Kriminalroman
Mary ließ sich nicht beruhigen, und Tony brachte sie schließlich in ihr Zimmer. Angelo stand in der offenen Tür und sah nachdenklich hinter ihnen her.
Es war ihm ganz klar, dass die Zustände hier einer Krise zusteuerten. Der Wechsel von Minn Lee zu Mary würde auch noch andere entscheidende Veränderungen nach sich ziehen.
Lange Zeit stand Angelo, die Hand auf der Türklinke, und sah den Korridor entlang. Ganz in der Nähe stand in einer Garage ein schwerer Sportwagen. Eine Treppe, von der die Polizei keine Ahnung hatte, führte zu einem Geheimausgang. Alles war gut vorbereitet.
Angelo sah den Tatsachen ins Auge und machte sich keine Illusionen. Er hatte Tony in den vergangenen Jahren sehr gut kennengelernt, und einige untrügbare Anzeichen in seinem Benehmen hatten ihn gewarnt. Er wußte, dass er an der Reihe war und dass er heute Abend unter einem Leichentuch liegen würde, wenn er keine Vorsichtsmaßregeln traf. Mit einem Seufzer drehte er sich um und schloß leise die Tür. Im Zimmer stand Minn Lee, die ihre Stickerei hatte holen wollen.
"Entsetzlich, wie Sie sich wegen Con aufführt", sagte er.
Minn Lee lächelte.
"Wer weiß, vielleicht hat sie ihn doch geliebt."
Angelo schüttelte den Kopf.
"Ich habe genug von diesen ganzen Weibergeschichten." Er lachte vor sich hin und ließ sich in einen Sessel fallen. "Wirklich, ein großartiges Leben hier!"
"Wo werden Sie einmal enden, Angelo?"
"Darüber dachte ich gerade auch nach. Es war Aussicht vorhanden, dass ich eines Tages die Leitung dieser ruhmvollen Organisation übernehmen würde und ich kann Ihnen versichern, dass dann manches anders geworden wäre. Aber jetzt ..." Er machte eine vielsagende Geste.
Dann stand er auf und ging zu Minn Lee hinüber, die an der Wand lehnte.
"Tony sagte mir etwas von einer neuen Geschäftsführerin, die er für eines seiner schmutzigen Lokale in Cicero braucht."
"So?" fragte sie gleichgültig.
"Ich hoffe, dass er nicht jemand auswählt, den ich kenne."
"Er wird schon die richtige Frau dafür finden, ich werde es auf jeden Fall nicht sein."
"Hoffentlich nicht, um unser aller willen."
Sie sah ihn erstaunt an.
"Was soll das heißen, Angelo? Was würden Sie denn tun, wenn er ...?"
"Nichts, was mir später leid täte." Er setzte sich auf den Klavierstuhl und drehte sich einmal im Kreis herum.
"Ich denke, Sie schätzen Tony sehr."
Angelo lächelte.
"Teils, teils. Zugegeben, er ist tüchtig, aber jetzt hat er einige Sachen gemacht, die nicht hätten vorkommen dürfen."
Nur selten hatte er so offen mit ihr gesprochen.
"Sie müssen sehr viel Vertrauen zu mir haben, dass Sie mir das alles sagen. Wenn Tony wüßte, wie Sie denken ..."
Wieder huschte ein Lächeln über sein Gesicht.
"Er wäre tot, bevor er die Hand an der Pistole hätte."
In diesem Augenblick trat Tony ins Zimmer und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Angelo betrachtete ihn kritisch.
"Wie steht's? Geht es Mutter und Kind gut?" erkundigte er sich.
"Werde nicht zu frech!" fuhr ihn Tony an. Hätten ihn die augenblicklichen Ereignisse nicht so stark in Anspruch genommen, dann wäre ihm die auffallende Veränderung in Angelos Wesen sicher nicht entgangen.
"Was wird sie tun?" fragte Minn Lee.
"Sie bleibt hier", erwiderte Perelli kurz.
"Hat sie denn keine Freunde?"
"Doch, mich", knurrte er ärgerlich. Angelo war ihm im Weg, und er wandte sich zu ihm. "Laß mich mal mit Minn Lee allein und noch eines, Angelo: Um sechs Uhr muß ein Wagen für Minn Lee vor der Haustür stehen."
Angelo nickte gleichmütig mit dem Kopf und ging hinaus. Tony sah ihm mit zusammengekniffenen Augen nach.
"Der Kerl wird zu frech", murmelte er vor sich hin. "Na, an einem der nächsten Tage ..."
Es fiel ihm nicht leicht, das zu erledigen, was jetzt erledigt werden mußte. Mit einer Handbewegung winkte er Minn Lee zu sich.
"Komm her, Liebling. Mir fällt da gerade etwas ein ..." Er nahm ihre Hand und betrachtete prüfend die prachtvollen Ringe. "Es sind wertvolle Steine", fuhr er langsam fort. "Meinst du nicht, dass sie einmal neu gefaßt werden müßten? Am besten, ich lasse das gleich morgen bei Tiffany erledigen."
Er hielt die Hand auf, und ohne Widerstreben streifte sie einen Ring und ein Armband nach dem andern ab und gab sie ihm. Zufrieden schob er sie in die Tasche.
"Sie werden großartig aussehen, wenn sie neu gefaßt sind. Ich gebe sie dir natürlich zurück, keine Sorge! Die Arbeit wird ausgeführt, während du fort bist."
Auf seinen letzten Satz hatte er besonderen Nachdruck gelegt, und sie sah ihn groß an.
"Während ich fort bin?"
"Ja, du wirst mich ein wenig verlassen müssen. Weißt du, so schnell komme ich nicht über die Sache mit Jimmy weg ... Ich liebe dich zu sehr", sagte er vorwurfsvoll. "Hoffen wir, dass ich das mit der Zeit vergessen kann ..."
Ein langes Schweigen folgte. Minn Lee sah mit ihrem unergründlichen, rätselvollen Lächeln auf ihren nackten Arm.
"Wohin soll ich denn gehen?" fragte sie sanft.
Er nahm ihre Hände in die seinen.
"Ich will es dir sagen. Du möchtest mir doch gern helfen, nicht wahr? In der letzten Zeit habe ich viel Schwierigkeiten in Cicero gehabt. Diese verdammten Mädchen haben mich bestohlen, wo sie nur konnten, die Geschäftsführerin des großen Lokals mußte ich hinauswerfen. Sie taugte nichts."
Er hörte, dass Minn Lee scharf die Luft einzog und erwartete einen Tränenausbruch; doch er hatte sich getäuscht.
"Du möchtest, dass ich ihre Stelle einnehme?" fragte sie und schüttelte den Kopf.
"Nur für kurze Zeit", bat er in seinem freundlichsten Ton. "Du bist sehr gewissenhaft, Minn Lee, und könntest dort alles für mich in Ordnung halten. Natürlich erhältst du eine schöne Wohnung, Autos, was du willst ..."
Sie schüttelte wieder den Kopf, und diesmal sah er sie scharf an und redete im Befehlston.
"Minn Lee, ich bin sehr gut zu dir gewesen!"
"Ja, du hast recht ...", sie sprach jetzt so leise, dass er sie kaum verstehen konnte.
"Also, sei lieb und mach mir keinen Kummer!"
Seine Worte klangen bestimmt; die Sache war für ihn erledigt. Mit einem vergnügten Lächeln stand er auf.
"Ich spiele ein wenig Klavier; du kannst mir zuhören."
"Spiele nur, Tony", sagte sie. "Ich muß meiner Schneiderin noch schreiben ..."
"Gut." Er setzte sich an das Instrument und sprach, während er spielte. "Natürlich werden deine Rechnungen, die noch offenstehen, alle bezahlt. Leg sie nur auf den Tisch, damit Angelo sie findet!"
Sie hörte ihm nicht mehr zu. Vor ihr lag ein großer Block, und sie begann schnell zu schreiben, während Tony sich seinem Spiel widmete.
Plötzlich fühlte er ihre Hand auf seiner Schulter und schaute auf. Ihr Gesicht war bleich.
"Du bist doch nicht krank?" fragte er bestürzt. Das hätte die Angelegenheit im Augenblick unangenehm kompliziert. "Nein, nein ... ich bin nicht krank."
"Schön, Minn Lee, du bist ein tüchtiges Mädchen." Er streichelte ihre Hand. "Aber du siehst so blass aus."
"Ein wenig Kopfschmerzen, Tony ..."
"Leg dich doch hin!"
Er sah, wie sie sich auf die Couch legte, und begann wieder zu spielen. Angelo kam ihm in den Sinn, und er redete halb über die Schulter zu Minn Lee hin.
"Dieser Angelo macht mir Sorgen! Der Kerl spielt sich zu sehr auf, es ist immer dasselbe mit den kleinen Leuten, denen man eine Chance gibt. Er wird sich wundern! Hörst du eigentlich zu, Minn Lee? Minn Lee, bist du eingeschlafen? Du wirst noch packen müssen, der Wagen ist um sechs Uhr da."
Er stand auf und streckte sich. Dabei sah er den Briefbogen, den sie seitlich auf das Klavier gelegt hatte. Nachlässig nahm er ihn auf und las ihn flüchtig, aber dann fuhr er entsetzt herum. Sein Gesicht war aschgrau.
"Minn Lee! Minn Lee!" rief er heiser.
Sie lag ganz still. Ihr Gesicht war totenbleich.
"Minn Lee, um Himmels willen, was hast du getan!" schrie er verzweifelt und lief zu ihr. "Minn Lee ...!"
Es klopfte scharf an die Tür, und bevor er einen klaren' Gedanken fassen konnte, stand Kelly vor ihm.
Der Beamte überflog die Szene mit einem Blick, die Tote, die friedlich und ruhig auf dem Sofa lag, den vor Schreck zitternden Perelli.
"Was ist ..."
Dann sah er die Hand Perellis auf Minn Lees Brust, sie hielt den Griff des Dolches umklammert, mit dem sie sich getötet hatte.
"Lassen Sie das Ding los!"
Tony sah ihn wie betäubt an. Er öffnete seine Hand ...
"Rühren Sie sich nicht!"
Kelly hatte eine Pistole gezogen und hielt Tony damit in Schach.
"Nein, nein! Ich habe es doch nicht getan!" stammelte Perelli. "Wirklich nicht ... Es ist Selbstmord, dort liegt der Brief. Lesen Sie doch, sie hat es selbst geschrieben ..."
Kelly nahm das Blatt und las die wenigen Worte.
Es war ihre Schrift. Kelly schaute Tony an, dann holte er sein Feuerzeug heraus, knipste es an und hielt es an das Blatt Papier.
"Ich weiß nicht, wieviel Menschen Sie getötet haben, ohne dafür bestraft zu werden", sagte er mit hasserfüllter Stimme und sah zu, wie das Blatt Feuer fing. "Komisch, dass Sie jetzt für eine Tat auf den elektrischen Stuhl kommen werden, die Sie nicht begangen haben, wirklich originell, wie?"
Diese Worte wirkten auf Perelli wie eine kalte Dusche; plötzlich gewann er seine Besinnung wieder. Er lief zum Telefon, wählte eine Nummer und sprach gleich darauf mit einem Mann, den Kelly gut kannte, es war einer der bekanntesten Rechtsanwälte Chicagos. Der Beamte zuckte hilflos die Schultern, einen Augenblick lang hatte er geglaubt, dass es nun mit Perelli aus sei, aber jetzt erkannte er, dass es überhaupt kein Ende gab. Perelli wußte zu gut Bescheid und hatte zu viel Geld. Er würde verhaftet werden, sicher, aber bei der Verhandlung würde man ihn mangels Beweisen wieder freilassen. Welchen Zweck hatten alle seine Bemühungen noch? Perellis Worte fielen ihm ein, dass sich die Unterwelt eigene Gesetze geschaffen habe.
Mit einer resignierten Handbewegung drehte er sich um und ging zur Tür. Er sah nicht, dass Angelo durch die gegenüberliegende Tür hereinschaute und mit einem langen Blick die Situation erfaßte. Von Minn Lee, die er geliebt hatte, schaute er zu Perelli, den er haßte ...
"Da haben Sie es, Kelly!" rief Tony triumphierend. "Sagte ich Ihnen nicht, dass ich selbst das Gesetz bin? Sie sind zwar sehr geschickt, aber noch lange nicht so geschickt wie ich. Ich habe meinem Rechtsanwalt alles erzählt ... Na, was meinen Sie, was jetzt passiert? Gar nichts werden Sie mir anhaben können ..."
Angelo öffnete die Tür ein wenig weiter, in der Hand hielt er eine schwere Pistole.
"Also, hören Sie mal zu, Kelly ..." begann Tony wieder.
Zwei, drei Schüsse krachten. Angelo schlug die Tür zu und drehte den Schlüssel um. Dann eilte er zu dem Geheimausgang, vor dem sein Wagen wartete.
Kelly, der noch unter der Tür stand, war herumgefahren. Gleich darauf schaute er düster auf den Toten, der zu seinen Füßen lag.
"Das hatte er vergessen", sagte er langsam, "die Strafe seines eigenen Gesetzes."
Ende
Red Gallway war ein mit allen Wassern gewaschener Verbrecher; auf seinem Sündenregister stand mehr als ein Unternehmen, das ihn in schweren Konflikt mit den Gesetzen brachte. Er hatte Geldschränke geknackt und sich als Hochstapler versucht, er hatte seinen Opfern die Pistole vor die Nase gehalten und ihnen ihr Geld abgenommen und er hatte eine ganze Reihe fragwürdiger Nachtlokale aufgezogen. Trotz seiner eifrigen Bemühungen verdiente er jedoch nicht allzu viel dabei, und erst als er sich dem Alkoholschmuggel zuwandte, floß ihm das große Geld in die Tasche, von dem er immer geträumt hatte. Seitdem er mit einer regelrechten Schmugglerbande zusammenarbeitete, lebte er sorgenlos und zufrieden, zudem brauchte er keine Angst vor der Polizei zu haben. Allerdings stieg ihm der Erfolg zu Kopf. Er wurde faul, schwatzhaft und streitsüchtig und was am schlimmsten war: Er begann Kokain zu schnupfen.
Angelo Verona, der außerordentlich tüchtige Personalchef der Bande, machte ihm Vorwürfe.
"Laß das bleiben, Red! Tony kann keine Leute brauchen, die Koks schnupfen."
Über Gallways nicht gerade einnehmendes Gesicht glitt ein böses Grinsen. "Wirklich?" meinte er verächtlich.
Angelo nickte gewichtig und sah ihn mit seinen ernsten braunen Augen durchdringend an.
"Kokain hat noch keinem geholfen. Anfangs fühlt man sich zwar so groß und stark wie ein Wolkenkratzer, aber das ist schnell vorüber, dann kommt der Katzenjammer, und man möchte sich am liebsten in ein Mauseloch verkriechen. Und vor allen Dingen, wenn sie einen solchen Burschen im Polizeipräsidium nach allen Regeln der Kunst verhören, dann hält er nicht dicht!"
Red verkehrte zu dieser Zeit viel mit seinem Freund Mike Leeson, einem früheren Maschinisten, der sich in elenden schmutzigen Spelunken mehr zu Hause fühlte als in den eleganten Lokalen der oberen Zehntausend.
Er hatte es im Leben nicht weit gebracht und schaute deshalb ehrfurchtsvoll zu Red Gallway empor, der für ihn der bedeutendste aller großen Gangster war. Er verhielt sich ungefähr so, wie ein Lakai gegenüber einem Monarchen.
Als sie eines Tages in einer Kneipe zusammensaßen, die Reds Bande gehörte, machte Mike seinen Freund großzügig auf eine gute Gelegenheit aufmerksam. Aber Red schüttelte gelangweilt den Kopf.
"Aus Chinesinnen mache ich mir nichts", sagte er. "Die Tochter von Joe Enrico zum Beispiel ist ganz wild nach mir, aber ich drehe mich nicht einmal nach ihr um."
"Wie du meinst", entgegnete Mike.
Er jedenfalls drehte sich bei jeder Gelegenheit nach Minn Lee um. Meistens traf er sie auf der Treppe des nicht gerade sehr sauberen Hauses, in dem sie beide wohnten. Sie war eine hübsche kleine Chinesin, graziös und schmiegsam wie eine Gerte. Besonders faszinierten ihn ihre weißen Hände, ihre großen schwarzen Augen und ihre weiche Haut. Übrigens hatte ihr Haar nicht den bläulichen Schimmer der Ostasiaten, sondern war glänzend und tiefschwarz.
Mike grinste sie die erste Zeit nur an, später versuchte er auch mit ihr zu sprechen. Das gelang ihm ohne Schwierigkeiten, denn sie unterhielt sich gerne. Wie er erfuhr, war sie mit einem kranken Künstler verheiratet und machte Zeichnungen für Modejournale, um Geld zu verdienen.
Ihre Zutraulichkeit und Offenheit verblüfften Mike; er benützte die Gelegenheit, ihr persönlich näherzukommen. Als er sie aber nach einiger Zeit einmal in ein Luxusrestaurant zum Abendessen einlud, war sie sehr erstaunt.
"Mein Mann ist doch krank", protestierte sie. "Ich kann ihn doch unmöglich allein lassen."
"Aber Kleine, ich sorge natürlich dafür, dass jemand bei ihm bleibt und aufpaßt ..."
Sie schüttelte energisch den Kopf, und als er ihre Hand fassen wollte, war sie verschwunden.
Nach diesem Zwischenfall ging sie ihm aus dem Weg.
Zu Hause hatte sie kein leichtes Leben. Ihr schwerkranker Mann machte ihr Vorwürfe, wo er nur konnte. Von seiner Großzügigkeit war nicht viel übriggeblieben, seitdem er leidend war und ihn die Reue quälte.
Minn Lee war über sein Verhalten weder glücklich noch traurig. John Waite war ihrer Meinung nach niemals ein bedeutender Künstler gewesen, aber er war ihr Mann. Das Leben und das Schicksal hatten sie zusammen gekettet, wenn auch aus einer anfänglichen Leidenschaft nicht die große Liebe geworden war. Minn Lee machte sich nichts vor, sie liebte ihren Mann nicht mehr. Trotzdem war sie entschlossen, bei ihm zu bleiben. Jetzt lag er im Sterben, der Arzt hatte es ihr klipp und klar gesagt. Es mochte noch drei oder vier Monate dauern, dann war es zu Ende.
Im Dachgeschoß des Hauses lag noch ein anderer Kranker, Peter Melachini, ein alter Musiker, der durchaus nicht sehr arm war, sich aber entschlossen hatte, in der traurigen Umgebung zu sterben, die viele Jahre lang sein Zuhause gewesen war. Die schwatzhafte Frau eines Mechanikers aus dem ersten Stock erzählte Minn Lee, dass der alte Peter einen mächtigen Freund habe, ein Ass unter den Alkoholschmugglern.
"Können Sie sich vorstellen, Mrs. Waite", sagte sie, "dass er Mr. Melachini eine Villa am Meer angeboten hat, die er ihm schenken will! Aber der Alte hat es nicht angenommen. Er entgegnete, dass er hier in der Stadt sterben wolle, wo er geboren sei. Der ist nicht ganz richtig im Kopf! Stellen Sie sich doch vor, eine Villa am Meer, und alles geschenkt."
Der Gangster, in seinen Kreisen ein gefürchteter Pistolenschütze, besuchte Peter Melachini ab und zu. Er war ein schlanker, geschmeidiger Mann mit einer ungewöhnlich dunklen Gesichtsfarbe; seine Anzüge saßen stets wie angegossen. Wenn er aus seinem Wagen stieg, liefen die Leute ans Fenster und drückten sich die Nasen an den schmutzigen Scheiben platt. Die ganze Gegend geriet in Aufregung. Ein wirklicher Gangster, das war eine Sensation!
Gewöhnlich war es so, dass ein dunkler Wagen in schneller Fahrt in die Straße einbog und vor der Haustür hielt. Drei Männer sprangen heraus; der erste ging voran, dann kam die Hauptperson selber, und der dritte folgte als Nachhut.
Tony Perelli, so hieß der zweifelhafte Held, ging meist direkt in Melachinis Wohnung, unterhielt sich ein wenig mit ihm und verließ ihn unter Zurücklassung einiger kleiner Geschenke.
Die beiden hatten früher in der gleichen Kapelle bei Cosmolino gespielt, und seither war Tony Perelli mit Peter befreundet. Außerdem stammten sie beide aus Sizilien und waren im gleichen Dorf in der Nähe Palermos geboren.
Auch Minn Lee traf den Gangster manchmal auf der Treppe. Er war nicht sehr groß, aber sein vornehmes Auftreten und eine gewisse Zurückhaltung und Würde imponierten ihr. Sein Gesicht war ziemlich voll, und seine dunklen Augen glänzten eigentlich ganz lustig.
Minn Lee sah er freundlich an, als er ihr zum ersten mal begegnete, und sie erwiderte sein Lächeln zögernd. Als er vorbeigegangen war, drehte sie sich nach ihm um, und auch er wandte den Kopf, als ob er noch einen Blick von ihr erhaschen wolle.
Als sie ihn später einmal an derselben Stelle traf, sprach er sie an. Er war von einer unaufdringlichen Höflichkeit, und sie mußte über seine fröhlichen Worte sogar ein wenig lächeln. Es gefiel ihr, dass er ihr keine plumpen Komplimente machte und auch sonst in keiner Weise versuchte, zudringlich zu werden.
Am nächsten Tag wurden Blumen und Früchte für Mrs. Waite abgegeben; auf der Begleitkarte stand in flüssigen Zügen der Name Tony Perellis.
"Er ist außerordentlich einflußreich", sagte die Frau des Mechanikers, die völlig atemlos vor Aufregung und Neugier war. "Er hat eine der teuersten und kostbarsten Wohnungen in ganz Chicago, ein Landhaus und ich weiß nicht wieviel Autos. Das ist einer von den wirklich großen Alkoholschmugglern und was der alles auf dem Kerbholz hat, geht auf keine Kuhhaut."
Auch jetzt war Minn Lee durchaus nicht empört und bestürzt; es gab viele Leute, die seltsame Dinge taten, und schließlich schien ihr in ihrer einfachen Vorstellungsweise Alkoholschmuggel noch viel anständiger als manches, was sie in ihrer Umgebung hatte sehen müssen.
Als sie Tony Perelli zum dritten mal traf, war es bei einem Besuch, den er bei ihr machte. Ihr Mann schlief gerade, und sie fühlte sich etwas unbehaglich, als sie Perelli in das kleine Wohnzimmer führte.
"Er schläft? Das ist gut. Ich war eben bei Ihrem Arzt; er sagte, dass Ihr Mann ans Meer gehen müsse. Die salzhaltige Luft würde ihm guttun. Das sollte ja auch mein alter Freund Peter machen, aber der ist zu eigensinnig und setzt Himmel und Hölle in Bewegung, um nur hier im Haus bleiben zu können. Mrs. Waite, ich möchte nicht aufdringlich sein, aber wenn es nur eine Geldfrage ist ..."
Sie schüttelte den Kopf.
"Nein, Mr. Perelli, wir können das Geld von Ihnen nicht annehmen. Auf ehrliche Weise könnten wir es doch nicht zurückzahlen."
* * *
Eine Woche später starb John Waite. Sein Ende war ruhig und friedlich. Minn Lee ließ ihn beerdigen und erklärte auf der Polizeiwache, auf der sie den Todesfall meldete, warum ihr Name nicht auch Waite lautete. Sie tat alles, was geschehen mußte, verhältnismäßig gefaßt, zahlte die dringendsten Schulden und teilte seiner Mutter mit, dass er gestorben sei. Dann machte sie sich daran, Arbeit zu suchen. Eigentlich hätte das für ein junges Mädchen, das sein Examen auf der Columbia Universität bestanden und früher schon dreißig Dollar in der Woche durch Modezeichnungen verdient hatte, nicht weiter schwer sein dürfen. Aber sie wählte vorerst einen anderen Weg und schrieb an den Inhaber eines Chinesenrestaurants, in dem Kellnerinnen gesucht wurden. Aber noch bevor sie Antwort erhielt, kam Mike Leeson und machte ihr einen Vorschlag.
Inzwischen war auch der alte Italiener gestorben, und Tony Perelli hatte ein glänzendes Begräbnis für ihn arrangiert. Als er nach der Beerdigung am Abend in die Wohnung des Musikers kam, um sich aus dem Eigentum seines alten Freundes einige Erinnerungen mitzunehmen, erschien zur gleichen Zeit Mike in der Wohnung Minn Lees. Niemand hatte Perelli gesehen, als er das Haus betrat, denn er war zu Fuß gekommen, selbstverständlich eskortiert von seiner Leibwache. Als er an Minn Lees Tür vorüberging, blieb er einen Augenblick stehen und lauschte.
An diesem Abend gab es wieder einmal ziemlich viel Lärm im Haus. Im zweiten Stock übte der Pole Laski auf seinem Schlagzeug; ab und zu packte ihn der Ehrgeiz, die Weltmeisterschaft im Trommeln zu gewinnen.
In Minn Lees Wohnung wehrte sich die kleine Chinesin verzweifelt gegen Mike Leeson, der sie an sich zog ...
Leeson besaß den Instinkt eines Wilden; seine Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass man Frauen am besten durch blindes Drauflosgehen besiegen konnte.
"Schatz, verlaß dich auf das, was ich dir sage! Du wirst es bestimmt nicht schlecht bei mir haben ...!"
Sie leistete ihm energisch Widerstand und versuchte verzweifelt, sich loszureißen. Tony Perelli hörte ihre erstickten Schreie und drückte auf die Türklinke. Die Tür war nicht verschlossen, und er trat ein.
"Was haben Sie hier zu schaffen, Sie Strolch?"
Mike schäumte vor Wut über die Störung und sah Perelli mit einem hasserfüllten Blick an.
"Scheren Sie sich 'raus!" Tony Perellis Stimme klang hart und kühl.
"Ich gehe erst, wenn es mir paßt, vor einem sizilianischen Affen reiße ich nicht aus!"
Leeson holte zu einem wuchtigen Schlag aus, traf Perelli aber nicht. Dann hörten die Hausbewohner ein Geräusch, als ob der musikbegeisterte Pole noch lauter auf seine Trommel schlage. Das war alles, Tony, der die rauchende Pistole schußbereit hielt, brauchte nicht zum dritten mal zu feuern. Leeson hatte genug. Eine Sekunde lang klammerte er sich noch an das Bett, dann sank er lautlos zu Boden.
Minn Lee sah von dem Toten zu Tony.
"Nehmen Sie Ihren Mantel und kommen Sie mit."
Wenn Perelli etwas befahl, klang es niemals wie eine Bitte. Sie gehorchte ohne Zögern und ging mit ihm. Wegen Mike Leeson machte er sich keine Sorgen; seine Leute würden diese Sache erledigen, wie es üblich war. Es würde keinen Spektakel geben, wahrscheinlich fand später irgendein Chauffeur den Toten draußen im Schnee, und die Zeitungen brachten eine lakonische Meldung, dass wieder ein Gangster von seinesgleichen erschossen worden war. Damit war die Sache erledigt.
Es dauerte nicht lange, dann war Minn Lee in Tonys Wohnung heimisch geworden, und man hatte sich daran gewöhnt, sie Mrs. Perelli zu nennen.
Von dem Dachgarten mit der venezianischen Balustrade konnte Tony Perelli die ganze Stadt überblicken, in der er der ungekrönte König der Alkoholschmuggler war. Und er liebte sein Königreich Chicago. Endlose Reihen von Autos brachten seine Untertanen täglich zur Arbeit; denn jeder, der an irgendeinem versteckten Plätzchen seiner Wohnung Alkohol lagerte, gehörte zu seinen Untertanen.