Vorwort des Herausgebers

Das Wort »Sternstunde« ist von Stefan Zweigs Rezensenten gelegentlich missverstanden worden. Sie kritisierten, wie man auch das Scheitern eines Menschen, etwa Robert Scotts dramatisches Scheitern am Südpol, als »Sternstunde« bezeichnen könne. Doch Stefan Zweig verstand den Begriff anders: Nicht grundsätzlich als Stunde des leuchtenden Erfolgs und Triumphes, sondern als dramatisch geballten, schicksalsträchtigen Moment, in dem »eine zeitüberdauernde Entscheidung auf ein einziges Datum, eine einzige Stunde und oft nur eine Minute zusammengedrängt ist«.

»Was ansonsten gemächlich nacheinander und nebeneinander abläuft«, schreibt er, »komprimiert sich in einen einzigen Augenblick, der alles bestimmt und alles entscheidet; ein einziges Ja, ein einziges Nein, ein Zufrüh oder ein Zuspät macht diese Stunde unwiderruflich für hundert Geschlechter und bestimmt das Leben eines Einzelnen, eines Volkes und sogar den Schicksalslauf der ganzen Menschheit.«

Oft sind es Schnittstellen an denen das vermeintlich Private historisch, politisch, dauerhaft wird. Und ein einziger Mann mit einer kleinen Idee Geschichte macht – oder geschichtlich scheitert. Scheitert wie Johann August Sutter, der Besitzer der ›Sutter´s Mill‹ auf dessen Gelände Arbeiter Goldnuggets fanden, was den großen kalifornischen Goldrausch von 1848 auslöste. Sutter, von Goldschürfern überrannt und seiner Rechte entäußert, verarmt am Ende völlig. – Oder sich unsterblich macht wie der junge Franzose Rouget de Lisle, der am 25. April 1792 die Marseillaise schrieb, die spätere französische Nationalhymne.

Zweig sagt uns damit auch: Das Private ist nur scheinbar privat. Wir alle bewegen uns auf einer Schnittlinie, auf einem Grat, auf dem wir durch eine einzige Entscheidung Historisches, Bleibendes schaffen können. Das ist ein sehr mutmachender, inspirierender Gedanke.

Stefan Zweigs Miniaturen sind keine historisch-genauen Berichte, sondern novellistisch zugespitzte Erzählungen. Die historische Faktenlage ist die Basis, und Zweig orientiert sich an ihr, doch wichtiger ist es ihm noch, den jeweiligen symbolischen und exemplarischen Charakter des Falls herauszuarbeiten.

Zum Autor: Stefan Zweig wurde am 18. November 1881 in Wien geboren, und lebte von 1919 bis 1925 in Salzburg. Er studierte Philosophie, Romanistik und Geschichte, und machte sich schon als sehr junger Mann einen Ruf als Übersetzer u.a. Verlaines und Baudelaires. Ab etwa 1900 veröffentlichte er eigene Werke. Zweig wurde zu einem der erfolgreichsten deutschen Autoren während der 1920er und 30er Jahre.

Stefan Zweig emigrierte 1934 nach England und 1940 nach Brasilien, wo er, bedrückt durch die politischen Entwicklungen in Deutschland und Europa, 1942 Suizid beging. Er hatte sich Zeitlebens als kosmopolitischer Intellektueller, als Europäer und Pazifist verstanden. »Seine Werke verbinden hohe moralische und ethische Ansprüche mit dem Bemühen um den Erhalt der alten geistigen Werte«, schreibt der Brockhaus Literatur.

Redaktion eClassica


Heroischer Augenblick

Dostojewski, Petersburg, Semenowskplatz.
22. Dezember 1849

 

Nachts haben sie ihn aus dem Schlaf gerissen,
Säbel durchklirren die Kasematten,
Stimmen befehlen; im Ungewissen
Zucken gespenstisch drohende Schatten.
Sie stoßen ihn vorwärts, tief gähnt ein Gang,
Lang und dunkel, dunkel und lang.
Ein Riegel kreischt, eine Türe klirrt;
Dann spürt er Himmel und eisige Luft,
Und ein Karren harrt, eine rollende Gruft,
In die er eilig gestoßen wird.

Neben ihm, hart in Eisen geschlossen,
Schweigend und mit verblaßtem Gesicht
Die neun Genossen;
Keiner spricht,
Denn jeder spürt,
Wohin der Karren ihn vorwärtsführt,
Und daß dies unten rollende Rad
Ihr Leben zwischen den Speichen hat.

Da hält
Der ratternde Karren, die Türe knarrt:
Durch das geöffnete Gitter starrt
Sie ein dunkles Stück Welt
Mit trüb-verschlafenem Blicke an.
Ein Häuserkarree,
Die Dächer niedrig und schmutzig bereift,
Umschließt einen Platz voll Dunkel und Schnee.

Nebel umfloren mit grauem Tuch
Das Hochgericht,
Und nur um die goldene Kirche streift
Der Morgen mit frostig blutendem Licht.

Schweigend treten sie alle an.
Ein Leutnant liest ihren Urteilsspruch:
Tod für Verrat durch Pulver und Blei,
Tod!
Das Wort fällt wie ein wuchtiger Stein
In den frostigen Spiegel der Stille hinein,
Es klingt
Hart, als schlüge etwas entzwei,
Dann sinkt
Der leere Schall ins lautlose Grab
Der eisigen Morgenstille hinab.

Wie im Traum
Fühlt er alles mit sich geschehen
Und weiß nur, daß er jetzt sterben muß.
Einer tritt vor und wirft ihm stumm
Ein weißes, wallendes Sterbehemd um.
Ein letztes Wort grüßt die Gefährten,
Und heißen Blicks,
Mit stummem Schrei,
Küßt er den Heiland am Kruzifix,
Den der Pope ihm ernst und mahnend hinbietet;
Dann werden
Sie alle zehn, je drei und drei,
Mit Stricken an ihre Pfähle genietet.

Schon
Kommt ein Kosake eilig heran,
Die Augen ihm vor dem Gewehr zu verbinden.
Da greift – er weiß es: zum letzten Male! –

Der Blick vor seinem großen Erblinden
Gierig nach jenem kleinen Stück Welt,
Das der Himmel ihm drüben entgegenhält:
Im Frühschein sieht er die Kirche lohn:
Wie zum letzten seligen Abendmahle
Glüht ihre Schale,
Gefüllt mit heiligem Morgenrot.
Und er greift nach ihr mit plötzlichem Glück
Wie nach Gottes Leben hinter dem Tod ...

Da schnüren sie ihm die Nacht um den Blick.

Aber innen
Beginnt das Blut nun farbig zu rinnen.
In spiegelnder Flut
Steigt aus dem Blut
Gestaltetes Leben,
Und er fühlt,
Daß diese Sekunde, die todgeweihte,
Alle verlornen Vergangenheiten
Wieder durch seine Seele spült:
Sein ganzes Leben wird wieder wach
Und geistert in Bildern durch seine Brust;
Die Kindheit, bleich, verloren und grau,
Vater und Mutter, der Bruder, die Frau,
Drei Brocken Freundschaft, zwei Becher Lust,
Einen Traum von Ruhm, ein Bündel Schmach;
Und feurig rollt der bildernde Drang
Verlorene Jugend die Adern entlang,
Sein ganzes Sein fühlt er nochmals tief innen
Bis zur Sekunde,
Da sie ihn an den Pfahl gebunden.
Dann wirft ein Besinnen,
Schwarz und schwer
Seine Schatten über die Seele her.

Und da
Spürt er, wie einer auf ihn zutritt,
Spürt einen schwarzen, schweigenden Schritt,
Nah, ganz nah,
Und wie er die Hand ihm aufs Herz hinlegt,
Daß es schwächer .. und schwächer ... und gar nicht mehr schlägt –
Noch eine Minute – – dann ist es vorbei.
Die Kosaken
Formen sich drüben zur funkelnden Reih ...
Die Riemen schwingen ... die Hähne knacken ...
Trommeln rasseln die Luft entzwei.
Die Sekunde macht Jahrtausende alt.

Da ein Schrei:
Halt!
Der Offizier
Tritt vor, weiß flackt ein Papier,
Seine Stimme schneidet hell und klar
In die harrende Stille:
Der Zar
Hat in der Gnade seines heiligen Willens
Das Urteil kassiert,
Das in mildere Strafe verwandelt wird.

Die Worte klingen
Noch fremd: er kann ihren Sinn nicht erdenken,
Aber das Blut
In seinen Adern wird wieder rot,
Steigt auf und beginnt ganz leise zu singen.
Der Tod
Kriecht zögernd aus den erstarrten Gelenken,
Und die Augen spüren, noch schwarz verhängt,
Daß sie Gruß vom ewigen Lichte umfängt.

Der Profos
Schnürt ihm schweigend die Stricke los,
Zwei Hände schälen die weiße Binde
Wie eine rissige Birkenrinde
Von seinen brennenden Schläfen ab.
Taumelnd entsteigen die Augen dem Grab
Und tasten linkisch, geblendet und schwach
In das schon abgeschworene Sein
Wieder hinein.

Und da sieht
Er das gleiche goldene Kirchendach,
Das nun im steigenden Frührotschein
Mystisch erglüht.

Die reifen Rosen der Morgenröte
Umschlingen es wie mit frommen Gebeten,
Der glitzernde Knauf
Deutet mit seiner gekreuzigten Hand,
Ein heiliges Schwert, hoch in den Rand
Der freudig errötenden Wolken hinauf.
Und dort, aufrauschend in Morgenhelle,
Wächst über die Kirche der Gottesdom.
Ein Strom
Von Licht wirft seine glühende Welle
In alle klingenden Himmel empor.
Die Nebelschwaden
Steigen qualmend, wie mit der Last
Allen irdischen Dunkels beladen,
In den göttlichen Morgenglast,
Und Tönen schwillt empor aus den Tiefen,
Als riefen
Tausend Stimmen in einem Chor.
Und da hört er zum erstenmal,
Wie die ganze irdische Qual
Ihr brennendes Leid
Brünstig über die Erde hinschreit.
Er hört die Stimmen der Kleinen und Schwachen,
Der Frauen, die sich vergebens verschenkten,
Der Dirnen, die sich selber verlachen,
Den finstern Groll der immer Gekränkten,
Die Einsamen, die kein Lächeln berührte,
Er hört die Kinder, die schluchzenden, klagen
Und die schreiende Ohnmacht der heimlich Verführten.
Er hört sie alle, die die Leiden tragen,
Die Ausgesetzten, die Dumpfen, Verhöhnten,
Die ungekrönten
Märtyrer aller Gassen und Tage,
Er hört ihre Stimme und hört, wie sie
In einer urmächtigen Melodie
Sich in die offenen Himmel erheben.
Und er sieht,
Daß einzig das Leiden zu Gott aufschwebt,
Indes die andern das schwere Leben
Mit bleiernem Glück an die Erde klebt.
Aber endlos weitet sich oben das Licht
Unter dem Schwalle
Der steigenden Chöre
Von irdischem Leid;
Und er weiß, sie alle, sie alle
Wird Gott erhören,
Seine Himmel klingen Barmherzigkeit!
Über die Armen
Hält Gott nicht Gericht,
Unendlich Erbarmen
Durchflammt seine Hallen mit ewigem Licht.
Die Apokalyptischen Reiter entstieben,
Leiden wird Lust, und Glück wird zur Qual
Für den, der im Tode das Leben erlebt.
Und schon schwebt
Ein feuriger Engel bodenwärts
Und bohrt ihm den Strahl
Der heiligen, schmerzgeborenen Liebe
Tief und strahlend ins schauernde Herz.

Da bricht
Er ins Knie wie gefällt.
Er fühlt mit einmal die ganze Welt
Wahr und in ihrem unendlichen Leid.
Sein Körper bebt,
Weißer Schaum umspült seine Zähne,
Krampf hat seine Züge entstellt,
Doch Tränen
Tränken selig sein Sterbekleid.
Denn er fühlt, daß, erst seit
Er die bittern Lippen des Todes berührt,
Sein Herz die Süße des Lebens spürt.
Seine Seele glüht nach Martern und Wunden,
Und ihm wird klar,
Daß er in dieser einen Sekunde
Jener andere war,
Der vor tausend Jahren am Kreuze stand,
Und daß er, wie Er,
Seit jenem brennenden Todeskuß
Um des Leidens das Leben liebhaben muß.

Soldaten reißen ihn weg vom Pfahl.
Fahl
Und wie verloschen ist sein Gesicht.
Schroff
Stoßen sie ihn in den Zug zurück.
Sein Blick
Ist fremd und ganz nach innen gesenkt,
Und um seine zuckenden Lippen hängt
Das gelbe Lachen der Karamasow.