Mia fühlte Katies weiche Wange an ihrem Gesicht. Sie spürte die Form ihrer Brust, die schmalen Schultern, die aufrechte Haltung – Katie musste sich vor ihrer Schwester auf die Zehen stellen.
Mia und Katie umarmten einander selten. Es hatte eine Zeit gegeben, als Kinder, da waren sie ganz unbefangen miteinander umgegangen – da hatten sie sich, Hüfte an Hüfte, in denselben Sessel gedrängt, sich gegenseitig dünne Zöpfchen geflochten und helle Bänder daran befestigt, auf warmem Sand liegend die Finger verschränkt und so getan, als würden sie fliegen wie zwei Engel. Irgendwann hatte Mia die Fähigkeit verloren, körperliche Nähe zuzulassen. Katie hatte ihre warme, im wahrsten Sinne des Wortes berührende Art beibehalten, sie umarmte oder küsste ihre Freunde zur Begrüßung, und oft legte sie anderen Menschen einfach eine Hand auf den Arm, um diejenigen in eine Unterhaltung mit einzubeziehen.
Auf diese Weise umarmt hatten sie sich zuletzt vor einem Jahr, an dem Morgen, als ihre Mutter beerdigt worden war. Harsche Worte waren gefallen, auf einem Treppenabsatz in dem Haus, in dem sie ihre Kindheit verbracht hatten. Schließlich hatte Katie die Arme ausgebreitet, dabei hätte diese Geste von Mia kommen müssen. Sie hatten sich umklammert, beide in Schwarz, und befreit einen Waffenstillstand herbeigeflüstert. Ihn aber nicht aufrechterhalten.
Als sie sich nun im Abflugbereich von Heathrow in den Armen lagen, schnürte es Mia die Kehle zu. Tränen brannten in ihren Augen. Sie richtete sich auf und machte sich von Katie los. Sie mied ihren Blick, als sie den Rucksack hochhob, ihn sich über die Schultern hievte und ihr Haar unter den Gurten hervorzog.
»Dann ist es also so weit«, sagte Katie.
»Sieht so aus.«
»Hast du auch alles?«
»Ja.«
»Reisepass? Tickets? Bargeld?«
»Alles.«
»Und Finn triffst du jetzt gleich?«
»Ja.« Es war so verabredet, damit er und Katie sich nicht über den Weg laufen mussten. »Danke, dass du mich gebracht hast«, fügte Mia gerührt hinzu, weil Katie sich den Tag dafür freigenommen hatte. »Das wäre nicht nötig gewesen.«
»Ich wollte mich richtig von dir verabschieden.« Katie trug einen perfekt sitzenden schwarzen Hosenanzug unter einer leichten Kamelhaarjacke. Sie steckte die Hände in die großen Taschen. »Ich hab sowieso das Gefühl, dass ich dich in letzter Zeit kaum noch gesehen hab.«
Mias Blick wanderte zu Boden: Sie hatte Gründe gesucht, von Katie fernzubleiben.
»Mia«, sagte Katie und trat einen kleinen Schritt vor, »du hattest wahrscheinlich nicht das Gefühl, dass ich mich mit dir freue – auf deine Reise. Aber es ist für mich sehr schwierig, dass du so lange weg sein wirst. Das ist alles.«
»Ich weiß.«
Katie nahm Mias Hände. Katies Finger waren warm und trocken von den Jackentaschen, Mias Hände waren klamm. »Es tut mir leid, dass London nicht das Richtige für dich ist. Ich hab das Gefühl, dich dazu gedrängt zu haben.«
Katie spielte mit Mias silbernem Daumenring. »Ich dachte nur, nach dem Tod von Mum wäre es gut, wenn wenigstens wir zusammenblieben. Ich weiß, dass die letzten Monate schwer für dich waren – und es täte mir wirklich leid, wenn du geglaubt hast, du könntest nicht zu mir kommen.«
Ein öliges Schuldgefühl glitt durch Mias Kehle. Wie hätte ich zu dir kommen können?
An dem Tag, an dem sie sich zu dieser Reise entschieden hatte, war sie im Badezimmer aufgewacht, auf dem Fußboden, das Gesicht an die kühlen Kacheln gedrückt. Es hatte nach Bleiche gerochen. Ihr Kleid – das Jadegrüne von Katie – hatte sich um die Taille gewickelt, ihre Schuhe lagen herum, einer unter dem Waschbecken, der andere auf dem Fußhebel des Mülleimers.
Katie, in ein hellblaues Handtuch gewickelt, hatte im Türrahmen gestanden. »Oh, Mia …«
Ihr hatte der Schädel gedröhnt, und der bittere Geschmack von Alkohol hatte pelzig auf ihrer Zunge gelegen. Sie hatte sich aufgerichtet, und in dieser Sekunde war ein hämmernder Schmerz in ihre Schläfen gefahren. Momentaufnahmen vom Vorabend waren vor ihrem geistigen Auge erschienen: die schummerige rote Kneipe, die leeren Whiskygläser, der schwüle Beat eines R&B-Tracks, ein moschusartiger Schweißgeruch, eine neue Runde, begeistertes Männergegröle, ein vertrautes Gesicht, die unbezwingbare Lust auf Gefahr. Sie hatte sich ihre Handtasche über die Schulter geschwungen, den Rest Whisky hinuntergekippt, und war in einen dunklen Korridor getorkelt. Die Erinnerung an das, was dann geschehen war, war so intensiv, so beschämend, dass ihr gar keine Wahl geblieben war. Sie musste fort. Aus London. Von ihrer Schwester.
Ein Passagieraufruf, der über die Lautsprecher dröhnte, riss sie aus ihren Gedanken.
Katie sagte: »Ich mach mir Sorgen um dich, Mia.«
Sie zog ihre Hand zurück und tat so, als müsste sie den Rucksack zurechtrücken. »Ich komm schon klar.«
Ein Paar mittleren Alters hetzte an ihnen vorbei. Mit einem gemurmelten »Große Güte!« schob der Mann eilig einen Gepäckwagen hinter seiner Frau her, die Mühe hatte, auf ihren hohen Absätzen zu gehen. Ihre Finger krallten sich um die Tickets. Dann sah der Mann zu Katie. Die Männer konnten einfach nicht anders. Sogar wenn sie zu ihrem Flugzeug hetzten und die Ehefrau an ihrer Seite war – sie mussten Katie ansehen. Sie zog die Männerblicke wie Honig die Bienen an, oder Scheiße die Fliegen, wie Mia einmal in ihrer Rage gesagt hatte. Es lag nicht nur an Katies zierlicher Figur und dem honigblonden Haar, es lag an ihrem sonnigen Selbstvertrauen. Es strömte ihr aus allen Poren: Ich weiß, wer ich bin.
Katie bemerkte den bewundernden Blick nicht. Sie war abgelenkt. Finn kam auf sie zu, in seinem üblichen Outfit aus T-Shirt, Jeans und Converse, einen abgewetzten, armeegrünen Rucksack lässig über einer Schulter.
Katie trat einen kleinen Schritt zurück, stellte sich neben Mia und schob die Hände in die Taschen.
Finns Blick wanderte langsam über die beiden Frauen. Dann verzogen sich seine Lippen zu einem breiten, entspannten Lächeln. »Die Greene-Schwestern!« Falls es auf seiner Seite so etwas wie Beklommenheit gab, zeigte er es jedenfalls nicht. »Katie, kommst du mit?«
»Ich werde eure Reise in all den E-Mails miterleben, die mir Mia schickt.«
Mia grinste. »Hab den Wink verstanden.«
Ein Fahrzeug, das Gepäckwagen hinter sich her zog, rollte piepend auf sie zu. Sie mussten sich zu dritt aneinanderdrängen.
»Und, wie geht’s so?«, fragte Finn Katie. »Ist lange her.«
»Ja, wohl wahr. Alles bestens, danke. Viel Arbeit. Aber gut. Und bei dir? Wie geht’s dir?«
»Ziemlich gut, wenn ich mir vorstelle, dass ich ein Jahr frei- habe.«
»Das könnt ihr wohl beide sagen. Also, zuerst nach Kalifornien?«
»Ja, ein paar Wochen an der Küste entlang. Und dann Australien.«
»Klingt großartig. Ich bin echt neidisch.«
Wirklich?, fragte sich Mia. Würde Katie so was tun? Sich das Leben auf den Rücken schnallen und ohne Ziel und Plan von Ort zu Ort ziehen?
»Okay«, sagte Katie und zog die Wagenschlüssel aus ihrer Handtasche. »Ich muss los.« Sie schaute zu Finn, ihr Ausdruck wurde ernst. »Du passt mir gut auf sie auf, klar?«
»Warum bittest du nicht gleich einen Goldfisch, einen Piranha zu hüten?«
Katie entspannte sich ein wenig. »Bring sie mir nur heil zurück.«
»Versprochen.« Er beugte sich vor und küsste sie auf die Wange. »Mach’s gut.«
Sie nickte rasch, die Lippen aufeinandergepresst. »Und du rufst an?«, sagte sie zu Mia. »Hast du dein Handy dabei?«
»Ich nehm’s nicht mit.« Als sie Katies missbilligende Miene sah, fügte sie rasch hinzu: »Das ist mir im Ausland zu teuer.«
»Ich hab meines dabei, falls du uns brauchst«, sagte Finn. »Hast du meine Nummer noch?«
»Ja. Ja, ich glaub schon.«
Dann herrschte Schweigen. Mia fragte sich, was Katie wohl den restlichen Tag so machen würde. Sich mit einer Freundin auf einen Kaffee verabreden? Ins Fitnessstudio gehen? Sich mit Ed zum Mittagessen treffen? Sie musste offen zugeben, dass sie keine Ahnung hatte, was ihre Schwester in ihrer Freizeit unternahm.
»Sagst du Bescheid, wenn ihr gut angekommen seid?«
»Klar«, erwiderte sie mit einem unwillkürlichen Schulterzucken. Eigentlich hätte sie Katie gern gesagt, dass sie sie liebte, dass sie ihr fehlen würde, doch das konnte sie nicht in Worte fassen. So war es ihr immer ergangen. Stattdessen hob sie die Hand und winkte, dann drehte sie sich um und ging. Mit Finn.
Mia drückte die Nase an das Fenster und beobachtete, wie London unter den weißen Tragflächen verschwand. Sie stiegen durch dichte Wolken hoch, die nach und nach die Sicht verschluckten. Mia sank zurück in ihren Sitz. Langsam beruhigte sich ihr Puls. Sie war fort.
Das Reisetagebuch lag auf ihrem Schoß. Es stammte vom Camden Market, von einem Stand mit Wetterfahnen, Karten und alten Taschenuhren. Der meerblaue Stoffeinband und kräftiges, cremefarbenes Papier, das nach Verheißung roch, hatten Mia angelockt.
Sie schlug es auf, drückte ihren Kugelschreiber gegen das Schlüsselbein und schrieb die ersten beiden Zeilen.
Die meisten Menschen verreisen aus zwei Gründen: Sie suchen etwas, oder sie fliehen vor etwas. Für mich gilt beides.
Dann steckte sie das Tagebuch in die Sitztasche, zu der laminierten Karte mit den Sicherheitshinweisen, und schloss die Augen.
Beim Sinkflug über die Gebirgskette der Sierra Nevada schaute Mia wieder hinaus auf die Wolken. Sie sahen so flauschig und einladend aus, am liebsten wäre sie in die Wolken eingetaucht, um in dem weichen Gefühl zu baden und mit dem Wind zu treiben.
»Leider nicht so weich, wie’s aussieht«, sagte Finn, als könnte er ihre Gedanken lesen.
Finn Adam Tyler war ihr bester Freund, und das, seit sie sich im Alter von elf Jahren im Schulbus begegnet waren. Der Anruf, bei dem sie ihm gesagt hatte, dass sie auf Reisen gehen wolle, lag nun einen Monat zurück. Sie hatte in der Küche gesessen, auf der Arbeitsplatte, die Fersen gegen die Kühlschranktür gestützt. Als Finn ans Telefon gegangen war, hatte sie nur gesagt: »Ich hab einen Plan.«
»Was brauche ich dafür?«, hatte er erwidert, so wie früher, in ihren Teenagerzeiten, als die Regel galt, dass jeder Plan, den einer von ihnen erdachte, von dem anderen befolgt werden musste.
Sie hatte gegrinst. »Deinen Reisepass, ein Kündigungsschreiben, einen Rucksack und eine Typhus-Impfung.«
Am anderen Ende der Leitung war es still geworden. Dann: »Mia, was hast du getan?«
»Zwei Round-the-World-Tickets reserviert: Amerika, Australien, Neuseeland, Fidschi, Samoa, Vietnam und Kambodscha. In vier Wochen geht es los. Bist du dabei?«
Schweigen. Es hing so lange zwischen ihnen, dass sich Mia gefragt hatte, ob sie zu impulsiv gewesen war und er sagen würde, dass er nicht einfach alles stehen und liegen lassen könne.
»Die Typhusimpfung«, hatte er schließlich gesagt, »geht die in den Arm oder den Arsch?«
Nun saß Finn neben ihr, die Knie gegen den Vordersitz gedrückt, eine Zeitung auf dem Schoß. Die mausbraunen Locken aus seinen Schulzeiten waren einem Kurzhaarschnitt gewichen, und am Kinn zeigten sich raue Stoppeln.
Am Ende ihrer Reihe löste eine üppige Frau mit baumelnden goldenen Ohrringen ihren Gurt und stand auf. Sie ging auf die Waschräume zu und hielt sich auf dem Weg dahin an den Kopfstützen fest. Mia wandte sich an Finn. »Ich muss mit dir sprechen.«
»Wenn es um die letzte Mahlzeit geht – ich schwöre dir, du hast tief und fest geschlafen.«
Sie lächelte. »Es ist etwas Wichtiges.«
Finn faltete die Zeitung zusammen und wandte sich dann Mia zu.
Einige Reihen vor ihnen setzte das leise Quengeln eines Säuglings ein.
Mia schob die Hände unter die Oberschenkel. »Das klingt jetzt vielleicht komisch«, fing sie unsicher an, »aber nachdem ich unsere Tickets gebucht hatte, ist mir klar geworden, dass ich unterwegs noch woanders hingehen muss.« Natürlich hätte sie ihm das längst sagen sollen, doch sie hatte Angst gehabt, dadurch etwas anzustoßen, dem sie noch nicht gewachsen war. Manchmal war ihr gar nicht bewusst, dass irgendetwas in ihr gärte, bis die Idee plötzlich da war und sie ihr folgte. »Ich hab einen zusätzlichen Stopp gebucht.«
»Was?«
»Wir fliegen von San Francisco aus nach Maui.«
»Maui?« Er sah sie mit verständnislosem Blick an. »Wieso?«
»Weil Mick da lebt.«
Sie wartete kurz, damit er den Namen einsortieren konnte. Finn hatte ihn lange nicht aus ihrem Mund gehört.
»Dein Vater?«
Sie nickte.
Das quengelnde Kind wusste seine Stimme und die Aufmerksamkeit seiner Eltern zu nutzen; das Weinen wurde immer lauter, dann flog ein Stofftier in den Gang.
Finn sah Mia an. »Du hast seit Jahren nicht von ihm gesprochen. Und nun willst du ihn sehen?«
»Ich glaub schon. Ja.«
»Hat er … Hast du von ihm gehört?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Wir beide nicht.« Sie waren noch Kinder gewesen, als Mick sie verlassen hatte, und ihre Mutter hatte die beiden Töchter allein großziehen müssen.
»Das versteh ich nicht. Wieso jetzt?«
Das war eine berechtigte Frage, aber eine, auf die sie selbst noch keine Antwort wusste. Sie zuckte mit den Schultern. Vor ihr erklang das gereizte Flüstern der Mutter des Kleinkinds: »Jetzt. Ist. Es. Gut.«
Finn fuhr sich nervös mit dem Daumen unter dem Kinn entlang. »Und was sagt Katie dazu?«
»Ich hab’s ihr nicht erzählt.«
Finns Verblüffung war nicht zu übersehen, und er hatte offenbar noch mehr zu sagen, doch Mia wandte sich dem Fenster zu und beendete das Gespräch.
Sie blickte wieder in die Wolken. Könnten sie doch das mit sich nehmen, was sie vor ihrer Schwester verbarg.