklee, Brotklee, Zigeinerklee
Zincarlin
Zitronenbirne
Zopf/Züpfe
Zuckerwurzel
Zuger Rötel
Sieben Jahre in den Alpen
Von Hundsärschen und Hasenöhrchen, von Schafsmäulern und Saubürzeln
Viele verdrängte, vergessene und verschollen geglaubte Delikatessen sind in dieser Enzyklopädie zu entdecken, aber auch viele weitverbreitete, wundervolle und wegweisende Produkte und Speisen. Als Fortsetzung unserer beiden Bücher über das kulinarische Erbe der Alpen wollen wir diese Fundgrube, für die wir sieben Jahre lang den ganzen Alpenraum bereist haben, mit allen teilen, die wir für die Geschichte unserer Ernährung und den mit ihr verbundenen Reichtum begeistern können. Als handlicher Führer soll diese Enzyklopädie vor allem aber all jenen innovativen und leidenschaftlichen Produzenten eine nachhaltige Plattform bieten, in deren Händen die Zukunft unserer Ernährungsvielfalt liegt.
Eine Vielfalt, deren Ursprung zwar weit in der Vergangenheit zu suchen ist, deren Verbreitung und Weiterentwicklung aber in erster Linie dem Aufstieg der Naturwissenschaften, technischen Errungenschaften und der Revolutionierung der Landwirtschaft zu verdanken ist. Denn die Geschichte der grossen Mehrheit der in diesem Buch beschriebenen Produkte beginnt erst in der Neuzeit. So wie aus den Kartoffelknollen aus der Neuen Welt in den Tälern der Alpen neue Sorten entstanden sind, so haben Gärtnerinnen, Bauern, Züchter und Tüftler auch aus den einheimischen Gewächsen durch sorgfältige Selektion und mit viel Geduld neue Gemüse entwickelt, neue Obstsorten herangezogen und Tiere zu neuen Rassen eingekreuzt. Müller, Bäcker und Konditoren haben über Jahrhunderte die Herstellungsprozesse der Brote und Gebäcke weiterentwickelt, Hirten und Käser die Verarbeitung der Milch perfektioniert, Viehzüchter und Metzger die Veredelung des Fleisches vorangetrieben und Köchinnen und Gastronomen die Kombination der Zutaten immer und immer wieder neu ausgetestet. Was sie alle hoffentlich auch in Zukunft weiterhin tun werden. Neue Sorten wird es auch künftig geben, so wie neue Tierrassen, neue Geschmackskombinationen und neue Speisen. Doch bei aller Freude am Fortschritt darf man nicht vergessen, dass dies nur möglich sein wird, wenn wir alles daran setzen, die alte Vielfalt auch zu erhalten. Oder vereinfacht gesagt: Ohne alte Apfelsorten entsteht kein neuer Apfel.
Das ist auch der Grund, weshalb wir in diesem Buch einerseits essbare Wildpflanzen beschreiben, die der Mensch schon vor Tausenden von Jahren genutzt hat. Oder Getreide und Gemüse, die schon seit Menschengedenken angebaut werden. Aber anderseits auch Früchte, Würste, Käsesorten oder Gebäcke, die selbst unsere Grosseltern noch nicht gekannt haben, da sie erst in den letzten Jahrzehnten entstanden sind oder entwickelt wurden. Denn hätte der Bauer wirklich immer nur das gefressen, was er kannte, würden wir heute noch fade Hafersuppe schlürfen und an besseren Tagen vielleicht an zähem, talgigem Rindfleisch aus dem Rauchfang nagen. Und dennoch halten wir es im Grundsatz mit dem Bauernsprichwort: Erst wenn wir kennen, was wir essen, können wir es auch geniessen.
Deshalb sind in diesem Buch all die Produkte drin, die der Bauer früher kannte, aber auch all jene, die er kennen und schätzen gelernt hat. Und selbstverständlich auch jene, von denen er – aus was für Gründen auch immer – irgendwann nichts mehr wissen wollte. Wie etwa vom Knoblauchhederich, der wohl ältesten einheimischen Gewürzpflanze des Alpenraums. Ein Kraut, das noch im 19. Jahrhundert auf vielen Höfen angebaut wurde, das man heute aber fast ausschliesslich wildwachsend findet. Ein würziges Kohlgewächs, das erst in den vergangenen Jahren wiederentdeckt wurde und mittlerweile wieder vielseitig verwendet wird. Ebenso wie all die in der Erde schlummernden und essbaren Wurzeln und Knollen, die nach der Ankunft der Kartoffel ab dem 18. und 19. Jahrhundert vom Acker und aus der Küche verschwunden sind: die Kerbelrübe wie auch die Schinkenwurz, die wiederentdeckte Topinambur ebenso wie der als Erdkastanie bezeichnete Knollenkümmel oder der früher als Schweinerübe bekannte Sumpfziest.
Noch deutlicher zeigt sich aber die Vielfalt des Alpenraums bei jenen Lebensmitteln, auf die der Bauer nie verzichten konnte. Wie etwa beim Obst. Kaum eine Gegend, in der in den vergangenen zwei bis drei Jahrhunderten nicht eigenständige, charaktervolle Birnen- oder Apfelsorten herangezüchtet wurden – oder die als Zufallssämlinge entstanden sind. Früchte, die als Most-, Dörr- oder Brennobst heute wieder sortenrein vermarktet werden und die das Angebot an regionalen Delikatessen mehr als bereichert haben. Dazu gehören etwa die kleinen, eingelegten Poires à Botzi aus dem Schweizer Kanton Freiburg, die Hirsch(t)birnen aus der Steiermark, die Palabirne aus dem Südtirol, die Innerschweizer Theilersbirne oder die Poire Sarteau, eine traditionelle Marmeladenbirne aus den Alpes-de-Haute-Provence. Und bei den Äpfeln stehen etwa der österreichische Brünnerling, der Schweizer Sauergrauech, der Lavantaler Bananenapfel oder der Tiroler Spitzlederer für die neu entdeckte Obstvielfalt. Jede dieser Früchte erzählt wieder eine andere Geschichte.
Weit grösser ist das Angebot an Früchten und Sorten, als wir mit diesem Werk aufzeigen können. Ausgewählt haben wir deshalb viele von jenen, die für innovative Produzenten spannend sind und die ihnen in der sich weiter globalisierenden Landwirtschaft eine Zukunft bieten. Weil sie sich als Nischenprodukte auch in einer leistungsorientierten Agrarwirtschaft behaupten können.
Eine üppige Vielfalt bietet diese Enzyklopädie auch bei den wiederentdeckten Getreiden, ihren regionalen Varietäten und den wiederentdeckten Traditionszerealien: Linthmais ist dabei und Tauernroggen, Schwarzhafer oder Nackthirse, aber auch Emmer, Einkorn oder Dinkel. Und dass diese ursprünglichen Musgetreide oft mit Gemüse zusammen kombiniert wurden, das im Alpenraum schon immer eine zentrale Rolle in der Ernährung gespielt hat, zeigen auch die unzähligen Sorten an Weisskohl, Rüben, Kartoffeln oder Zwiebeln bis hin zu den stark aus dem norditalienischen Raum beeinflussten Salatpflanzen. Oder kennen Sie den Radicchio rosa di Gorizia, den wildwachsenden Radic di Mont aus dem Friaul oder den von italienischen Immigranten gezüchteteten Batavia rouge grenobloise aus den französischen Westalpen? Oder aus der gleichen Gegend die ausgezeichnete Marmeladenzwiebel «Jaune de Savoie», der nur die Höri-Bülle von der deutschen Halbinsel Höri am Bodensee das Wasser reichen kann? Umfangreich sind heute die Standardwerke allein über Früchte und Gemüse, die beispielsweise von Organisationen wie der österreichischen Arche Noah oder den schweizerischen Vereinigungen Pro Specie Rara und Fructus sowie den zahlreichen Convivien der Slow-Food-Bewegung publiziert worden sind. Wer sich allein mit Früchten oder mit Gemüse und ihrer unglaublichen Vielfalt beschäftigen will, dem seien die umfangreichen Bücher wie das «Lexikon der alten Gemüsesorten» (AT-Verlag 2014), «Früchte, Beeren, Nüsse – Die Vielfalt der Sorten» (Haupt-Verlag 2011) oder «Handbuch Bio-Gemüse, Sortenvielfalt für den eigenen Garten» (Löwenzahn-Studienverlag 2010) wärmstens empfohlen.
Gewürze, Hülsenfrüchte und Honige, wenig bekannte Getränke wie der «Ghürotne» (eine Mischung aus saurem und süssem Most), süsse Senfe aus Bayern oder dem Schweizer Kanton Freiburg oder unzählige weitverbreitete und traditionellerweise im ganzen Alpenraum mit Anis gewürzte Produkte ergänzen die alpine und voralpine Vielfalt an urtümlichen Produkten ebenso wie seltene und regionaltypische Pflanzenöle. Wie etwa L’Olio del Garda, ein seit der Römerzeit bekanntes Olivenöl, das aus den Früchten der weltweit am nördlichsten gelegenen Olivenbäume gepresst wird. Oder das Graumohnöl aus dem österreichischen Weinviertel und das vor allem im Bio-Landbau wiederentdeckte Leindotteröl.
Umfangreich ist das Angebot auch bei den verarbeiteten Produkten, auch wenn wir uns in einigen Produktegruppen etwas zurückgehalten haben. Bei den Gerichten haben wir nur einige Handvoll übernommen und nur dann, wenn sie für die Vielfalt der im gesamten Alpenraum vorhandenen Grundzutaten stehen. Umso wichtiger ist uns eine repräsentative Auswahl spezieller und regionaltypischer Brote. Doch wollten wir alle regionalen Brote, Süssgebäcke oder Mehlspeisen des Alpenraums in all ihren noch so geringen Unterschieden beschreiben, würde dies selbst diesen enzyklopädischen Rahmen sprengen. Das bezeugt auf eindrückliche Weise etwa das allein für die Schweiz erstellte und frei zugängliche Internetarchiv über das kulinarische Erbe der Schweiz (www.kulinarischeserbe.ch). In mehrjähriger Forschungsarbeit und mit millionenschwerer Unterstützung hat ein Historikerteam für mehrsprachige Leser ein schwergewichtig umfangreiches Brot- und Guetsliarchiv erarbeitet, in dem all die Gebäcktraditionen gut die Hälfte der darin beschriebenen Produkte ausmachen.
Viel Platz nimmt in unserer Enzyklopädie insbesondere der Käse ein. Die Produktegruppe also, die wie keine andere vom starken Austausch an Viehrassen und Herstellungstechniken sowie von der ewigen Wanderschaft der Hirten, Nomaden und Landarbeiter im Alpenraum erzählt. Etwa von den ungezählten weichen und harten Käsen aus der Milch des weitverbreiteten und aus der Gegend des Innerschweizer Klosters Einsiedeln stammenden Braunviehs, das von Slowenien bis Bayern die Alpwirtschaft lange dominiert hat und heute noch von grosser Bedeutung ist. Erzählt wird von Käsen, die mit Safran gewürzt und mit Leinöl gepflegt werden, von solchen, die man mit Kümmel oder Kräutern einreibt, und von anderen, denen blauer, weisser oder grauer Schimmel ihren eigenständigen Charakter verleiht. Sie heissen Bettelmatt, Belper Knolle oder Bagòss di Bagolino, Beaufort d’alpage oder Bergfichte, Bleu du Queyras oder Büscion, um nur einen Teil all jener in diesem Buch beschriebenen Käse aufzuzählen, die allein unter dem Buchstaben B beschrieben werden.
Auch finden sich in diesem Buch die unzähligen und regional sehr unterschiedlichen Trivialnamen, die einzelne Produkte im Alpenraum über Jahrhunderte erhalten haben. Namen, die viel erzählen über die Form der Produkte, ihre Geschichte und selbst darüber, dass man ihrer gelegentlich auch überdrüssig war. Wo beispielsweise noch «Hundsärsche» gegessen werden und wo «Saubürzel» oder wo «Hasenöhrchen» und wo «Schafsmäuler», darauf verweisen die Seitenzahlen im umfangreichen Produkteverzeichnis hinten in diesem Buch ab Seite 315.
Wir sind überzeugt davon, dass die Wiederentdeckung von zig Tausenden von traditionellen und oft regional sehr unterschiedlichen Produkten und Sorten noch längst nicht abgeschlossen ist. Auch ihre Geschichte ist noch nicht zu Ende erzählt. Auf unserer siebenjährigen Reise durch den Alpenraum haben wir Woche für Woche, wenn nicht Tag für Tag immer wieder spannende Delikatessen entdeckt, von denen jede einzelne ihre Spuren in den Koch- und Ernährungstraditionen ihrer Region hinterlassen haben. Die Gärten, Äcker, Wiesen und Wälder sowie die Vorratskammern des Alpen- und Voralpenraums bergen Schätze in sich, die erst im Ansatz gehoben worden sind. Dieses Buch soll dazu beitragen, diese Preziosen und ihre Produzenten wiederzuentdecken, so dass unser kulinarisches Erbe nicht nur in Archiven und in Erzählungen weiterlebt. Sondern auf unseren Märkten, in unseren Küchen und an unseren Tischen. Und vor allem in unseren Sinnen.
Dominik Flammer & Sylvan Müller
Vitznau und Kriens, im Oktober 2014