LEKTÜRESCHLÜSSEL
FÜR SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER
Philipp Reclam jun. Stuttgart
Dieser Lektüreschlüssel bezieht sich auf folgende Textausgabe: Franz Kafka: Die Verwandlung. Stuttgart: Reclam, 2001 [u.ö.]. (Universal-Bibliothek. 9900.)
Alle Rechte vorbehalten
© 2004, 2012 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen
Made in Germany 2012
RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und
RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken
der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-960101-4
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-015342-0
www.reclam.de
1. Erstinformation zum Werk
2. Inhalt
3. Personen
4. Werkaufbau
5. Wort- und Sacherläuterungen
6. Interpretation
7. Der Autor
8. Checkliste
9. Lektüretipps
Anmerkungen
Auch nach fast einem Jahrhundert geht noch immer eine ungebrochene Faszination von dem Werk, und auch von dem Menschen Kafka aus. Diesen Platz konnte sich sein Werk, das er selbst zum größten Teil am liebsten vernichtet gesehen hätte, erobern, weil er wohl zu jenen Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts gehört, die in ihrem Werk eine noch immer vorhandene Bewusstseinslage ins literarische Bild setzten, das einer Vielzahl von Lesern ermöglichte, sich und ihre Situation in ihm wieder zu erkennen.
Das Werk Kafkas wurde zur Signatur der Epoche und vielleicht des Jahrhunderts. Das (Mode-) Wort ›kafkaesk‹, das der Duden mit ›auf rätselvolle Weise unheimlich, bedrohlich‹1 erklärt, gilt als Verständigungsformel für eine Welt, »deren Zeichen Unbehaustheit, existentialistische Verlorenheit, Bürokratie und Folter, Entmenschlichung und Absurdität zu sein schienen«2.
Die Wirkung, die Literatur haben sollte, fasste Kafka einmal in einem Brief an seinen Freund Oskar Pollak in ein Bild; er schrieb:
»Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Damit es uns glücklich macht, wie du schreibst? Mein Gott, glücklich wären wir eben auch, wenn wir keine Bücher hätten, und solche Bücher, die uns glücklich machen, könnten wir uns zur Not selber schreiben. Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder verstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.«3
Die Verwandlung ist wohl die bekannteste Erzählung Franz Kafkas und mit Sicherheit die, welche am häufigsten interpretiert worden ist. »Sie scheint […] in reinster Weise den Begriff ›kafkaesk‹ zu definieren«, denn »der Leser ist verunsichert und reagiert vor diesen Texten mit dem Impuls, ihnen möglichst auszuweichen, aber zugleich auch mit dem Bewusstsein, dass man sich ihrer Provokation nicht entziehen sollte«4.
Kafkas Erzählung dürfte zu jenen Büchern gehören, die auch heute noch »wie ein Unglück wirken, das uns schmerzt«. Die Lektüre, die sich der Erzählung unvoreingenommen öffnet, kann immer noch der erweckende »Faustschlag auf den Schädel« des jeweiligen Lesers sein; mit diesen Worten lässt sich auch heute noch ihre Wirkung umschreiben. Sie vermag uneingeschränkt und unbeeinflusst von ihrer Entstehung vor fast einem Jahrhundert zutiefst zu verstören, kommt sie doch provokativ und schockartig mit dem berühmt gewordenen Einleitungssatz daher:
»Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.«5
Man sollte sich davor hüten, die Verstörung, die von der Verwandlung ausgeht, dadurch zu verflachen, dass man die Erzählung in ihrem provokativen Gestus reduziert, dass man sie zum Tummelplatz und Exerzierfeld unterschiedlichster Interpretationsmethoden macht. So ebnet man nur die Verunsicherungen, die von dem Text ausgehen, ein. Durch vorschnelle Sinnfixierungen wird jene für den Text typische Auflösung eines festen Sinns rückgängig gemacht und entproblematisiert. Genauso wenig aber wird man der Erzählung gerecht, wenn man auf jede Deutung verzichtet und sie damit interpretatorischer Willkür ausgeliefert sein lässt.
Obwohl er seinen Wecker auf vier Uhr gestellt hat, erwacht Gregor Samsa eines Morgens erst kurz vor halb sieben aus unruhigen Träumen und findet sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt. Er liegt auf einem panzerartig harten Rücken und sieht, wenn er seinen Kopf ein wenig hebt, seinen gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch. Samsa vergewissert sich zunächst, dass es kein Traum ist, in dem er sich befindet. Er liegt in seinem eigenen Zimmer, was er daran erkennt, dass noch immer eine Musterkollektion von Tuchwaren – Samsa ist von Beruf Reisender – auseinandergepackt auf dem Tisch liegt, aber er erkennt auch das über dem Tisch hängende Bild, das eine Dame, mit Pelzhut, Pelzboa und Pelzmuff versehen, zeigt. Von dem Bild wandert Samsas Blick zum Fenster hinaus. Er fühlt sich melancholisch gestimmt und denkt bei sich, dass es angesichts des regnerischen Wetters gut sei, noch ein wenig weiterzuschlafen und alle »Narrheiten« (5) zu vergessen. Schlafen ist ihm jedoch nur möglich, wenn er auf der rechten Seite liegt. Sein gegenwärtiger Zustand erlaubt es ihm aber nicht, sich in diese Lage zu bringen. Er versucht, sich mehrfach im Bett zu drehen und lässt erst von diesen Versuchen ab, als er einen noch nie gefühlten, leichten, dumpfen Schmerz in seiner Seite verspürt.
Nachdem Samsa seine ursprüngliche Lage im Bett wieder eingenommen hat, beruhigt er sich mit der Annahme, frühzeitiges Aufstehen mache blödsinnig. Außerdem überlegt er, ob es nicht gut sei, seinen Job einfach zu kündigen bzw. sich aus dem Betrieb hinauswerfen zu lassen, denn nur aus Rücksichtnahme auf seine Eltern hat er den ungeliebten Beruf bislang nicht aufgegeben, trägt sich aber durchaus mit dem Gedanken, wenn das Geld beisammen ist, um eine Schuld der Eltern abzuzahlen, endlich diesen Schritt der Kündigung zu gehen.
Samsa, der bislang während seines fünfjährigen Dienstes noch kein einziges Mal krank gewesen ist, will sich auch jetzt nicht krankmelden, zumal er sogar feststellen muss, dass er sich, abgesehen von einem verspürten Hunger, in seiner gegenwärtigen Situation ganz wohl fühlt.
Als Gregors Mutter kurz vor sieben Uhr vorsichtig an die Tür zu seinem Zimmer klopft, um ihn zu fragen, ob er denn nicht fahren wolle, antwortet Gregor ihr mit einer Stimme, die er zwar als seine frühere erkennt, in die sich aber ein schmerzliches Piepsen eingeschlichen hat. Die anderen Familienmitglieder, der Vater und Gregors Schwester, werden durch seine Antwort darauf aufmerksam, dass er sich immer noch zu Hause befindet, woraufhin der Vater energischer als die Mutter an die Tür klopft und die Schwester nachfragt, ob Gregor nicht wohl sei. Beiden antwortet er mit einem sie vorerst beruhigenden: »Bin schon fertig« (8).
Gregor will nun aufstehen, um sich anzuziehen, und hofft, dass, wenn er erst einmal das Bett verlassen hat, sich auch seine heutigen Einbildungen und Vorstellungen auflösen werden. In mehreren Anläufen versucht er, aus dem Bett so auszusteigen, dass er unverletzt bleibt. Doch alle Versuche misslingen zunächst. Erst als kurz vor acht Uhr der Prokurist des Geschäfts, bei dem Gregor angestellt ist, erscheint, gelingt es ihm, sich mit aller Macht aus dem Bett zu schwingen, so dass man den Aufschlag vor der Tür hören kann. Der Vater ruft Gregor durch die noch geschlossene Tür des Zimmers zu, der Prokurist sei gekommen und erkundige sich danach, warum Gregor nicht den Frühzug genommen habe. Gregor kann hören, wie die Mutter auf den Prokuristen einredet und ihren Sohn entschuldigt, ihm sei nicht wohl. Auf die Frage des Vaters, ob der Prokurist das Zimmer betreten könne, antwortet Gregor mit einem schroffen ›Nein‹, woraufhin eine peinliche Stille eintritt und Gregors Schwester zu weinen beginnt. Weil Gregor weiterhin nicht öffnet, spricht der Prokurist durch die verschlossene Tür mit ihm, bekundet sein Befremden angesichts des merkwürdigen Benehmens, das Samsa an den Tag lege, droht ihm mit einer möglichen Kündigung und lässt durchblicken, der Chef des Geschäfts habe Bemerkungen über das Samsa erst kürzlich anvertraute Inkasso gemacht. Gregor entschuldigt sich damit, dass ihn ein leichtes Unwohlsein befallen habe. Er wolle noch mit dem Achtuhrzug fahren, der längere Schlaf hätte ihn wieder zu Kräften kommen lassen.
Noch während er mit dem Prokuristen durch die geschlossene Tür spricht, richtet sich Gregor auf und will tatsächlich die Tür öffnen und sich sehen lassen. Er ist begierig darauf, zu erfahren, was die anderen, die jetzt so nach ihm verlangten, bei seinem Anblick sagen würden. Der Prokurist hat Gregors Antwort nicht verstanden – er glaubt eine Tierstimme vernommen zu haben – und meint, Gregor wolle doch nicht ihn und die anderen zum Narren halten. In dieser Situation versucht die Mutter zu beschwichtigen, indem sie ihre Tochter umgehend zum Arzt schickt, dessen Gregor ihrer Meinung nach bedürfe. Zugleich befiehlt der Vater dem Dienstmädchen Anna, sie möge sofort einen Schlosser holen, der die Tür gewaltsam öffnen soll. Beide Mädchen verlassen umgehend die Wohnung.
Gregor erkennt an den Reaktionen seiner Eltern, der Schwester und des Prokuristen, dass man seine Stimme nicht mehr verstehen kann, da aber nach Arzt und Schlosser ausgeschickt worden ist, weiß er sich »in den menschlichen Kreis« (16) zurückgeholt, wird innerlich wieder ruhiger und schiebt sich mit Hilfe eines Sessels, an dem er sich aufgerichtet und festgehalten hat, zur Tür hin. Dort versucht er, mit dem Mund den Schlüssel im Schloss umzudrehen, und legt dann den Kopf auf die Klinke, um so die Tür ganz zu öffnen.
In dem Augenblick, wo man seiner in der noch nicht ganz geöffneten Tür ansichtig wird, stößt der Prokurist ein lautes ›Oh!‹ aus, drückt die Hand gegen den offenen Mund und weicht langsam zurück, »als triebe ihn eine unsichtbare, gleichmäßig fortwirkende Kraft« (18). Die Mutter sieht mit »gefalteten Händen« den Vater an, geht zwei Schritte auf Gregor zu und fällt inmitten ihrer rings um sie herum sich ausbreitenden Röcke nieder, »das Gesicht ganz unauffindbar zu ihrer Brust gesenkt« (ebd.). Der Vater ballt mit feindseligem Ausdruck die Faust, als wolle er Gregor in sein Zimmer zurückstoßen, sieht sich dann aber unsicher im Zimmer um, beschattet seine Augen mit den Händen und beginnt zu weinen, »dass sich seine mächtige Brust schüttelte« (ebd.).
Gregor tritt nicht weiter in das Zimmer ein, sondern lehnt sich von innen an den festgeriegelten Türflügel, so dass sein Leib nur zur Hälfte sichtbar ist. Er lugt zu dem Prokuristen und den Familienmitgliedern hinüber und sieht das Frühstücksgeschirr auf dem Tisch. Zuletzt fällt sein Blick auf eine Photographie, die ihn als Leutnant zeigt, wie er, »die Hand am Degen, sorglos lächelnd, Respekt für seine Haltung und Uniform verlangte« (19).
Überzeugt davon, dass er der Einzige ist, der die Ruhe bewahrt hat, sagt Gregor zu den anderen, er werde sich gleich anziehen, die Kollektion zusammenpacken und wegfahren. Dem Prokuristen gegenüber beschreibt er nochmals ausführlich, wie er seine Stellung im Betrieb sieht (er sei ein Opfer von Klatschereien, Zufälligkeiten und grundlosen Beschwerden), und bittet den Prokuristen, er möge ihm wenigstens zu einem kleinen Teil Recht geben, aber der wendet sich bereits bei den ersten Worten Gregors ab und zieht sich aus dem Wohnzimmer zurück, ohne dabei Gregor aus den Augen zu lassen. Gregor weiß, dass er den Prokuristen so nicht gehen lassen darf, bedauert aber auch, dass seine Schwester diesen zu umgarnen weiß. Als er dem Prokuristen nachzulaufen versucht, fällt er sofort auf seine Beinchen und fühlt in diesem Augenblick zum ersten Mal ein »körperliches Wohlbehagen; die Beinchen hatten festen Boden unter sich; sie gehorchten vollkommen, wie er zu seiner Freude merkte; strebten sogar darnach, ihn fortzutragen, wohin er wollte; und schon glaubte er, die endgültige Besserung alles Leidens stehe unmittelbar bevor« (21). Aber in genau diesem Augenblick, als er der Mutter direkt gegenüber auf dem Boden liegt, springt diese auf und ruft mit ausgestreckten Armen und gespreizten Fingern um Hilfe, setzt sich auf den Tisch und stößt dabei eine Kaffeekanne um, aus der restlicher Kaffee in Strömen auf den Teppich fließt.