Vorwort des Herausgebers
»›Der Untergang des Abendlandes‹ [dürfte] das Lebensgefühl der Europäer im zwanzigsten Jahrhundert stärker erschüttert haben, als jedes andere Werk.«
Rolf Hochhuth
Kernthese dieses sprichwörtlich epochalen Werkes ist der Gedanke, dass die menschliche Zivilisation sich nicht linear von unten nach oben entwickelt, sondern sozusagen pulsierend aufblüht und wieder in sich zusammenfällt. Der Aufstieg folgt dabei bestimmten Regeln und Phasen, der Untergang kommt unausweichlich.
Mit seiner radikalen Abkehr vom linearen Geschichtsdenken schuf Spengler einen intellektuell überzeugenden und enorm einflussreichen Ansatz zur Erklärung der Weltgeschichte. Parallelen zu früheren Epochen waren zwar schon immer gezogen worden – es ist geradezu ein Wesenszeichen menschlicher Kulturen, sich mit Vorgängerkulturen zu vergleichen und Übereinstimmungen nachzuspüren. Spengler aber war der erste, der dies systematisch tat, der alles geschichtliche Wissen bis zu seiner Zeit sichtete, ordnete – und daraus ein Phasenmodell der Kulturen ableitete.[1] Einen Werdegang sozusagen, den jede Kultur unweigerlich durchlaufe – und somit auch ein mächtiges Prognosewerkzeug für die Zukunft. Erst diese Prognosekraft gab Spenglers Theorie ihre geradezu unheimliche Macht und Ausstrahlungskraft.
Im Mittelpunkt der Spenglerschen Weltgeschichte stehen also nicht die Individuen, sondern die Kulturen. Sie sind »Lebewesen höchsten Ranges, sie wachsen in erhabener Zwecklosigkeit auf, wie die Blumen auf dem Felde«, und sie sterben, wenn sie sich verwirklicht haben. Für die zurückliegenden 5.000 Jahre identifiziert Spengler acht Hochkulturen, von denen jede etwa ein Jahrtausend andauerte:
• Ägyptische Kultur: Seit ca. 3000 v. Chr. am Nil, unter Einschluss der kretisch-minoischen Kultur.
• Babylonische Kultur: Seit ca. 3000 v. Chr. im heutigen Nahen Osten.
• Indische Kultur: Seit 1500 v. Chr. im Indus-Gebiet und im Inneren des indischen Subkontinents.
• Chinesische Kultur: Seit 1400 v. Chr. auf dem ostasiatischen Kontinent.
• Antike, also griechisch-römische Kultur: Seit 1100 v. Chr. im Mittelmeerraum (Kernland: heutiges Griechenland und Italien).
• Arabische, d. h. auch frühchristliche und byzantinische Kultur: Seit Christi Geburt am östlichen Mittelmeerrand.
• Mexikanische Kultur: Seit ca. 200 n. Chr. im Hauptgebiet Mittelamerika.
• Abendländische Kultur: Seit 900 n. Chr. in Westeuropa, später auch Nordamerika.
Unsere abendländische Kultur ist laut Spengler bereits in ihrer Hochphase angelangt, ja hat sie überschritten. Sie ist, wie einst die Antike, zum Sterben verurteilt. Signalisiert wird ihr Tod durch Demokratie, Materialismus und Irreligiosität, Frauen-Emanzipation, »Erlahmen der vitalen Fruchtbarkeit« (»Statt der Kinder haben die Frauen seelische Konflikte«) und die »Diktatur des Geldes über die Macht«.
Der Titel des vorliegenden Buches – Der Untergang des Abendlandes[2] – wurde nun geradezu permanent missverstanden – weil er in seiner reisserischen Art ja auch dazu einlädt. Was Spengler aber damit akzentuieren wollte, ist nicht eine heute oder morgen sintflutartig über uns herein brechende Katastrophe. Sondern die Tatsache, dass wir uns seiner Ansicht nach in der Hoch- und Endphase einer kulturellen Epoche befinden, die gemäß seines Phasenmodells unausweichlich auf einen Niedergang zusteuern muss. Zu denken allerdings nicht als schnelle Apokalypse, sondern als ein Prozess, der sich über mehrere Jahrhunderte hinziehen wird.
Für diese Endphase prognostiziert Spengler die Dominanz einer oligarchischen Führungselite, mit einem starken Anführer an der Spitze, der das Trümmerfeld der abendländischen Kultur im Zeitalter der fortgeschrittenen Zivilisation beherrschen werde.
Spenglers Werk erschien 1918, in den turbulenten Jahren zwischen den beiden Weltkriegen. Und nicht wenige Rezipienten dieses Werkes deuteten danach auf Hitler, weil sie meinten, dass genau er der angekündigte, starke Führer sei. Ein Gedanke, der Oswald Spengler äusserst unangenehm war.
Was nicht heissen soll, dass Spengler etwa ein politischer Antipode Hitlers gewesen wäre. Nein, Spengler war kein linksliberaler Aufklärer, sondern er war konservativ und reaktionär, nationalistisch und autoritär. Die Demokratie betrachtete er als lächerliche Übergangsphase und in der Weimarer Republik sah er einen Staat »von Flöhen«. Er wünschte sich einen starken Autokraten an der Spitze – nur eben nicht den ungebildeten und geifernden Gefreiten Hitler.
Nachdem Spengler durch den ersten Band seines Werkes bekannt geworden war, versuchte er Anfang der 20er Jahre auch selbst Einfluss auf die Politik zu nehmen. Als »Apostel eines autoritären Konservativismus«[3] reiste er durch Deutschland und entfaltete rege konspirative Tätigkeit. In verschlüsselten Briefen verfolgte er den Umsturz der verhassten Weimarer Republik. Nach einem Plan, der dem damaligen Chef der Heeresleitung, General von Seeckt, zugeschrieben wird, sollte das parlamentarische System durch ein mit diktatorischen Vollmachten ausgestattetes Direktorium abgelöst werden, mit Spengler als Kulturminister oder Pressechef. In der Schrift »Neubau des Deutschen Reiches« hatte Spengler dafür sogar ein Regierungsprogramm entworfen.
Zusammen mit dem Verlagschef der ›Münchner Neuesten Nachrichten‹ Nikolaus Cossmann, dem Leiter der ›Hochschule für nationale Politik‹ Martin Spahn und dem Industriellen Albert Vögler wollte Spengler 1922 auch ein Netzwerk zum Aufbau eines nationalkonservativen Pressekartells knüpfen – was letztlich an der Finanzierung scheiterte.
Im Laufe der Jahre gingen dann jene rechtskonservativen Kreise, denen sich Spengler verbunden fühlte, in Konkurrenz mit dem Nationalsozialismus unter oder wurden von diesem aufgesogen; und Spengler zog sich aus der Politik zurück. Dann, am 25. Juli 1933, traf er in Bayreuth doch noch mit Hitler zusammen. Rund anderthalb Stunden unterhielten sie sich – doch blieben sich die beiden fremd. Spengler schrieb später: »... wenn man ihm gegenübersitzt, hat man nicht ein einziges Mal das Gefühl, daß er bedeutend ist.« Und Hitler seinerseits ließ nie wieder etwas von sich hören.
In seinem Buch ›Jahre der Entscheidung‹, das am 18. August 1933 – fast ein halbes Jahr nach der nationalsozialistischen »Machtergreifung« – in Deutschland erschien, distanzierte sich Spengler öffentlich von Hitler und dem Nationalsozialismus. Während er dagegen den faschistischen Diktator Benito Mussolini in höchsten Tönen lobte. Dieser verkörperte für ihn den Typus des künftigen »Cäsars«, analog den »echten« Cäsaren, die das antike »Imperium Romanum« geprägt hatten. Aber Hitler war für ihn fortan nur noch der »Prolet-Arier«, und die Hitler-Partei »die Organisation der Arbeitslosen durch die Arbeitsscheuen«.
In seiner Ablehnung des Nationalsozialismus blieb Spengler bis zu seinem Tod konsequent. Er starb in der Nacht vom 7. auf den 8. Mai 1936 in seiner Münchner Wohnung an Herzversagen; sein unerwarteter Tod nährte Gerüchte, er sei von NS-Männern ermordet worden – eine These, die mangels Beweis Spekulation bleibt.
Redaktion eClassica
Über den Autor:
Oswald Arnold Gottfried Spengler wird am 29. Mai 1880 als zweites Kind des Postsekretärs Bernhard Spengler und dessen Frau Pauline in Blankenburg (Harz) geboren. Nach dem Abitur studiert er von 1899 bis 1903 Mathematik und Naturwissenschaften – in Halle, München und Berlin – sowie Kunst, Geschichte und Philosophie. Von 1907 bis 1911 arbeitet er in Hamburg als Dozent für Naturwissenschaft, Mathematik, Deutsch und Geschichte. 1911 übersiedelt er nach München, arbeitet als Kulturredakteur für Zeitungen, danach als Schriftsteller und Privatgelehrter. Sein Hauptwerk »Der Untergang des Abendlandes« erscheint 1918 und 1922 in zwei Bänden.
Schon in jungen Jahren zeichnete ihn eine Art intellektueller Größenwahn und ein elitäres Überlegenheitsgefühl aus. Er müsse »eine Art Messias« werden, notierte er schon als Halbwüchsiger. Nach seiner Übersiedlung nach München – er war 31 – kam er mit der Schwabinger Bohème in Kontakt, die ihm ein Graus war. Er schottete sich ab, immer im Glauben geistiger Überlegenheit, und hatte auch zu Frauen ein gestörtes Verhältnis. In einer Notiz für eine geplante Autobiographie notierte er, er habe »Angst vor Weibern, sobald sie sich ausziehen.«
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Anmerkungen:
[1] Einen Vor-Denker, der schon rund 20 Jahre früher ähnliche Überlegungen angestellt hatte, erwähnte Spengler nicht, obwohl er von ihm profitierte: Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf hatte bereits 1897 unter dem Begriff ›Weltperioden‹ ähnliche Phasen beschrieben, wie sie dann auch bei Spengler auftauchen. Auch viele andere Quellen, aus denen er schöpfte, lässt Spengler in seinem Literaturverzeichnis unerwähnt.
[2] Der Titel ist angelehnt an das sechsbändige Werk »Der Untergang der antiken Welt« von Otto Seeck, das Spengler, wie seine Schwester in ihrem Tagebuch berichtet, 1912 im Schaufenster einer Buchhandlung entdeckte. Auch diese Quelle erwähnt er nirgends.
[3] Zitiert nach ›Der Spiegel‹ 43/1968, »Philosophie Spengler: Eine Art Messias«
Weitere Quelle: Spengler-Biograph Mirko Koktanek, »Oswald Spengler in seiner Zeit«, C. H. Beck 1968
Der Untergang des Abendlandes – Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte
Wenn im Unendlichen dasselbe
Sich wiederholend ewig fließt,
Das tausendfältige Gewölbe
Sich kräftig ineinander schließt;
Strömt Lebenslust aus allen Dingen,
Dem kleinsten wie dem größten Stern,
Und alles Drängen, alles Ringen
Ist ewige Ruh in Gott dem Herrn.
Goethe