Hans-Joachim König
Geschichte Brasiliens
Reclam
Alle Rechte vorbehalten
© 2014 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
Kartenzeichnung: Martin Völlm
Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen
Made in Germany 2014
RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-960506-7
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019207-8
www.reclam.de
Einleitung
Ein Land der Gegensätze und Ungleichheiten
Die Vorgeschichte der Entdeckung Brasiliens
Die Anfänge der europäischen Expansion
Die Teilung der Neuen Welten
Die Anfänge der portugiesischen Kolonie. Brasilien von 1500 bis um 1700
Entdeckung und Eroberung des brasilianischen Küstensaums
Administrative und territoriale Stabilisierung der Kolonie
Niederländische Besetzung brasilianischer Gebiete
Indianerpolitik, Sklaverei und Plantagenwirtschaft
Die Konsolidierung und Loslösung der Kolonie. Reformen, Revolten, Selbständigkeit (1700–1822)
Minas Gerais und der Wirtschaftszyklus des Goldes
Portugals neue Kolonialpolitik ab 1750
Kolonialkritik und erste Autonomiebestrebungen
Von der Kolonie zum Vereinigten Königreich Portugal-Brasilien
Die Loslösung Brasiliens durch den Prinzregenten
Das Kaiserreich Brasilien. Neue Souveränität, alte Strukturen, Neubeginn (1822–1889)
Politische Stabilität durch die kaiserliche Autorität Pedros I.
Die Übergangsregierungen der Regentschaften
Politische und wirtschaftliche Konsolidierung unter Pedro II.
Politische Instabilität durch Anwachsen von Republikanismus und Abolitionismus
Die erste Republik. Regionalismus und exportorientierte Oligarchie (1889–1930)
Die »Politik der Gouverneure«
Wirtschaftliche Entwicklung durch Kaffeeexport
Partizipationskrise und neue Akteure
Die Umstrukturierung des politischen Systems. Autoritarismus, Wirtschaftsnationalismus und Getulismus (1930–1964)
Von der »Revolution« zur Diktatur
Die Entwicklungsdiktatur des Estado Novo
Zerbrechliche Demokratie
Scheitern der Demokratie
Die Herrschaft der Militärs. Die brasilianische Entwicklungsdiktatur (1964–1985)
Demokratische Fassade und autoritäre Praxis
Diktatur und Guerillabewegungen
Autoritarismus und Wirtschaftswunder
Wirtschaftsprobleme und politische Öffnung
Haltung und Bedeutung der Kirche
Gesellschaftliche Konsequenzen des Militärregimes
Die »Neue Republik«. Brasilien auf dem Weg zu politischer und wirtschaftlicher Stabilität und Partizipation (ab 1985)
Demokratisierung in den 1980/1990er Jahren
Wechselvolle politische und wirtschaftliche Stabilisierung in den 1990er Jahren
Wirtschaftsentwicklung und soziale Programme seit 2003
Verzeichnis der Karten
Literaturhinweise
Personenregister
Zum Autor
Hinweise zur E-Book-Ausgabe
Brasilien imponiert allein schon durch seine Größe: Das heutige Brasilien liegt zwischen fünf Grad nördlicher und dreiunddreißig Grad südlicher Breite. Der Großteil seiner Fläche befindet sich in den inneren und äußeren Tropen; nur in der südlichen Region, den heutigen Bundesstaaten Rio Grande do Sul, Santa Catarina und Paraná, herrscht ein subtropisches Klima. Die weiteste Nord-Süd-Ausdehnung beträgt ebenso wie die West-Ost-Ausdehnung etwa 4300 km. Insgesamt besitzt Brasilien eine Fläche von fast 8,5 Millionen km2, die fast die Hälfte der Fläche Südamerikas ausmacht und sich von der Atlantikküste im Osten weit in das Landesinnere des südamerikanischen Kontinents hinein teils bis in die Senkungszonen an der Anden-Ostseite im Westen und vom Bergland Guayanas im Norden bis zum La-Plata-Paraná-Becken im Süden erstreckt. Auch einige Inseln im Atlantik, teils bewohnt wie Fernando de Noronha, gehören zu Brasilien. Damit ist Brasilien nicht nur der größte Staat Lateinamerikas, sondern auch der fünftgrößte Staat der Erde. Es ist doppelt so groß wie Europa, ohne Russland, und zweiundachtzigmal größer als Portugal, das ehemalige Mutterland, das ab 1500 zunächst den Küstensaum an der Atlantikküste als die Kolonie Brasilien besiedelte. In gewissem Sinn ist Brasilien eine riesige Insel, denn es ist von Wasser umschlossen: im Osten vom Atlantischen Ozean mit einer Küstenlänge von insgesamt 7407 km und im Norden und Süden von den Flusssystemen des 6500 km langen Amazonas einerseits und des insgesamt fast 4000 km langen Rio Paraguay / Rio Paraná andererseits, die sich im Westen fast treffen und das Kernland so umschließen.
Die Republik der Vereinigten Staaten von Brasilien, wie der Staat offiziell heißt, ist politisch-administrativ in 26 Gliedstaaten, Estados, und den Bundesdistrikt mit der Hauptstadt Brasilia, die 1960 die frühere Hauptstadt Rio de Janeiro ablöste, gegliedert. Diese Gliedstaaten als politische Einheiten mit eigener Regierung und eigenem Parlament sind den fünf Großregionen Norden, Nordosten, Südosten, Süden und Mittelwesten zugeordnet, mit denen das riesige Land geographisch-klimatisch strukturiert wird. Zum Norden gehören die Staaten Acre, Amazonas, Roraima, Pará, Amapá, Rondônia und Tocantins; dem Nordosten gehören die Staaten Maranhão, Piauí, Ceará, Rio Grande do Norte, Paraíba, Pernambuco, Alagoas, Sergipe und Bahia an; den Südosten bilden die Staaten Minas Gerais, Espírito Santo, Rio de Janeiro, São Paulo; die Großregion Süden besteht aus den Staaten Paraná, Santa Catarina und Rio Grande do Sul; und dem Mittelwesten gehören die Staaten Goiás, Mato Grosso und Mato Grosso do Sul an. In diesen Staaten leben insgesamt rund 200 Millionen Menschen.
Brasilien imponiert auch durch seine gegenwärtige Wirtschaftskraft und Stellung in der Weltwirtschaft. Seit 1999 gehört es als Gründungsmitglied zu den G-20-Staaten, der Gruppe der zwanzig wichtigsten Industrie- und Schwellenländer; ist Mitglied in der Vereinigung von Schwellenländern mit aufstrebenden Volkswirtschaften, nämlich Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika, den sogenannten BRICS-Staaten. Mit einer Zuwachsrate des Bruttoinlandsprodukts von durchschnittlich fast vier Prozent in den letzten Jahren und einem Bruttoinlandsprodukt von rund 2,5 Billionen US$ (2011) ist es nicht nur die führende Wirtschaftsmacht in Lateinamerika, vor Mexiko mit 1,2 Billionen US$, sondern stand 2011 mit diesem Betrag innerhalb der zehn Größten der Weltwirtschaft vor Großbritannien an sechster Stelle. In lateinamerikanischen wirtschaftspolitischen Zusammenschlüssen wie MERCOSUL (Mercado comum do Sul, gegründet 1991), der Union Südamerikanischer Nationen (UNASUL, União das Nações Sul-Americanas, gegründet 2008) oder der Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten (CELAC, Comunidad de Estados Latinoamericanos y Caribeños, gegründet 2010), die u. a. als Gegengewicht zu von den USA dominierten amerikanischen Organisationen geschaffen wurden, nimmt es eine führende Position ein.
Brasilien ist aber auch ein Land der Gegensätze und Ungleichheiten. Das beginnt schon mit der naturgeographischen Gliederung des Landes und ihrer Auswirkung auf die Wirtschaft. Das Kernland Brasiliens ist das Berg- und Tafelland, mit in sich strukturierten und von Tälern und Flüssen aufgeteilten Hochflächen, planaltos. Mit einer Fläche von über 5 Millionen km2 und mit durchschnittlichen Höhen von 600 bis 1100 m nimmt es mehr als die Hälfte des Landes ein. Es erstreckt sich mit einer Länge von ca. 3200 km bis fast an die Atlantikküste, zu der es ansteigt und wo es im Küstengebirge (Serra do Mar) im Südosten oder in der Serra dos Orgãos bei Rio de Janeiro sogar Höhen bis 2800 m (Pico da Bandeira) bzw. zwischen 1500 und 2200 m erreicht. Während hier im Osten an der Küste das Bergland teils sehr zerklüftet ist, zur Küste steil abbricht und teils nur einen schmalen Küstenstreifen mit Atlantischem Urwald (Brasilholz) und Agrarzonen zulässt, senkt es sich nach Norden und Nordwesten allmählich zum Amazonastiefland hin ab. Wegen seines geologischen Aufbaus besitzt Brasilien und besonders die Region Minas Gerais reiche Vorräte an mineralischen Rohstoffen.
Auf den binnenländischen Hochflächen herrschen nach Lage und Klima unterschiedliche Vegetationen und Nutzungsmöglichkeiten. Auf den halbtrockenen Hochflächen im Nordosten, im sogenannten Sertão der Bundesstaaten Bahia und Pernambuco, herrscht eine Caatinga genannte Dornstrauchvegetation vor, die für extensive Viehwirtschaft geeignet ist. Auf den Savannen Zentralbrasiliens, den sogenannten Cerrados mit heißem wechselfeuchtem Klima, die die Bundesstaaten Goiás, Mato Grosso, Mato Grosso do Sul, Minas Gerais und Teile von Maranhão, Paraná, Piaui und São Paulo bedecken, wird vor allem Viehwirtschaft betrieben, während der Ausbau von Feldfrüchten in dieser Region nur mit Düngung möglich ist. In dem wechselwarmen feuchten Klima der Südregion in den Bundesstaaten Paraná, Santa Catarina und Rio Grande do Sul wechseln sich subtropische Wälder von Araukarien mit Grasländern ab, die sowohl Weideflächen für Viehwirtschaft als auch intensiven Ackerbau zulassen und für Nahrungsmittel- und Holzproduktion geeignet sind.
Dem Gefälle des Hügellands folgt auch der Lauf des 2800 km langen Rio San Francisco, der im Bergland von Minas Gerais entspringt, in nordöstlicher Richtung durch die Bundesstaaten Bahia, Sergipe, Pernambuco und Alagoas fließt und in den Atlantischen Ozean mündet. Auch nach Westen und Südwesten neigt sich das Bergland zum Paraná-Becken ab, so dass die Flüsse aus dem Bergland zum Flusssystem des La Plata abfließen.
Das riesige Gebiet des Amazonasbeckens mit unzähligen Zuflüssen zum mit ca. 6500 km zweitlängsten Strom der Erde macht ca. 3,5 Millionen km2 der Fläche Brasiliens aus. Der Amazonas hat seinen Ursprung mit den Quellflüssen Ucayali-Apúrimac und Rio Marañon in den peruanischen Anden, ab der peruanisch-brasilianischen Grenze bis zur Einmündung des Rio Negro bei Manaus nennen ihn die Brasilianer Rio Solimões – entsprechend den ursprünglich dort lebenden indianischen Stämmen; ab da heißt er offiziell Rio Amazonas. Er durchfließt das Land mit einer durchschnittlichen Breite von vier bis fünf Kilometern, verbreitert sich im Unterlauf sogar zu einer Breite von mehr als zwanzig Kilometern und ergießt sich in einem 250 Kilometer weiten Mündungsdelta mit eingelagerten Inseln wie z. B. die Insel Marajó in den Atlantischen Ozean. Die wasserreichen Flüsse im Tiefland Amazoniens verursachen weite Überschwemmungen, aus deren Eintreten oder Stärke sich auch der Artenreichtum des immergrünen tropischen Regenwaldes in Brasilien, des größten geschlossenen Regenwaldgebietes der Erde, ergibt. Die überschwemmten Wälder an den Flussufern sind Sumpfwälder mit niedrigen bambus- und palmenartigen Sträuchern. In den Waldungen der periodisch überschwemmten Gebiete, den varzéas, die nur bei Niedrigwasser trocken sind, wachsen Bäume mit einer Höhe bis zu dreißig Metern, u. a. die Helvea brasiliensis, der sogenannte Kautschukbaum, aus dem Kautschuk, die »Träne des Baumes« (indian. cao ›Baum‹, ochu ›Träne‹), gewonnen wird. In den artenreichen und üppigen überschwemmungsfreien Wäldern des festen Landes, der terra firme, wachsen hochwüchsige Edelhölzer wie z. B. Palisander, Fruchtbäume wie z. B. die Castanhá do Para (Paranussbaum) oder auch der Kakaobaum. Hauptverkehrsmittel waren und sind in Amazonien naturgemäß Boote und Schiffe unterschiedlicher Größe. Ozeandampfer können den Amazonas bis Manaus befahren, Kreuzfahrtschiffe besuchen sogar den Rio Negro und den Rio Tapajos. Fernstraßen oder Eisenbahnlinien den Amazonas entlang gibt es kaum, Brücken über den Fluss gar nicht. In dieser Region herrscht vorwiegend Sammelwirtschaft für z. B. Kautschuk und Paranüsse vor.
Die gravierendste Ungleichheit äußert sich aber in sozialer Ungleichheit. Brasilien gehört zwar zu den reichsten Ländern, zugleich aber zu den Gesellschaften mit der weltweit höchsten Einkommensungleichheit. Bei einer Bevölkerung von fast 200 Millionen Menschen und einem Bruttoinlandsprodukt von 2,5 Billionen US$ ergibt sich ein jährliches Pro-Kopf-Einkommen von ca. 12 000 US$. Doch das hohe Bruttoinlandsprodukt ist sehr ungleich verteilt. Laut Gini-Index, einer statistischen Messziffer (von 0 bis 1) zur Darstellung von Ungleichverteilungen in Bezug auf Einkommen, Grundbesitz und Vermögen, bei der ein hoher Koeffizient hohe Ungleichheit angibt, beträgt der Gini-Koeffizient für Brasilien (2012) 0,519. Trotz wirksamer Reformen im letzten Jahrzehnt leben immer noch etwa 29 Millionen Menschen in Armut oder extremer Armut, d. h. ihnen steht pro Tag weniger als ein Dollar zur Verfügung. Nach der Statistik des neuesten Sozialprogramms von 2011, »Brasilien ohne Armut« (Brasil sem Miséria) leben 16,2 Millionen Menschen, fast neun Prozent der Bevölkerung, in extremer Armut, mit weniger als 70 Reais, also ca. 20–25 Euro pro Monat. Zu ihnen gehören überproportional viele Afrobrasilianer oder Mulatten. Die Armenviertel der großen Städte ( favelas), die zahlreichen Straßenverkäufer und Obdachlosen machen diese Situation sichtbar. Über achtzig Prozent der Gesamtbevölkerung Brasiliens leben heute in den urbanen Regionen. Der ungleiche Besitz von Grund und Boden zeigt ein noch extremeres Bild. Rund zehn Prozent der Grundbesitzer verfügen über rund achtzig Prozent des landwirtschaftlich genutzten Bodens von insgesamt etwa 355 Millionen Hektar, während sich die übrigen rund vier Millionen kleinen und mittleren Grundbesitzer die verbleibenden zwanzig Prozent teilen müssen. Großen Flächen der Agrarindustrie für cash crops wie Sojabohnen und Zuckerrohr, stehen kleine und mittlere Landparzellen für bäuerliche Subsistenzwirtschaft gegenüber.
Doch ist Ungleichheit nicht in allen Regionen in demselben Maß vorhanden. Von allen Regionen ist der Nordosten am stärksten betroffen, während der Südosten und Süden ausgewogene Verhältnisse haben. Auffällig ist, dass regionale Ungleichheit oft mit ethnischer Ungleichheit zusammenfällt. So leben im Nordosten vorwiegend schwarze (preto) oder braunhäutige (pardo) Brasilianer, während im Süden und Südosten der Anteil der Bevölkerung mit weißer Hautfarbe sehr hoch ist.
Obwohl in Brasilien laut Verfassung alle Brasilianer gleich sind und es offiziell keine Rassenprobleme oder Diskriminierung der unterschiedlichen Ethnien (Rassen) gibt, aus denen sich die Bevölkerung zusammensetzt, ja sogar die unterschiedlichen Wurzeln der brasilianischen Nation betont werden, spielen die Hautfarbe und die ethnische Zugehörigkeit doch im Alltag eine große Rolle.
Das brasilianische Volk in seinen vielfältigen Mischungen ist aus drei ethnischen Hauptgruppen entstanden: den Ureinwohnern, den Indios bzw. Indigenen, wie sie der heutigen weniger diskriminierenden Terminologie entsprechend heißen; den aus Europa, vorwiegend aus Portugal, eingewanderten Weißen; und den aus Afrika zur Sklavenarbeit zwangsimmigrierten Schwarzen.
Ursprünglich war das Gebiet des heutigen Brasilien die Heimat vieler indigener Völker in rund tausend Stammesgruppen. Sie waren z. T. Sammler, Fischer und Jäger; andere nutzten den Regenwald agrarisch und bauten Maniok und Mais auch in Minas Gerais und Bahia an. Die Ureinwohner besaßen keine Schrift, bauten nicht mit Stein, so dass es weder schriftliche Quellen noch Tempel und Städte wie bei den Inkas, Mayas oder Azteken gibt. Dennoch belegen archäologische Quellen, menschliche Überreste und Spuren früherer Kulturen wie Waffen, Werkzeuge, Lebensmittel, Dorfanlagen, Versammlungsplätze, Ritualgegenstände oder Bestattungsformen, dass die Besiedlung Brasiliens vor über 13 000 Jahren begann und in dem unterschiedlich ausgestatteten naturgeographischen Raum mit der Zeit vielfältige gesellschaftlich-politische Organisationen hervorbrachte. Diese reichen von halbsesshaften Sammlern und Wildbeutern in den tropischen Regenwaldgebieten bis hin zu sozial und politisch gegliederten Stammesgesellschaften und Häuptlingstümern oder Kazikenherrschaften mit Dorfansiedlungen im Amazonasbecken, in Zentralbrasilien und an der brasilianischen Küste. Zwischen den Stämmen gab es kriegerische Konflikte und wechselseitige Eroberungen, die wie z. B. bei den Tupí und Guaraní auch dazu dienten, Gefangene zu machen und sie rituell zu opfern und zu verspeisen. Die Urbevölkerung zählte um das Jahr 1500 – das einschneidende Datum für ihre weitere Geschichte – schätzungsweise fünf Millionen Menschen, die im Amazonasgebiet, an der Küste und an den Flüssen des Südwestens lebten. Heute beläuft sich die Zahl der Indigenen auf lediglich noch ca. 800 000 Menschen, die zumeist in Amazonien und in speziellen Reservaten leben. Sie machen heute weniger als ein Prozent der Gesamtbevölkerung aus und kämpfen um ihre Anerkennung.
Ab 1500 setzten sich im Kontext der europäischen Expansion, der Eroberung und Durchdringung von Teilen der nichteuropäischen Welt, vorwiegend Portugiesen zunächst an der brasilianischen Küste fest und begannen, das Land schrittweise zu erobern, es zu einer Kolonie umzuformen und die Urbevölkerung in ihren Herrschaftsbereich vor allem als Arbeitskräfte einzubeziehen.
Da die Indios als Arbeitskräfte bald nicht mehr ausreichten, importierten die Portugiesen ab der Mitte des 16. Jahrhunderts zusätzlich Afrikaner als Arbeitssklaven, eine Praxis, die die Brasilianer nach Erlangung ihrer Unabhängigkeit bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts fortsetzten. Auf diese Weise wurden über 3,5 Millionen afrikanische Frauen und Männer als Sklaven nach Brasilien verschleppt.
Heute beträgt der Anteil von Schwarzen an der Gesamtbevölkerung etwa fünf Prozent, der Anteil braunfarbiger Menschen, d. h. von Menschen aus allen möglichen Vermischungen, macht rund vierzig Prozent aus. Als Weiße bezeichnen sich circa fünfundfünfzig Prozent. Dabei ist zu beachten, dass die Erhebung der Hautfarbe in den Volkszählungen nach Selbsteinschätzung durchgeführt wird. Je heller die Hautfarbe eines Afrobrasilianers ist, desto eher wird er sich in einer Art Flucht vor der ethnischen Realität als Nicht-Afrobrasilianer, also als Weißer bezeichnen. Diese Weißwerdung, embranqueamento, ist ein beredter Beweis dafür, dass es eine subtile Rassendiskriminierung gibt. Die optimistische Überzeugung, dass die konstante Rassenmischung zwischen Europäern, Indigenen und Schwarzen – unter dem Einfluss portugiesisch-brasilianischer Kultur – Rassendifferenzen ausgelöscht und so etwas wie eine ethnische Demokratie hervorgerufen habe, wie sie der Anthropologe und Soziologe Gilberto Freyre in seinen Werken, vor allem in seinem bekanntesten Buch Herrenhaus und Sklavenhütte (Casa Grande e Senzala, 1933), nachzuweisen versuchte, stimmt mit der Realität nicht überein. Bis heute besteht in Brasilien keine Einigung darüber, ob die im Laufe der Jahrhunderte erfolgte Vermischung ein positiver oder negativer Faktor ist und ob sie als positives Kennzeichen der nationalen Identität gelten sollte.
Auch im politischen Bereich gibt es keinen gleichen Zugang und wenig gleiche Beteiligung bzw. Teilhabe an der politischen Macht und an politischen Entscheidungen. Die massiven Protestbewegungen in den Monaten Juni und Juli des Jahres 2013, die bezeichnenderweise von Angehörigen der Mittelschichten in zahlreichen Städten Brasiliens ausgingen, thematisierten u. a., dass politische Teilhabe weniger von Kompetenz als vielmehr von Beziehungen sowie von aktiver und passiver Korruption abhängig ist. Nach dem Korruptionsindex von »Transparency International« für 2012 nimmt Brasilien von 174 bewerteten Staaten mit Platz 69 nur einen mittleren Rang ein.
Die gegenwärtigen Ungleichheiten sind nicht naturgegeben, auch wenn die natürlichen durch unterschiedliche Klimazonen, Vegetation und Ressourcen gegebenen Unterschiede eine Rolle spielen. Sie haben eine geschichtliche Grundlage, die sich daraus ergibt, wie Menschen die Ressourcen nutzen und wie sie miteinander umgehen. Die folgende Geschichte Brasiliens wird zeigen, wie bestimmte gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Grundstrukturen in der Vergangenheit angelegt wurden, wie und ob sie sich im Laufe von über fünfhundert Jahren verändert haben.