Hauptkommissar Stilz, leitender Mitarbeiter in der Mordabteilung, hatte Vorruhestand beantragt. Blockmodell. Also arbeitete er, nun Ende seiner Fünfziger, weiter voll, bekam aber ein geringeres Gehalt und konnte mit Anfang seiner Sechzig bei gleichen Bezügen bis zur Alterspension in die arbeitsfreie Phase gehen. Und darauf freute er sich, zumal die Chefin ihm neulich mitgeteilt hatte, dass er „auch später selbstverständlich einen Schreibtisch bei uns behalten“ könne, dass er auch als Ruheständler seinen „geschätzten Rat weiter einbringen“ könne und möge. Das waren für Stilz ungewohnte Töne von dieser Seite, denn bis zu jenem Antrag auf Vorruhestand waren sie sich weitgehend aus dem Wege gegangen, er, der erfahrene Praktiker, den jeder in kniffligen Sachen fragte, und die relativ junge Chefin, Schreibtischbeamtin, die in Jura promoviert hatte und sozusagen direkt aus dem Hörsaal gekommen war.
„Stilzchen“ hatte sie ihn angesprochen, und das kam nicht von ungefähr. Der Hauptkommissar gab nämlich an der Polizeihochschule angehenden Kriminalisten und zunehmend auch Kriminalistinnen seit Jahren Unterricht und nahm sogar Prüfungen ab, obwohl er kein klassischer Akademiker war. Er wusste natürlich, dass seine Studenten ihn `Rumpelstilzchen´ nannten und dass das dann auch in der Abteilung aufgegriffen worden war, denn manchmal war er impulsiv, ja jähzornig konnte er mitunter sogar werden wie jener Märchenzwerg. Und wie dieser war auch Stilz nicht sehr hoch gewachsen und mittlerweile ein bisschen dicklich. Der Spitzname geht zu verkraften, sagte er sich, er ist nicht abschätzig gemeint, eher amüsiert. Er wusste ja, dass er sich immer wieder und mit zunehmendem Alter immer mehr zügeln musste. Das „Stilzchen“ der Chefin freilich schien ihm unangemessen jovial und passte ihm deshalb nicht. Egal, der Hauptkommissar würde seine Seminarveranstaltung bald schon auf Honorarbasis und nicht mehr als Pflichtleistung im Rahmen der Anstellung halten, besser gesagt, er würde dann als freier Mensch ohne inneren Maulkorb reden, hatte er sich vorgenommen, denn einiges bei der Kripo lag in seinen Augen mittlerweile sehr im Argen.
Wenn´s ihm gut ging, war Stilz witzig, charmant und zuvorkommend, nur leider ging´s ihm manchmal nicht gut, weil er magen- und zuckerkrank geworden war Mitte seiner Fünfziger. Deshalb hatte er den Vorruhestand beantragt und bekommen. Eigentlich gegen sein Naturell. Aber nachdem das ohne größeren Widerstand, durchgegangen war, was ihn dann doch ein bisschen verdross, hatte er allen davon erzählt und dass er nunmehr „die letzten Jahre kurz treten“ würde, „austrudeln“ wolle. Genau in diesen Tagen aber, da er das bekannt gemacht hatte, dass er in absehbarer Zeit „aufs Altenteil“ ginge, kam ein Mann vorbei, den Anna A., die Gerichtsreporterin, ihm telefonisch avisiert, und zwar als „hochinteressant“ avisiert hatte. Es war eben schon lange üblich, dass komplizierte und obskure Fälle ihm, Stilz, aufgetischt wurden, Blutzucker und Magenleiden hin, Blutzucker und Magenleiden her.
Xaver hieß der Mann, und der sagte, dass es um Mord ginge, bisher nicht vollendeten Mord, denn die Frau, Zofia mit Namen, läge infolge eines Verkehrsunfalls seit Wochen im Wachkoma. Der baldige Tod sei aber abzusehen, doch ginge es auch um ein werdendes Kind, und dieses Kind habe er, „mit ihr in Liebe gezeugt und gewollt“, und nun solle es ihm nicht zugesprochen werden, solle er bei der Entscheidung über dieses werdende Leben nichts zu sagen haben, sondern nur der Immer-Noch-Ehemann, den er als Mörder anzeigen wolle, sobald einige Fakten gesichert seien. „Es darf keine Zeit mehr verloren gehen“, drängte er den Hauptkommissar.
Stilz schaute Xaver missmutig und auch misstrauisch an. Er hatte Sodbrennen, und es ging in der Tat um obskure Dinge. Er wollte den Mann an den Staatsanwalt verweisen. `Abwimmeln´, musste er nun denken. Da rief ihn diese Anna an. Und so nahm Stilz seufzend ein Natronpulver und forderte den Mann zu ausführlicher Darstellung auf. Und dabei beruhigte sich sein Magen einigermaßen.
Der Unfall geschah im siebenten Jahr ihrer Ehe. Manche tuschelten, es sei kein Unfall gewesen. Aber als sie sich erkannten, Zofia und Yppolite, damals, war es Liebe, leidenschaftliche, spontane Liebe, in der sie Ekstasen suchten und fanden. Sie lebten dem jeweiligen Tag und dem Vibrato der großen Stadt und verbrachten viel Zeit mit Menschen, die sie für Freunde hielten, solchen, die ihre laute Lust nach Erleben teilten, ihnen aber auch nicht näher kamen, als sie es zulassen wollten. In jenen Tagen war es ihnen, als seien sie auf Hoher See, und Sterne und Himmel wechselten Gesichter und Gestalten und trugen ihr Glück. Als sie heirateten, galten sie als das Traumpaar in ihrer Clique. Yppolite aber fügte die neue Bewunderung den früheren nur lässig hinzu. Er tat das so, wie ein Gourmet das Gericht eines Meisters mit Blütenblättern umkränzt und das so angeeignete kulinarische Kunstwerk einer Frau verehrt. Ein älter Werdender ahmt solches Tun nur mehr nach, wenngleich nun mit kostbaren Blumen aus fernen Ländern. Heimlich aber fügt er dann dem eigenen Essen noch jene Gewürze hinzu, ohne die sein Gaumen kaum mehr Kitzel empfindet, und etwas später und weniger heimlich tauscht er auch den trockenen Sherry vor dem Dinner mit einem Scotch, handwarm und rein, bis der dann schließlich von eiskaltem Wodka ersetzt wird.
Ganz so verglomm auch das ehedem so heftig lodernde Feuer der Zofia und des Yppolite von ihnen zunächst unbemerkt, denn wie der Sherry zum Whisky und der Whisky zum Wodka mutiert, ging bei ihnen vormals unschuldiges Spiel in immer raffiniertere sexuelle Praktiken über, und die Minuten danach verloren jenes innige Schwingen von früher, teure Parfums überdeckten die heißen Körper und machten Gier auf ein Noch-Mehr, das zu erreichen ihnen bald schon nicht mehr gelang. Als sie dessen gewahr wurden, beide für sich, sagten sie einander, dass es an der Zeit sei, Neues, Anderes intensiver zu erkunden, wieder zu entdecken womöglich, was sie sehr lange schon nicht mehr wahrgenommen hatten, oder aber zu entdecken, was sie noch nie gekannt hatten. Zofia war es, die das Wort von der `Dritten Individuation´ erfand, bei der aber keiner den anderen verletzen und verlassen solle. Das hinzuzufügen vergaß sie nie. Yppolite lächelte dann nur. Er war ein eher technischer Charakter. War es vielleicht immer schon gewesen. Das war im sechsten Jahr.
Sie hatten keine Kinder als sie heirateten. Zuerst weil sie beide noch keine wollten, dann weil Zofia keine mehr wollte. Das hatte sie ihm irgendwann gesagt. Im siebten Jahr. Und hinzugefügt hatte sie, dass sie frei sein wolle in ihren beruflichen Entscheidungen, freier als bisher, denn sie hatten gemeinsam eine Firma im Software-Bereich aufgebaut. Nun wolle sie ihren Anteil aus dem Unternehmen herausnehmen, sagte sie knapp und schnörkellos dem verblüfften Yppolite, denn sie wolle eine neue und ganz eigene Geschäftsidee verwirklichen, die sie schon lange krude mit sich herumgetragen, die nun aber praktische Gestalt gewonnen hätte. Dass damit finanzielle Risiken verbunden seien, wäre ihr natürlich klar, sagte sie, aber gerade über die wolle sie allein entscheiden. Darum ginge es ihr jetzt. Nicht dass sie ihm, Yppolite, misstraue, nein das ganz und gar nicht. Sie habe aber etwas Merkwürdiges entdeckt und sich dabei nachgerade über sich selbst verwundert, nämlich dass sie schon geraume Zeit für ihren Part geschäftlicher Transaktionen in der gemeinsamen Firma ihm gegenüber gelegentlich Ausreden erfinden zu müssen geglaubt habe, ohne sich dessen im eigentlichen Sinne bewusst gewesen zu sein. So verrückt das auch klinge, sagte sie, aber nun wisse sie, dass es wirklich so sei. Sie habe ihn von ihr selbst unbemerkt belogen, kleine lässliche Sünden zwar, aber doch verletzend. Für sie nämlich. Warum? Darüber eben habe sie lange erfolglos gegrübelt. Vielleicht habe es ja den simplen Grund, dass sie eine Frau sei und er ein Mann, aber es sei ja auch nicht wirklich wichtig, sagte sie, dem nachzugehen, sie wolle ja bloß „mehr ich selbst sein als bisher“, das auszuprobieren fasziniere sie jetzt eben. Ob er das, wenigstens ein bisschen, verstehen könne, fragte sie. Er verneinte und seine Stimme war schroff.
„Das würde unsere ganzen Pläne kaputt machen“, erwiderte er schließlich mit angespannter Ruhe, „wir sind dabei zu expandieren. Die Umstände sind jetzt günstig wie nie, und wir haben das bisschen nötigen Kompetenzvorsprung, jetzt haben wir den, das weißt du so gut wie ich. Aber ohne deine Anteile geht nichts, was Kredite in der benötigten Größenordnung angeht.“ Als Zofia nur wiederholte, sie wolle ihr Leben neu leben, jetzt, für sie selbst souveräner, autonomer: „authentischer“, und dass seine Expansionsgelüste nicht „unsere“ seien, sondern seine allein, da rastete Yppolite aus und schrie sie an, dass sie überspannt sei, verrückt, „ganz einfach durchgeknallt, weil´s Dir zu gut geht. Das lasse ich nicht zu, dass Du alles kaputt machst!“
Yppolite war Misserfolge nicht gewohnt, und was Zofia da so entschlossen gesagt hatte, würde ganz zweifellos für ihn, wahrscheinlich für beide, einen geschäftlichen Misserfolg geradezu provozieren, wenn Zofia es ernst meine, was er einfach nicht glauben könne. Ja es schien ihm, dass das an die schiere Existenz gehen würde, materiell und ideell. Eine Niederlage würde das, sagte er, sie würden ihren Kompetenzvorsprung verlieren, denn auch das wisse sie: andere seien da, die diese Nische besetzen würden, sobald sie potent genug sein würden, und das dauere nicht lange. Erst war er gekränkt, dann wütend. „Verrat“, sagte er mit belegter Stimme, „Du verrätst mich oder du bist verrückt, eins von beiden oder beides“. Zofia schwieg, dann sagte sie: „Denk drüber nach, denk in Ruhe drüber nach, Yppo. Es geht nicht gegen dich und schon gar nicht gegen uns.“
Die sichere Gelassenheit, mit der Zofia redete, war es, die Yppolite ahnen ließ, dass sie es ernst meinte. Er beherrschte sich mit großer Anstrengung, ging in sein Arbeitszimmer, trank viel Whisky und überlegte. Ja, sie hatten nun schon lange aneinander vorbeigelebt. Anderen galten sie noch immer als das Traumpaar von damals. `Sich gegenseitig Freiheit lassen´ hatte er die sexuelle Libertinage den Freunden gegenüber genannt, und dass er auch tatsächlich davon Gebrauch mache, pflegte Yppolite ungefragt hinzuzusetzen, denn er wisse, dass Zofia es genauso hielte und genösse, denn das wäre ja ihr Konsensus, die Grundlage ihrer Verbindung, die er, der schon lange zum Zynismus neigte, manchmal `heterosexuelles Dauerteam´ nannte. Die ersten, die diese Art von Ehe -und „Art“ hieße bekanntermaßen „Kunst“- die also diese Kunst der modernen Ehe problemlos praktizierten und weiterhin zu praktizieren gedächten, bis dass der Tod sie scheide, und dass sie sich dennoch in einem existentiellen Sinne einander treu seien.
Aber nun war Yppolite gekränkt. Und je mehr Zofia von ihm abrückte -und sie rückte von ihm ab, das spürte er-, umso tiefer bohrte sich ein Stachel in ihn. Er wollte keine Niederlage, ja er war tiefer verletzt deswegen, als er es für möglich gehalten hatte, und es schauderte ihm bei dem Gedanken an einen möglichen wirtschaftlichen Abstieg, den sie mit leichter Geste weggeschoben hatte. Er könne ja mit dem Rest genug anfangen, ein bisschen kleiner vielleicht, aber doch nicht gerade verarmt. Sein Unternehmen und ihr geplantes, das wäre doch, Vertrauen vorausgesetzt und Unabhängigkeit zugestanden, genug Sicherheit für beide.
Yppolite verlangte eine Aussprache. Sie einigten sich auf einen Landausflug. In einem Gartenlokal mit Nischen aus Thujabüschen aßen sie heimischen, in Wein gedünsteten Weißfisch mit Salzkartoffeln und Petersilie aus biologisch-dynamischem Anbau des Wirtes, und Zofia erzählte, eher beiläufig, dass Xaver, „der Dichter mit den Depressionen“, sie vor nicht allzulanger Zeit auch auf eine Landpartie eingeladen hatte und dass sie das Lokal deshalb schon kenne. Da hätte sie erstmals über ihre Geschäftsidee geredet. Sei das nicht ein lustiger Zufall? Yppolite redete auf Zofia ein, erinnerte an Vergangenes. Erst lachte sie, lachte fröhlich, dann lachte sie ihn aus, weil er sentimental wurde, wie sie ihm, immer noch mit kaum unterdrücktem Lachen, sagte.
Yppolite kannte das Lachen Zofias wie niemand anderes sonst. In ihren Gesprächen war er ihr argumentativ überlegen, aber wenn Zofia lachte, dann konnte er nur entweder von ihrer Fröhlichkeit angesteckt einstimmen, was oft so gewesen war und er gemocht hatte, oder aber er kam, selten, in nur mühsam beherrschte agressive Stimmungen. Gemeinsam begonnene Abende waren dann versaut, und Yppolite griff zur Whiskyflasche oder ging alleine weg, um sich sexuell abzureagieren, oder er tat beides. Jetzt aber, gerade in dieser extremen Situation blieb ihm nur, nüchtern und angespannt bis zum äußersten, zurückzuchauffieren. Es war zum Kotzen.
Auf dem Heimweg bog er dann plötzlich von der Straße ab und ließ den Wagen in einen Waldweg ausrollen. „Ich weiß, was wir brauchen“, sagte er und fuhr ihr mit der Hand zwischen die Schenkel, „ich habe dich vernachlässigt.“ Was dann geschah, war der Beginn jenes Albtraums, von dem hier von nun an die Rede sein wird.
Sie schlug ihn ins Gesicht und schrie, ob er „verrückt geworden“ sei. Er möge vögeln, mit wem er wolle, nur nicht mit ihr, nicht mehr, nie mehr. Er zwang sie. Als er von ihr abließ, schleuderte sie ihm ins Gesicht, dass er das -und sie nannte es „Vergewaltigung!“- bereuen würde. Wortlos waren sie dann ausgestiegen, Yppolite rauchte, Zofia erbrach sich. Ostentativ, schien ihm das. Aber sie kotzte ihr bisheriges leben aus sich heraus. Dann ging sie ein Stück den Waldweg entlang, spülte ihren Mund mit Mineralwasser und zündete sich eine Mentholzigarette an. Yppolite, mit zusammengepressten Lippen, wartete bis sie zurückkam und einstieg und fuhr das Auto auf die Straße zurück. Er beschleunigte, beschleunigte bis der Wagen ausbrach. Beide kamen mit dem Leben davon und in die Unfallklinik der nahen Universität.