IN DER ERSTAUSGABE dieses Buches (1774) stand hier das Vorwort eines von Goethe erfundenen fiktiven Herausgebers (siehe unten), der die Geschichte einleitete. Suggeriert wurde damit, ebenso wie durch die Briefform und die Anonymität des Verfassers – denn die erste Ausgabe erschien anonym – dass es eine wahre, eine ganz reale Geschichte sei, die hier erzählt werde.
Dieser geniale literarische Trick Goethes zeigte Wirkung: Kein Buch zuvor wurde vom Publikum so begierig aufgenommen und von den Lesern geradezu verschlungen, wie der Werther. Der Briefroman erschien erstmals im Herbst 1774 zur Leipziger Buchmesse, und wurde sofort ein Bestseller. Und wenig später, als Goethes Autorenschaft klar war, wurde er mit seinen gerade 25 Jahren zum literarischen Superstar.
Doch wiewohl die Handlung fiktive Elemente enthält, ist sie doch keineswegs erfunden. Werther war Goethe, und Goethe war Werther, der von der Liebe zerrissene junge Mann, von dem er erzählte. Hoffnungslos verliebt in die blutjunge Charlotte Buff, die der 23jährige Goethe 1772 in Wetzlar bei einem Tanzvergnügen kennen gelernt hatte. Sie kamen sich näher, sie waren vertraut, ja seelenverwandt. Doch Charlotte, die 19jährige war seit vier Jahren einem anderen Mann versprochen. Und sie konnte und mochte nicht gegen die Konventionen verstoßen. Sie wies Goethe ab, als er mehr wollte. Das ist der reale Hintergrund des Werther, und die junge Charlotte Buff, das ist das Vorbild der »Lotte« im Buch.
Goethe war in seinem Element, in der Liebe, gefangen und befreit, ein Leben lang, es war sein Lebenselixier. Und hier, mit dem Werther und Lotte, begann sie erstmals große literarische Früchte zu tragen, ganz genau wie ein halbes Jahrhundert später, als er sich als 72jähriger unsterblich in die 19jährige Ulrike von Levetzow verliebte, und sogar – vergeblich – um ihre Hand anhalten ließ. Daraus entstanden dann die »Marienbader Elegien«
Er hatte es erspürt, und nur er konnte schreiben:
Alles geben Götter, die unendlichen,
Ihren Lieblingen ganz,
Alle Freuden, die unendlichen,
Alle Schmerzen, die unendlichen, ganz.
Der Erfolg des Werther war schon fast furchteinflößend. Kritiker geisselten die Gottlosigkeit des Buches, zum einen, weil es eine verbotene Beziehung idealisierte, zum anderen, weil es den Suizid des Protagonisten als legitimen Ausweg anbot. Nachahmer-Taten wurden gefürchtet und wurden durch die Macht des Buches tatsächlich ausgelöst, wenngleich viel weniger, als über die Jahre kolportiert wurde. Es gibt nur eine Handvoll dokumentierter Fälle.
Sehr zu schaffen machte Goethe aber der Suizid seiner 28 Jahre alten guten Bekannten Christiane von Laßberg im Januar 1778, vier Jahre nach Erscheinen des Werther. Als man sie fand, soll sie ein Exemplar des Romans in ihrer Tasche gehabt haben. Es könnte ein Grund für Goethe gewesen sein, das Buch zu überarbeiten. In der neuen, 1787 veröffentlichten Fassung, geht er etwas stärker auf Distanz zum Helden und macht damit das Suizidmodell weniger attraktiv. Bei dieser Fassung entfiel dann auch das Genitiv-»s« im Titel (ursprünglich: Die Leiden des jungen Werthers)
Der »Werther« gehört zu den erfolgreichsten Romanen der gesamten Literaturgeschichte und läutete eine ganze literarische Epoche (»Sturm und Drang«) ein. Wohl kein anders Buch hat so mächtigen Eindruck auf die Leserschaft gemacht, und gleichzeitig so große Impulse an die nachfolgende Literatur gegeben, wie der Werther. Und selbst wenn sich heute die Psychologie mit dem Phänomen von »medial vermittelten Nachahmungs-Suiziden« befasst, verwendet sie die Bezeichnung Werther-Effekt.
Redaktion eClassica
Was ich von der Geschichte des armen Werther nur habe auffinden können, habe ich mit Fleiß gesammelt und lege es euch hier vor, und weiß, dass ihr mir's danken werdet. Ihr könnt seinem Geist und seinem Charakter eure Bewunderung und Liebe, seinem Schicksale eure Tränen nicht versagen.
Und du gute Seele, die du eben den Drang fühlst wie er, schöpfe Trost aus seinem Leiden, und lass das Büchlein dein Freund sein, wenn du aus Geschick oder eigener Schuld keinen näheren finden kannst.