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Originalausgabe

1. Auflage 2013


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Redaktion: Caroline Kazianka

Umschlaggestaltung: Maria Wittek

Umschlagabbildung: Martin Kath

E-Book-Umsetzung: Georg Stadler, München


ISBN Print 978-3-86883-283-9

ISBN E-Book (PDF) 978-3-86413-288-9

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-86413-289-6



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Vorwort: Ich, Gianni Sander

»Jahrelang war Ruhe im Rotlichtmilieu. Doch jetzt bahnt sich offenbar ein neuer Krieg unter Zuhältern an.«

BILD, 20.9.2007, »Scharfe Schüsse im Saunaclub«

Ich kenne einen der Männer, Marcel M., im Hamburger Rotlichtmilieu hat er sich den Namen »Knochenbrecher-Marcel« erarbeitet. Er ist Kickboxer, verdient sein Geld mit Inkasso. Wer Marcel nicht bezahlt, dessen Sicherheit ist sehr schnell nicht mehr gewährleistet. Vor ein paar Jahren war er in der Boulevardpresse, da er nach einem Autorennen einen Kontrahenten abgestochen hatte. Der Richter nahm ihm später allerdings Notwehr ab.

Jetzt steht er vor mir, in der Tür von meinem Büro im Saunaclub »Tropicana«. Schmächtig im Vergleich zu mir mit meinen knapp 1,90 Metern und 133 Kilogramm Muskeln. Zur Unterstützung hat er drei Männer mitgebracht – und einen Revolver.

In mir steigt die Wut hoch. Ich bin nicht wütend auf Marcel: Er lebt nun mal von dieser Art von Aufträgen. Aber ich ärgere mich über die Respektlosigkeit seiner Auftraggeber.

Ich bin Gianni Sander. Ich habe Millionen mit Drogen verdient, bin durch die harte Schule als Straßenzuhälter auf der Reeperbahn gegangen, habe Edelbordelle geleitet und den Saunaclub in Hamburg-Wandsbek hochgezogen. Und sie schicken mir einen dahergelaufenen Inkasso-Schläger. Und der bedroht mich in MEINEM Club mit einer Waffe.

»Marcel, was soll die Scheiße?«, frage ich.

Statt einer Antwort holt Marcel aus, schlägt mir die Faust ins Gesicht. Meine Nase knackt. Es wird also ernst werden. Dann setzt er die Waffe auf meinen Schädel. Ich ducke mich weg, es knallt, die Kugel streift meinen Hinterkopf. Ich sehe nichts mehr, weil Blut über mein Gesicht strömt, und durch den Knall bin ich taub.

Ich springe auf, es geht so schnell, dass die vier Männer zu verdattert sind, um zu reagieren. Vielleicht, weil ich nicht tot bin. Diese Sekunden der Verwirrung retten mir das Leben.

Ich dränge die Männer durch den Türrahmen, drücke die Tür zu und stemme mich von innen dagegen.

Wenn sie es ernst meinen, das weiß ich natürlich, sind die ganz fix wieder drinnen. Ich schmecke das Blut in meinen Mundwinkeln. Der zweite Schuss fällt. Die Kugel durchschlägt die Tür in Kniehöhe und verletzt meine Freundin, die in einer Ecke des Büros kauert und schreit, am Schienbein.

Ich kann sie nicht hören, seit dem ersten Schuss pfeift es nur noch in meinen Ohren, aber ich sehe aus dem Augenwinkel ihren aufgerissenen Mund, ihre in Panik geweiteten Augen. Alles läuft wie in Zeitlupe ab. Meine Reise, denke ich, ist hier wohl zu Ende. Mein Blick wandert durch mein Büro, über das Lebkuchenherz, »Puff-Papi« steht darauf, meine Mädels haben es mir vom Hamburger DOM mitgebracht, dann schaue ich auf das Foto meines Sohnes. Er wohnt weit weg von Hamburg, in Frankfurt am Main, bei seiner Mutter. Ich überlege, wann ich ihn zum letzten Mal gesehen habe. Vielleicht zum allerletzten Mal?

Doch dann hören die Tritte gegen die Tür plötzlich auf. Marcel und seine Männer fliehen offenbar aus dem Club. Kurz darauf hält ein Streifenwagen vor dem Haus. Ich weiß nicht, wie sie so schnell gekommen sind. Benommen taumele ich den Polizisten entgegen. Immer noch dieses Pfeifen in den Ohren. Die Beamten sperren den Club mit Flatterband ab, draußen warten schon Reporter, sie fotografieren mich, wie ich zum Rettungswagen gebracht werde.

Die BILD schreibt am nächsten Tag: »Scharfe Schüsse im Saunaclub. Auf der Flucht: ein gefürchteter Knochenbrecher«. Die Hamburger Morgenpost titelt simpler: »Schießerei im Puff«.

Aber keiner der Journalisten ahnt, was wirklich hinter dem Anschlag auf mein Leben steckt. In dieser Nacht sollte geklärt werden, wer die Macht im Hamburger Rotlichtmilieu hat. Wer im Millionengeschäft mit den Frauen und ihren Freiern das meiste Geld verdient.

Bisher hatte in Hamburg eine seltsame, aber brutale Allianz das Sagen: Die Hells Angels und die albanische Mafia hatten das Milieu untereinander aufgeteilt.

Dann bin ich, Gianni Sander, gekommen. Weil ich auch mein Stück vom Kuchen wollte. Aber die Hamburger, vor allem wenn sie schwere Maschinen fahren, mögen es nicht, wenn ihnen jemand von außen Konkurrenz macht. Schnell stand ich daher auf der Todesliste der Hells Angels und der Albaner.

Nachdem sie Marcel in meinen Club geschickt hatten, versuchten sie noch drei Mal, mich umzubringen. Immerhin: Das nächste Mal schickten sie wenigstens einen Profi.

Ein Jahr lang tobte der Krieg ums Rotlicht. Denn meine Leute und ich, wir wehrten uns.

Es kam zu Schießereien auf offener Straße, verängstigte Bürger wurden Zeuge, wie sich verfeindete Zuhälter umzubringen versuchten. Die braven Hamburger konnten nicht mehr in den Puff gehen, ohne Angst zu haben, dass in der nächsten Sekunde die Tür auffliegt und ein Rollkommando hereinstürmt. Bald forderten Politiker ein hartes Durchgreifen. Die Polizei richtete die SoKo »Rotlicht« ein.

Und ich war mittendrin.

Mein Name ist Jan Sander. Nachdem ich in einem polnischen Puff namens »Miami« für Ruhe gesorgt hatte, bekam ich im Milieu den Spitznamen »Miami Gianni«.

Ich werde euch in diesem Buch meine Lebensgeschichte erzählen. Ich träume oft von etwas, das ihr wahrscheinlich habt: von einer Familie und einem ruhigen Job, um ihr ein gutes Leben zu ermöglichen.

Ich hatte nie einen ruhigen Job und ich hatte auch nie eine Familie. Weil ich mich für ein anderes Leben entschieden habe, meistens bewusst, aber auch, weil ich manchmal keine andere Möglichkeit hatte.

Ich mag vieles an diesem Leben: Männer, die auf meine Kraft und meinen Einfluss vertrauen. Viel Geld. Partys mit den schönsten Frauen. Auf Koks zu ficken.

Wahrscheinlich seid ihr auch schon Menschen begegnet, die euch nerven. Weil sie euch nicht respektieren, euch vorschreiben wollen, was ihr tun sollt, euch die Freiheit rauben. Das kann euer Boss sein oder ein Neider oder Männer, die an eure Frauen wollen. Vielleicht habt ihr dann schon einmal darüber nachgedacht, euch in aller Konsequenz dagegen aufzulehnen. Aber ihr macht es nicht. Wenn mich einer nicht respektiert hat, habe ich das gemacht, ohne lange zu überlegen. Oder gleich auf den Hurensohn geschossen.

Aber ich weiß auch, wie hoch der Preis für dieses Leben ist. Wie es sich anfühlt, wenn ein Rivale einem eine Klinge in den Kiefer rammt. Wie es ist, sich unter falscher Identität verstecken zu müssen. Und ich weiß, wie man überlebt, wenn Hells Angels und Albaner nach einem suchen.

Ich will euch erklären, warum ich in den Krieg ziehen musste. In einen Krieg, in dem ich viel verloren habe und ein paarmal sogar fast mein Leben. In einen Krieg, der immer noch nicht zu Ende ist.

»Titty Twister«

Aus der Hölle

Beim Frühstück im Internat sitzen wir 25 Jungs an einem Tisch im Speisesaal. Auf dem Tisch stehen kleine Schüsseln mit Nutella, Marmelade, Schokostreuseln. Jeder kann zugreifen, aber das Angebot ist natürlich begrenzt. Wenn 25 Jungs von den Streuseln essen, ist die Schüssel irgendwann leer. Wie bei einem Rudel Hunde frisst der Stärkste zuerst. Und für den 15. in der Hackordnung ist dann eben nichts mehr übrig. Der Barmherzige achtet darauf, dass etwas übrig bleibt. Aber der Egoist schlingt nur noch schneller, weil er nicht will, dass die anderen etwas abbekommen.

Am gierigsten von uns ist Markus. Er ist einer der Stärksten in unserer Gruppe, ein Psychopath, es bereitet ihm die größte Freude, die schwächeren Kinder zu quälen.

Eines Morgens wagt es Paul, ein Junge, der neu in der Gruppe ist, sich an der Schüssel mit den Streuseln zu bedienen. Paul ist klein und schlaksig, ein vorsichtiges und ängstliches Kind. Mit uns anderen hat er noch kaum Kontakt aufgenommen. Zu den Streuseln greift er wohl nur, weil er nichts über unsere Rangordnung weiß. Er hätte sich sonst sicherlich nie getraut, die Stärkeren zu provozieren. Das weiß Markus auch, aber er sieht die Chance gekommen, seine sadistische Neigung mal wieder an einem Schwächeren auszuleben.

Für alle hörbar sagt er zu Paul: »Wenn das Essen vorbei ist, werde ich dich schlachten.«

Die Erzieherin, die uns beaufsichtigt, interessiert sich nicht weiter dafür. Sie will das wohl einfach nicht hören. Weggucken ist schließlich bequemer, als sich einzumischen. Paul rührt nichts mehr vom Essen an. Er sitzt nur zitternd auf seinem Stuhl. Als alle fertig gegessen haben, müssen die Erzieherinnen ihn mehrfach ermahnen, vom Tisch aufzustehen und zu uns anderen zu gehen.

Es gelingt Paul den ganzen Tag, Markus aus dem Weg zu gehen. Aber am Abend, als wir auf unsere Zimmer müssen, nimmt sich Markus Paul dann vor. Er jagt den panischen Jungen quer über den Gang, treibt ihn in sein Zimmer. Da verprügelt er das wehrlose Kind. Als eine Erzieherin Pauls Schreie hörte, geht sie dazwischen.

»Was ist los?«, fragt sie.

Markus schaut sie wütend an, denn er ist enttäuscht, dass sein Gewaltexzess früher vorbei ist als gedacht. Dann sagt er: »Er hat mich beklaut. Er hat meine Sammelbilder genommen.« Die Fußballbilder aus den Hanuta-Packungen sind bei uns Jungs damals ein begehrtes Gut.

»Stimmt das?«, fragt die Erzieherin den verstörten Paul streng.

Der weiß, dass die Erzieherin wenig Interesse daran hat, sich für ihn einzusetzen. Und er kennt nun Markus, der ihn schlimm misshandelt hat, und ahnt, was ihm die nächste Zeit blühen wird, wenn er die Wahrheit sagt. Also gibt er sich einen Ruck und antwortet: »Ja, das stimmt.«

»Gib sie ihm zurück«, fordert die Erzieherin ihn auf und geht aus dem Zimmer. Uns andere Jungs, die auf dem Gang stehen, um das Spektakel mitzuerleben, schickt sie in die Betten. Damit ist die Sache für sie erledigt. Markus raunt Paul zu: »Wenn du was sagst, kriegst du es noch mal.«

Ich spüre Hass auf Markus in mir aufsteigen und auf die Erzieher, die ihn nicht stoppen. Mir wird klar, dass ich die Dinge selbst regeln muss, wenn ich für Gerechtigkeit sorgen will. Also beschließe ich, Markus’ Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Er soll es auch bei mir versuchen. Und das wird ihm nicht gut bekommen.

Beim nächsten Frühstück setzte ich mich Markus direkt gegenüber. Ich schaue ihm in die Augen, damit er das, was nun kommt, als Kriegserklärung versteht. Dann greife ich zu den Streuseln. Ich sehe, dass Markus das Blut vor Wut in den Kopf steigt. Doch er traut sich noch nichts zu sagen.

Später, beim Zähneputzen, stellt er sich im Waschraum an das Waschbecken neben mich. Er tritt gegen mein Bein. Einmal, zweimal, dreimal …

Dann packe ich seinen Hinterkopf, greife in seine Haare, schlage ihn mit dem Gesicht auf den gusseisernen Wasserhahn. Das geht so schnell, dass Markus sich nicht abstützen kann. Ungebremst knallt er gegen das Eisen. Er bleibt mit der Wange am Wasserhahn hängen, seine halbe Backe wird aufgerissen. Sein Blut spritzt über das weiße Waschbecken.

Markus kommt ins Krankenhaus, seine Wange muss genäht werden. Als er zurückkommt, ist er verändert. Zwar ist er weit davon entfernt, ein guter Mensch zu sein, der mit den Schwächeren teilt. Aber er ist vorsichtiger geworden. Er weiß, dass es auch für ihn Grenzen gibt.

Wie er sich im Waschraum verletzt hat, sagt er niemandem. Ich werde also nie von den Erziehern bestraft. Wenn du dich für eine gerechte Sache einsetzt, kommst du eben meistens damit durch.

Ich wurde in einem Boot auf dem Mittelmeer gezeugt. Mein Vater schmuggelte mit mehreren Segelbooten Zigaretten, Waffen, Kokain, Menschen – eigentlich alles, was Geld brachte. Als meine Mutter von Bord und zurück nach Deutschland ging, war mein Vater kurz darauf mehrere Wochen nicht erreichbar. Die spanischen Behörden hatten ihn aufgegriffen und in den Knast gesteckt, es gab wohl einigen Klärungsbedarf. Meine Mutter musste also warten, bis er sich freigekauft hatte. Erst dann konnte sie ihm die frohe Botschaft übermitteln, dass ich unterwegs war. Mein Vater nahm das zum Anlass, ihr einen Heiratsantrag zu machen.

Die beiden hatten sich im Zug aus der Schweiz nach Düsseldorf kennengelernt. Meine Mutter war in St. Gallen im Internat und auf dem Weg zu ihren Eltern, was mein Vater in Deutschland wollte, weiß ich nicht.

Mein Vater ist ein syrischer Christ. Seine Familie hatte über Jahrhunderte gelernt, sich als christliche Minderheit im arabischen Raum zu behaupten. Da war es überlebenswichtig, sich Wege am Rand der Legalität zu suchen. Klug, aufrecht, aber manchmal eben auch illegal. Wenn meine Vorfahren sich schon den Glaubensgesetzen der Herrscher nicht unterwarfen, warum dann deren weltliche Gesetze befolgen?

Die Dinge manchmal nicht ganz nach dem Wortlaut des Gesetzes zu regeln, habe ich wohl eher von der Familie meines Vaters. Meine Mutter stammte aus einer Architektenfamilie, ihr Vater hatte einige bedeutende Bauten hochgezogen und bekam in den 70er-Jahren das Bundesverdienstkreuz verliehen. Sie war behütet aufgewachsen, ein ordentliches Mädchen. Aber die ordentlichen Mädchen verlieben sich nun mal gern in die wilden Jungs.

Allerdings hielt meine Mutter den Lebensstil meines Vaters nicht lange aus. Während sie allein mit dem Baby in einer Dreizimmerwohnung saß, fuhr mein Vater in der Welt herum, um seine Geschäfte zu regeln. Als ich drei Jahre alt war, ließ sie sich scheiden. Mein Kontakt zum Vater beschränkte sich in der Folge darauf, hier und da gemeinsam am Wochenende zu McDonald’s zu gehen oder in den Zoo. Er sagte mir einmal, dass er auch nicht genau wisse, warum die Ehe gescheitert sei. Als Kind hört man so etwas gerne.

Vielleicht wäre meine Kindheit trotzdem ganz okay gewesen, hätten es nicht Freunde meiner Mutter so übermäßig gut mit uns gemeint. Die konnten die arme, alleinerziehende Mutter in ihrem Freundeskreis einfach nicht ertragen. Da musste doch ein Mann ins Haus. Und irgendeinem fiel dann mein späterer Stiefvater ein, wahrscheinlich kannten sie sich aus dem Rotary-Club oder vom Golf. Seine Frau war an Krebs gestorben, er war Witwer mit zwei Kindern und als Direktor einer Bergbau-Schachtanlage äußerst wohlhabend.

Fix wurden die beiden verkuppelt. Der reiche Witwer und die junge Alleinerziehende aus gutem Haus. Es passte so gut. Aber für mich hat da das Drama angefangen.

Die beiden heirateten und mein Stiefvater kaufte uns einen alten Bauernhof an der niederländischen Grenze. Er steckte viel Geld in die Renovierung, schließlich musste ja alles standesgemäß aussehen. Von außen betrachtet war dann auch alles super. Breite Einfahrt mit hellen Kieseln, dicke Autos in der Garage, jedes Kind hatte sein eigenes Zimmer. Materiell fehlte es an gar nichts. Nur was im Haus passierte, das passte nicht zur Fassade, und meine Eltern haben auch alles dafür getan, damit das niemand mitbekam.

Wir hatten Pferde, Ponys, sogar Hühner und Enten. Weil meine Mutter meinem Stiefvater gesagt hatte, dass das ihr Traum wäre: mit einer großen Familie und Tieren zusammenzuleben. Ganz häuslich.

Was natürlich Quatsch war. Meine Mutter langweilte sich sehr schnell als Hausfrau. Also fuhr sie mit dem Porsche, den ihr mein Stiefvater gekauft hatte, durch die Stadt und machte die Männer verrückt. Sie war jung, hatte braune Haare, blaue Augen und tolle Kurven. Sie hatte also ausreichend Auswahl für ihre zahlreichen Affären. Nur ein paar Abenteuer, von denen ich weiß, weil ich sie mitgekriegt habe: der Klavierspieler vom 50. Geburtstag meines Stiefvaters. Der Chauffeur. Der Kellner des Lieblingsrestaurants meines Stiefvaters in dem Ort in Spanien, in dem wir öfters Urlaub machten.

Außer an der Rumvögelei hatte meine Mutter eine perfide Freude daran, einen Keil zwischen mich und meinen Stiefvater zu treiben. »Er hasst dich, weißt du?«, sagte sie gerne zu mir. »Er ist so eifersüchtig.«

Da war, das weiß ich heute, nichts dran. Denn meinem Stiefvater war ich herzlich egal. Wir Kinder bekamen sowieso nicht viel von ihm mit. Wenn er abends heimkam, setzte er sich vor den Videotext und schaute sich Aktienkurse an. Dabei machte er eine Flasche Wein auf und war dann schnell nicht mehr ansprechbar. Aber ich glaubte meiner Mutter natürlich, welches Kind glaubt seiner Mutter nicht? In all den Jahren in dem Haus hatte ich stets das Gefühl, dass mein Stiefvater mich misstrauisch beäugte.

Für meine Mutter hatte meine Unsicherheit natürlich einige Vorteile. Ich musste mich komplett auf sie ausrichten, sie war meine einzige Verbündete. Ich dachte damals, dass nur sie es verhinderte, dass mein Stiefvater mich aus dem Haus warf oder Schlimmeres mit mir machte. So konnte mich meine Mutter zum Mitwisser für alle ihre kleinen Spielchen machen. Ich erinnere mich daran, wie sie einmal 10 000 Mark aus dem Tresor meines Stiefvaters nahm. Sie brauchte das Geld für eine ihrer Affären – ein Mann, der Probleme wegen Drogengeschichten hatte. Mich stellte sie dann gegenüber meinem Stiefvater als Dieb dar, der das Geld genommen hatte. Weil ich mir davon angeblich ein Motorrad kaufen wollte.

Heute weiß ich, dass sie krank ist. Sie verfiel wochenlang in Depressionen. Dann drehte sie wieder auf und es gab nur noch Männer und Sex. So versuchte sie, ihrer Ehe zu entfliehen, aber ohne tatsächlich von meinem Stiefvater loszukommen. Meine Mutter ist eine Wassermann-Frau, und Frauen mit diesem Sternzeichen sind immer schwierig, ich habe viele als Fremdgängerinnen kennengelernt, die aber nicht die Kraft hatten, sich wirklich von ihren Männern zu trennen.

Meine Stiefgeschwister ließen mich immer spüren, dass sie sich für etwas Besseres hielten. Mein Stiefbruder sagte einmal: »Ich werde später Banker, du Müllmann.« Ist allerdings nichts daraus geworden. Soweit ich weiß, studiert mein Stiefbruder heute noch, finanziert von meinem Stiefvater.

Meine Stiefschwester machte auf hochwohlgeboren, war aber eigentlich eine Oberhure. Wir fuhren jedes Jahr in den Urlaub nach Spanien und sie machte dort mit jedem rum, der auch nur ein bisschen nach Sunnyboy oder Surfer aussah. Wenn ich das mitbekam, und das ließ sich kaum vermeiden, so oft, wie sie mit einem Typen in der Strandumkleide verschwand, wisperte sie mir zu: »Sag Papa nichts davon.«

Ihre Angst war nachvollziehbar. Denn mein Stiefvater erzog uns mit strenger Hand. Er prügelte mit dem Gürtel oder dem Rohrstock auf uns ein. Mein Stiefbruder war zu früh auf die Welt gekommen und eines seiner Beine war kürzer als das andere. Doch meine Eltern ließen ihn, wenn sie ihn bestrafen wollten, stundenlang in der Ecke stehen, auch wenn sein kaputtes Bein innerhalb kürzester Zeit furchtbar schmerzte.

Meine Mutter erzog mit Demütigungen. Mein Stiefbruder machte beispielsweise lange Zeit in die Hose. Sie hingen die schmutzigen Unterhosen über sein Bett, damit jeder sehen konnte, was für ein Schwein er war.

Als kleines Kind musste ich zum Psychologen, weil ich mich unter dem Tisch versteckte und gar nicht mehr herauswollte. Aber was hätte ich dem Psychologen erzählen sollen? Von meiner psychopathischen Mutter, meinem brutalen Stiefvater?

Außerdem: Mein Verhalten war in Anbetracht des ganzen Wahnsinns bei uns zu Hause völlig logisch und normal. Ich versteckte mich, weil ich einfach meine Ruhe haben wollte.

Ich sollte dann statt auf eine normale weiterführende Schule auf ein Internat gehen. Ein katholisches Jungeninternat. Das gehörte zum guten Ton in den besseren Familien, bei meinen Stiefgeschwistern hatte es mein Stiefvater auch so gemacht. Für meine Mutter hatte das den angenehmen Nebeneffekt, dass sie sich mit meinem Stiefvater in der Weltgeschichte herumtreiben konnte und sich nicht mehr um mich kümmern musste.

Die Priester verfolgten ein jahrhundertealtes pädagogisches Konzept: den Willen der Kinder brechen. Ich fand mich also in ähnlichen Zuständen wie zu Hause wieder. Nur dass ich jetzt die Schuluniform – blaues Hemd, dunkle Strickjacke und Krawatte – tragen musste. Die Erzieherinnen schlugen uns. Ich erinnere mich noch genau an das Gefühl, wenn sie mir mit der Faust eine Kopfnuss gaben. Sie trugen Ringe, die sich in die Kopfhaut bohrten.

In einem Schlafsaal waren zehn Kinder untergebracht. Um 7 Uhr mussten wir aufstehen, 7.15 Uhr waschen, 7.30 Uhr Frühstück. Dann Schulunterricht, Gebete, alles straff organisiert.

Die älteren Jugendlichen hatten ihren Spaß daran, uns jüngere zu drangsalieren. Ich erinnere mich an Tim, ein fettes, blondes, 14-jähriges Schwein, der die neun- bis zehnjährigen Jungs zwang, mit ihm Strip-Poker zu spielen und sein erigiertes Glied anzufassen.

Während der Zeit im Internat habe ich zwei grundlegende Erfahrungen gemacht. Erstens habe ich eine strenge Erziehung genossen, der ich Disziplin und gute Manieren verdanke. Und zweitens lernte ich das Gefühl kennen, keine Freiheit zu haben. Nur ein paar Mal in meinem Leben war ich wieder so unfrei wie zu dieser Zeit: die Male, die ich in Untersuchungshaft saß.

Das beherrschende Gefühl meiner Jugend war daher auch der Wunsch, frei zu sein. Nicht mehr Opfer der Spielchen meiner Mutter, der Brutalität meines Stiefvaters, der Überheblichkeit meiner Geschwister, der Erniedrigung durch andere Menschen ausgeliefert zu sein.

Ich begann mit Bodybuilding und Kampfsport. An den Wochenenden und in den Freistunden verschwand ich in ein heruntergekommenes Fitnessstudio in einem Hinterhof, in das fast nur Männer aus dem Milieu gingen. Dort trainierte ich wie ein Besessener. Bei meinen Eltern stieß das natürlich auf wenig Gegenliebe. Tennis, Golf – das waren Sportarten, über die sich reden ließ. Aber Bodybuilding war immer etwas für Asoziale.

Doch als ich 17 Jahre alt war, konnte ich 113 Kilogramm Muskeln aufweisen. Und plötzlich hatten alle Respekt vor mir.

Ich habe euch nicht von meiner Kindheit und Jugend erzählt, weil ich damit irgendetwas rechtfertigen möchte. So schwach bin ich nicht. Ich habe meine Entscheidungen getroffen, weil ich sie für richtig halte. Mir hat kein Anwalt gesagt: »Erzähl mal von deiner schweren Jugend, dann gibt es mildernde Umstände.«

Ich hatte immer genug zu essen. Punkt. Was kann man mehr verlangen? Wenn alle Scheidungskinder Zuhälter würden, dann müssten sich drei Zuhälter eine Nutte teilen. Wenn sich alle Männer, deren Mutter überfordert war, Waffen besorgen würden, hätten wir in Deutschland Verhältnisse wie in amerikanischen Gettos. Und wenn alle Kinder aus dem Internat ins Rockermilieu gehen würden, gäbe es sicher ein paar Motorradclubs mehr.

Die Entscheidung, wie ich meinen Weg gegangen bin, habe ich selbst getroffen.

Hätte ich mich im Internat untergeordnet, hätte ich sicher eine passable Ausbildung erhalten und würde heute in einem bürgerlichen Job mit Weihnachtsgeld und Bonuszahlungen arbeiten. Das Internat war Dreck, aber die Jungs, die sich in die dreckigen Strukturen einfinden konnten, haben mittlerweile durchaus ehrenhafte Berufe.

Wer sich für Psychologie interessiert, kann ja mal analysieren, ob mein Verhältnis zu meiner Mutter mein Frauenbild für immer geprägt hat. Ob, wer Gewalt erlebt hat, später auch Gewalt nutzt, um seine Interessen durchzusetzen.

Ich interessiere mich nicht für Psychologie. Ich sage: Ein Mann muss zu seinen Entscheidungen stehen. Einige haben sich im Nachhinein als Fehler herausgestellt. Die meisten waren aber genau so richtig und nötig.

Ich hatte nur ein Ziel: raus aus dem Internat. Also brach ich nach dem Realschulabschluss die Schule ab. Eigentlich hätte ich das Abitur machen sollen. Meine Berufswünsche waren damals: Architekt oder Tierarzt. Beides sind Berufe, für die man eine lange unbezahlte Ausbildung machen muss. Also wäre ich noch über Jahre auf meine Mutter und meinen Stiefvater angewiesen gewesen. Daher nahm ich eine Lehre als Kfz-Mechaniker in Angriff. Mein Ziel war, irgendwann Motorrad-Schrauber zu werden. Ich hatte Bock auf Harleys. Ich hatte aber nie Lust auf das Rockertum, also alten Frauen die Handtasche zu klauen und drei Wochen in derselben Lederhose besoffen auf der Wiese herumzuliegen. Doch ein Bad Boy wollte ich immer sein, gegen den Strom schwimmen, sich von niemandem etwas sagen lassen, Lebensmotto: »Fuck you!«

Zu Hause war ich nicht mehr erwünscht, seit ich aus dem Internat raus war. Das war mir aber auch recht so. In den letzten Jahren hatte ich, wenn ich an den Wochenenden heimgedurft hatte, sowieso immer das Gefühl gehabt, schreiend weglaufen zu müssen.

Meine Mutter hatte mittlerweile eine Wohnung in Duisburg, die mein Stiefvater ihr vor einigen Jahren gekauft hatte. Damals waren sie kurz vor der Trennung gestanden und sie hatte gemeint, dass sie einen Platz für sich allein bräuchte, wenn sie die Ehe retten wollten. Wenig später rauften sich mein Stiefvater und meine Mutter wieder zusammen, die Immobilie stand also leer. In diese Wohnung zog ich nun ein. Natürlich musste ich Miete zahlen, 400 Mark pro Monat. Aber ich war von zu Hause weg. Bloß musste ich nun regelmäßig an Geld kommen. Denn das Geld, das ich bei meiner Ausbildung als Kfz-Mechaniker verdiente, reichte dafür nicht aus.

Aus dem Studio, in dem ich trainierte, kannte ich ein paar Jungs, die als Türsteher arbeiteten. Sie prognostizierten mir eine große Zukunft in ihrer Branche, denn ich sah gut aus, hatte genug Muskeln und durch mein Elternhaus ein gutes Benehmen. Es gab nur ein Problem: Ich war damals 17 Jahre alt, minderjährig, und kein Club würde mich anstellen. Aber ich konnte kein Jahr warten, um Geld zu verdienen. Also fälschte ich zum ersten Mal meine Papiere. Ich ging in einen Copyshop im Univiertel von Duisburg und investierte insgesamt 50 Pfennig in meinen ersten, zugegebenermaßen schludrig gefälschten Personalausweis. Zunächst machte ich zwei Kopien von meinem echten Perso. Dann holte ich mir von dem Typen, der die Kopien der Studenten durchzählte, Schere und Kleber. Ich schnitt eine Drei aus meiner Personalausweisnummer auf der einen Kopie heraus, klebte sie auf der anderen Kopie über die letzte Ziffer meines Geburtsjahres. Statt 1977 stand da jetzt 1973. Das Ergebnis jagte ich noch einmal durch den Kopierer. So hatte ich, zumindest auf der Kopie, vier Jahre gewonnen.

Einer meiner Freunde aus dem Fitnessstudio empfahl mich den entsprechenden Leuten. Ich sollte zunächst in einem kleinen Club in Duisburg anfangen. Also ging ich an einem frühen Freitagabend dorthin, um mich vorzustellen. Die Disco hatte eben erst geöffnet, noch waren kaum Gäste da. An der Garderobe gaben gerade drei Mädels ihre Jacken ab. Sie waren wohl noch nicht volljährig und mussten die Disco vor Mitternacht verlassen – also fingen sie früher mit dem Feiern an. Sie trugen enge, bauchfreie Tops, damit man ihre Nabelpiercings sehen konnte. Alle drei hatten etwas zu viel, zu bunte Schminke aufgelegt, wie das Mädchen eben machen, wenn sie noch keine Erfahrung damit haben. Als ich an ihnen vorbeiging – das Büro des Geschäftsführers befand sich hinter der Garderobe –, zwinkerte ich der Größten von ihnen zu. Die drei kicherten. Der Job würde mir sicher Spaß machen …

Das Büro war ein kleiner Raum, spärlich ausgestattet mit einem Schreibtisch, einer speckigen Ledercouch und alten Werbeplakaten an der Wand – »Partynacht der 80er«, »Schlagerparty«, »Studentenparty«. Es roch nach kaltem Rauch und warmem Schweiß, denn der Chef war so fett, dass er sogar nur von seinem Hinter-dem-Schreibtisch-Sitzen heftig schwitzte. Sein kariertes Hemd klebte an seinem Körper. Die Qualle musterte mich.

Ich schob ihm die Personalausweiskopie über den Schreibtisch. »Ich verliere meinen Perso immer. Deswegen trage ich nur eine Kopie mit mir herum. Sie können sie behalten, dann haben Sie gleich eine bei den Akten.«

Jeder Betrüger weiß: Hauptsache, die Geschichte wird mit Überzeugung vorgetragen. Dann stören auch logische Fehler nicht.

Der Dicke schnaufte, es war ihm aber letztlich egal. Er hatte sowieso vor, mich schwarz zu beschäftigen. Die Türsteher, die damals in Duisburg bei der Steuer angemeldet waren, konnte man an einer Hand abzählen. Am nächsten Wochenende sollte ich anfangen. Ich verdiente 25 Mark die Stunde. Wenn ich drei Tage durcharbeitete, hatte ich 500 Mark. Damit konnte ich mein erstes bisschen Freiheit finanzieren. Aber ein bisschen Freiheit reichte mir nicht.

Kiloweise Speed

»Fahndungsrekorde der Polizei lassen auf eine Ecstasy-Schwemme schließen. 1994 stellten Fahnder 239 051 Tabletten sicher, 1995 waren es schon 380 858. Die Tendenz ist steigend. (…) Der Stoff kommt fast ausschließlich aus den Niederlanden. Das Land spiele für die Produktion von Ecstasy und Amphetaminen eine ähnliche Rolle wie Kolumbien für Kokain und Thailand für Heroin, bekannte ein Rauschgiftspezialist des Zentralen Kriminalamts (CRI).«

Focus, 10.6.1996, »Ecstasy«

Mehmet ist im Heim aufgewachsen, ein Türke ohne Familie. Er geht auf die 30 zu und hat bisher nichts auf die Reihe gebracht. Mehmet ist schmächtig, immer etwas nervös und die paar Frontzähne, die er noch hat, sind braun. Er jobbt in einer Autowaschanlage zwischen Duisburg und Oberhausen. Sein Geld investiert er zu gleichen Teilen in Pillen, um drauf zu kommen, in Gras, um wieder runterzukommen, und in seinen Golf GTI.

Ich unterhalte mich mit Mehmet vor dem »Orbit«, einem Techno-Club in Duisburg, bei dem ich seit ein paar Monaten als Türsteher arbeite. Damals, Ende der 90er-Jahre, gab es in jeder Stadt im Ruhrgebiet mindestens einen angesagten Techno-Club.

Mehmet gehört nicht zu uns Türstehern, er hat nicht die Statur dafür, aber er gesellt sich fast jedes Wochenende zu uns. Es ist wohl wichtig für ihn, mit den Türstehern gesehen zu werden. So kann man ihn von Weitem betrachtet für einen Freund von uns halten. Wahrscheinlich überlegt es sich sein Dealer so zweimal, ob er ihn bescheißen soll.

Meinen Kollegen geht Mehmet mit seinem Rumgestehe und den Versuchen, uns in Gespräche über Autotuning und seinen GTI zu verwickeln, auf die Nerven. Ich aber mag ihn. Ich kann selten begründen, warum ich jemanden mag. Vielleicht sind es die Parallelen in unserer Biografie. Ich habe mich von meiner Familie losgesagt. Er hat nie eine gehabt.

»Gianni, mein Leben ist Müll«, sagt Mehmet plötzlich.

»Was meinst du?«, antworte ich. Gerade haben wir noch über Autos geredet.

»Weißt du, was ich in der Waschanlage verdiene? Ich könnte mir nicht mal den Eintritt für den Club leisten.«

Aus der Tür quäkt gerade die Musik von Masterboy.

»Willst du da rein? Ich lass dich durch, kein Problem.«

»Quatsch.«

Peinliches Schweigen, dann schlage ich vor: »Such dir halt ’nen neuen Job.«

»Ist als Kanake nicht so leicht.«

Ich schaue betreten vor mich hin.

»Ich hab keinen Schulabschluss, kein Geld, keine Freunde. Mich respektiert keiner. Nee, echt, ich kann mir doch die Kugel geben. Würde niemandem auffallen.«

»Du übertreibst«, lüge ich, aber ich weiß, dass die Einschätzung seines Lebens ziemlich zutreffend ist. Er hat in seiner Aufzählung eigentlich nur seine schadhaften Zähne vergessen. Doch ich halte seine Ausführungen nur für das melancholische Gerede, in das jeder Kiffer hier und da verfällt.

Er fixiert mich und sagt dann: »Ich muss Geld auftreiben. Anja ist schwanger.«

Da verstehe ich, dass es ihm ernst ist.

Anja ist das Einzige, weswegen Mehmet für die meisten Jungs überhaupt erwähnenswert ist. Jeder kennt Anja, denn sie ist mit den meisten bereits im Bett gewesen, zumindest mit fast jedem Typen in Duisburg-Bruckhausen. Bis sie dann bei Mehmet hängen geblieben ist, warum, kann sich keiner so recht erklären.

Er, der Mann ohne Familie, sieht plötzlich die Chance, sich etwas aufzubauen. Mit Anja, einer Frau, die schon rein optisch ein paar Nummern zu groß für ihn ist. Bloß braucht er jetzt dringend Kohle, um seinem Kind etwas bieten zu können, und auch, um seine Frau zu halten, sie wäre sonst schnell wieder weg.

Ich weiß bis heute nicht, warum er das ausgerechnet mir erzählte. Vielleicht ahnt er, dass ich so jemanden wie ihn als Partner brauche. Denn auch ich will mehr Geld machen und ich weiß, dass die beste Möglichkeit dafür der Drogenhandel ist. Nur brauche ich da einen Grund. Kohle allein genügt mir nicht. Mit Drogen zu dealen, nur um mich zu bereichern, hätte ich irgendwie unmoralisch gefunden. Um das zu erklären, muss ich ein bisschen ausholen: Ich war nie ein guter Zuhälter. Wenn ich Mädels hatte, die anschaffen gingen, regelte ich natürlich alles für sie. Ich kümmerte mich darum, dass sie in einem guten Club unterkamen. Wenn es Ärger gab, räumte ich den aus dem Weg. Aber ich sagte nie: »Schatz, bitte geh für mich auf den Strich.« Schon gar nicht: »Du musst für mich auf den Strich gehen.«

Und das macht mich zu einem schlechten Zuhälter. Denn die meisten Frauen können damit nicht umgehen. Ich habe lange gebraucht, um zu kapieren, dass Huren den Job für ihren Mann machen wollen. Weil sie die Rechtfertigung brauchen, den Job aus Liebe zu ihrem Zuhälter zu machen. Frauen bekommen nun mal ihr ganzes Leben gesagt, dass sie ihre Beine möglichst zusammenhalten sollen, weil sie sonst Schlampen sind.

Und dann sagt so einer wie ich zu ihnen: »Du fickst rum, weil du geil auf das Geld bist. Oder weil’s dir Spaß macht. Aber du fickst für dich, nicht für mich.« Dann fühlen sie sich bei mir wie eine Schlampe.

Ähnlich ist es bei mir. Ich steige in den Drogenhandel ein, weil mir die Not, die ich in Mehmets Augen sehe, die Rechtfertigung dafür gibt. Ich deale nicht, weil ich scharf auf die Kohle bin – sondern um Mehmet zu helfen. Ich fühle mich in dieser Nacht wie ein Samariter, als ich sage: »Mehmet, wir machen was mit Drogen. Sag mir, wie viel du verkaufen kannst. Ich besorg es. Wir machen dann fifty-fifty.«

Wenige Monate später versorgen wir von Münster bis Heilbronn fast jeden Dealer mit Speed.