Während die vorliegende Übersetzung die neue Rechtschreibung verwendet,
wurden die aus der Primär- und Sekundärliteratur übernommenen Zitate aus
Gründen der Quellentreue in der jeweiligen Rechtschreibung belassen.
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Für Jim Lester (1927–2010),
über alle Worte wunderbar
Übersetzung aus dem Amerikanischen von Klaus Binder und Bernd Leineweber
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Berlin Verlag erschienenen Buchausgabe
1. Auflage 2012
ISBN 978-3-8270-7590-1
© 2012 Toby Lester
Für die deutsche Ausgabe
© 2012 Bloomsbury Verlag GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Nina Rothfos & Patrick Gabler, Hamburg,
unter Verwendung der Zeichnung „Proportionsschema der menschlichen Gestalt nach Vitruv“ von Leonardo da Vinci
Vorwort
Erzählen möchte ich die Geschichte der bekanntesten Zeichnung der Welt: die Geschichte von Leonardo da Vincis Mann in Kreis und Quadrat.
Kunsthistoriker nennen das Blatt den Vitruvianischen Menschen, denn die Zeichnung geht zurück auf eine Beschreibung menschlicher Proportionen, die der römische Architekt, Militäringenieur und Baumeister Vitruv vor rund zweitausend Jahren verfasst hat. Unter diesem Namen allerdings ist die Zeichnung den wenigsten bekannt. Wenn ich ihn im Gespräch verwende, stoße ich auf verständnislose Blicke – bis ich beginne, die Zeichnung zu beschreiben. Dann blitzen die Funken des Wiedererkennens. »Klar«, sagte einer meiner Gesprächspartner, »du meinst den Typen, der wie ein Hampelmann in Kreis und Quadrat herumspringt?«
Mag man es nennen, wie man will, das Bild kennt jeder. Es ist allgegenwärtig, wird zu allen möglichen Zwecken herangezogen, soll Ideen und Vorstellungen schmücken und feiern helfen: die Großartigkeit der Kunst, das körperliche Wohlbefinden, Gesundheit, die Macht von Geometrie und Mathematik, die Ideale der Renaissance, die Schönheit des menschlichen Körpers, die Universalität des menschlichen Geistes und vieles mehr. Das Bild hat einen prominenten Platz in der Symbolwelt von Dan Browns Da Vinci Code und wird in Die Simpsons herrlich veralbert. Es ziert Kaffeebecher und T-Shirts, Buchumschläge und Plakatwände, taucht in Filmen und im Internet auf, in Unternehmenslogos und in der Wissenschaft, als Logo sogar auf internationalen Raumfahrzeugen. Selbst auf der italienischen Ein-Euro-Münze findet man den Mann in Kreis und Quadrat, tagtäglich gleitet er Millionen Menschen durch die Hand. Kurz, dieses Bild ist eine Ikone von unbestreitbarer Reichweite und Faszination – seine Geschichte allerdings kennt fast niemand.
Ich bin auf diese Geschichte gestoßen, während ich an meinem letzten Buch gearbeitet habe. Der vierte Kontinent (2009) erzählt, wie es zu der bemerkenswerten Karte kam, die Amerika 1507 den Namen gab. Damals war ich tief eingetaucht in die geheimnisvolle und wundersame Welt uralter Karten, geographischer Ideen und Bildern des Kosmos – und eines Tages bin ich auf eine mittelalterliche Weltkarte gestoßen, die meine Aufmerksamkeit auf der Stelle fesselte. Plötzlich sah ich die verblüffende Ähnlichkeit: Die Karte sieht aus wie der Vitruvianische Mensch (Abb. 1).
Abb. 1. Die Lambeth-Palace-Karte, um 1300. Christus, eingeschrieben in Kreis und Quadrat, verkörpert und umfängt das Weltganze.
Je mehr ich mich mit mittelalterlichen Handschriften beschäftigte, desto häufiger stieß ich auf ähnliche Illustrationen – ich fand sie auf Weltkarten, in kosmischen Diagrammen, in Führern zu Sternbildern, auf astrologischen Schaubildern, auf Abbildungen in medizinischen Handschriften und so fort. Leonardo, dämmerte mir, kann den Vitruvianischen Menschen nicht aus dem Blauen beschworen haben. Dieses Bild muss eine Geschichte haben, eine tiefere Bedeutung, die Figur eine lange Linie von Vorgängern.
Nur kurz konnte ich in meiner Geschichte der Waldseemüllerkarte auf diese Figur eingehen, nämlich im Zusammenhang mit mittelalterlicher und Renaissancekartographie. In der Geschichte, die ich in diesem Buch erzählt habe, taucht das Bild nur peripher auf, schon bald musste ich den Mann in Kreis und Quadrat wieder verlassen.1 Doch auch als ich weiterging, habe ich die kleiner werdende Gestalt des Vitruvianischen Menschen nicht aus meinem geistigen Rückspiegel verloren. Was alles muss sich in diesem Bild verbergen? Welche vergessenen Welten mag es enthalten? Welchen Blick auf Leonardo und seine Zeit könnte es uns bieten? Warum hat bislang niemand versucht, die Geschichte dieses Bildes zu erzählen? Schon bald hatte mich auch diese Geschichte am Wickel, und was nach gut zwei Jahren herauskam, war dieses Buch.
Auf den ersten Blick scheint, was zu erzählen ist, nicht weiter spektakulär. Vitruv, der in der Morgenröte des gerade entstehenden römischen Kaiserreichs schrieb, behauptete, dass man eine Menschengestalt in einem Kreis und einem Quadrat einschreiben kann, und etwa fünfzehnhundert Jahre später gab Leonardo dieser Idee eine visuelle Gestalt. Aber das ist längst nicht alles. Vitruv hat seine Figur im Kontext eines Leitfadens für Baumeister und Architekten beschrieben und darauf bestanden, dass sich die Proportionen heiliger Tempel nach den Proportionen eines idealen menschlichen Körpers zu richten hätten. Er war davon überzeugt, dass dieser Körper in Entwurf und Aufbau der verborgenen Geometrie des Universums entspricht. Daher die Bedeutung von Kreis und Quadrat. Beiden Formen hatten antike Philosophen, Mathematiker und Mystiker schon lange Zeit zuvor symbolische Kraft zugesprochen. Der Kreis stand für das Kosmische und Göttliche; das Quadrat repräsentierte das Irdische und Säkulare. Und jeder, der behauptete, man könne einen Menschen in beide Formen einpassen, traf damit eine uralte metaphysische Feststellung: Der menschliche Körper ist nicht nur nach den Prinzipien gestaltet, die die Welt als Ganzes regieren – er ist die Welt selbst, er ist eine »Welt im Kleinen«.
Diese Vorstellung, bekannt auch als Theorie des Mikrokosmos, war – und das mit ganz erstaunlicher Kraft und weiter Verbreitung – über Jahrhunderte hinweg Motor und Antrieb des religiösen, wissenschaftlichen und künstlerischen Denkens in Europa. Auch Leonardo überließ sich Ende des fünfzehnten Jahrhunderts ohne zu zögern diesem Gedanken. Wenn sich in der Gestalt des menschlichen Körpers tatsächlich auch die Gestaltung des Universums spiegelt, dann, so überlegte er, müsste er diesen nur genauer studieren, als dies je zuvor geschehen war, müsste seine einzigartige Beobachtungsgabe nutzen, um die eigene, die menschliche Natur zu ergründen. Damit würde er die Reichweite seiner Kunst so weit ausdehnen können, dass sie auch noch die entferntesten metaphysischen Horizonte erfassen würde. Durch minutiöse Selbstbeobachtung könnte er, der Beobachter und Maler, die Welt als Ganzes verstehen.
Im Vitruvianischen Menschen kondensiert sich dieser Traum zu einer visuell eindrucksvollen Form. Auf den ersten Blick mag das Bild schlicht erscheinen, lediglich als Studie individueller Proportionen. Aber es enthält Subtileres, ist hochkomplex, denn es fasst eine tiefgründige philosophische Spekulation zusammen und realisiert sie zugleich. Zudem ist die Zeichnung mit dem markanten Männerbild ein idealisiertes Selbstporträt, in dem Leonardo, bis auf sein Wesen entkleidet, sein eigenes Maß erfasst und damit gleichzeitig eine zeitlos menschliche Hoffnung verkörpert: dass wir nämlich über genügend Geisteskraft verfügen, um herauszufinden, wie wir in die große Ordnung der Dinge eingefügt sind.
So ist die Geschichte des Vitruvianischen Menschen eigentlich eine doppelte: eine individuelle und eine kollektive. Erstere ist Leonardos Lebensgeschichte. Ich habe versucht, diese für die Jahre, die zum Datum 1490 hinführen, so genau wie möglich nachzuzeichnen: den Weg, auf dem Leonardo schließlich dazu kam, seine berühmte Zeichnung anzufertigen. Und man wird es kaum glauben, diese Geschichte ist weitgehend unbekannt. Wie der Vitruvianische Mensch wurde auch sein Schöpfer Leonardo zu einer derart bekannten Ikone, die für so vieles stehen muss, dass man ihm kaum noch als einer wirklichen Person begegnet. Mehr oder weniger vollständig ist er, als dessen Geschöpf, in dem Mythos aufgegangen, der um ihn gesponnen wurde: Prophet und Magus, begabt mit nahezu übermenschlichen Eigenschaften und Fähigkeiten, seiner Zeit um Äonen voraus. Eine Historikerin unserer Tage hat das, als Echo der Worte unzähliger anderer Leonardo-Forscher, so formuliert: »Leonardo, der universelle Mensch der Renaissance, schreitet voran, von den mittelalterlichen Menschen so weit entfernt wie nur vorstellbar.«2 Genau das aber ist nicht die Gestalt, der Leserinnen und Leser in diesem Buch begegnen werden. Der Leonardo, der den Vitruvianischen Menschen zeichnete, war, wie wir sehen werden, in seinem Denken ebenso sehr mittelalterlich und von der Vergangenheit bestimmt, wie er ein Mensch der heraufziehenden Neuzeit war, ein Visionär der via moderna – und gerade wegen dieser Vielschichtigkeit so faszinierend und geheimnisvoll.
Die zweite Geschichte, die in diesem Buch zu erzählen ist, greift viel weiter aus. Es ist die des Vitruvianischen Menschen, wie er als Idee vor über zweitausend Jahren in die Welt trat – als Idee, die ihren Weg machte durch die Jahrhunderte bis zu ihrer schicksalhaften Begegnung mit Leonardo. Es ist eine Geschichte, die Jahrhunderte, ganze Kontinente und viele Wissenschaften umspannt, in der Menschen, Ereignisse und Ideen in den Blick geraten und wieder verschwinden: der Architekt Vitruv, uralte Theorien des Kosmos, antike griechische Bildhauer, der römische Kaiser Augustus, römische Feldmesser und ihre Vorstellungen und Techniken, die Idee von Imperium und Reich, frühchristlich geometrische Symbolik, die mystischen Visionen einer Hildegard von Bingen, Europas große Kathedralen, islamische Vorstellungen vom Mikrokosmos, die Künstlerwerkstätten der Handelsstadt Florenz, Brunelleschis Dom, die italienischen Humanisten, das höfische Leben in Mailand, sezierte Menschenkörper, Architekturtheorien der Renaissance, und vieles andere. Manchmal schweift diese Geschichte in entlegene Gebiete, doch niemals, so hoffe ich, ohne guten Grund: Jede neue Episode, jedes neue Kapitel ist darauf angelegt, Leonardo und seine Zeichnung in einen noch intensiver grundierten Kontext zu setzen.
Schon der Sache nach liegen die Ausgangspunkte beider Geschichten weit auseinander. Ich habe sie zudem unterschiedlich erzählt, die eine als persönliche Geschichte, die andere als Ideengeschichte, die von einem quasi erhöhten Blickpunkt aus verfolgt wird. Im Fortgang des Buchs jedoch verwickeln sich beide Erzählungen ineinander und werden, im letzten Kapitel, zu ein und derselben Geschichte. Beide Stränge haben es vordringlich mit Visuellem zu tun, darum enthält dieses Buch viele jeweils zeitgenössische Zeichnungen und Darstellungen. Man könnte sie, wenn man sich, wie bei einem Daumenkino, von vorne nach hinten rasch durch die Seiten blättert, in Bewegung und Leben flimmern lassen und zusehen, wie sich Leonardos Vitruvianischer Mensch entwickelt.
»Hier entlang, bitte.«
Venedig, an einem feuchtkalten Märzmorgen. Die Aufseherin in der Galleria dell’Accademia bittet mich, ihr durch die weiten Ausstellungshallen zu folgen. Seit fast zweihundert Jahren ist die Accademia im Besitz der berühmten Zeichnung, und ich war gekommen, den Vitruvianischen Menschen persönlich zu besuchen.
Ohne sich einmal umzuwenden, durchquert die Aufseherin zielstrebig Raum für Raum, schiebt sich durch Trauben von Museumsbesuchern, die sich vor einigen der berühmtesten Bilder der italienischen Kunstgeschichte gebildet haben. Kaum konnte ich, hinter ihr her hastend, Schritt halten. Schließlich erreichen wir den hinteren Teil des Museums, eine weitere Aufsichtsperson erwartet uns. Der Mann bittet uns stehen zu bleiben, spricht in sein Walkie-Talkie, winkt uns dann, ihm durch ein normalerweise mit einem Seil abgesperrtes Treppenhaus nach oben zu folgen.
In Ausstellungen der Accademia wird der Vitruvianische Mensch nur selten gezeigt. Die meiste Zeit verbringt er gut geschützt in einem klimageregelten Archiv, zu dem das breite Publikum keinen Zugang hat. Wer ihn sehen will, muss sich eine Sondererlaubnis besorgen; zuständig ist Dr. Annalisa Perissa Torrini, die Direktorin der graphischen Sammlung der Galleria dell’Accademia. Hält sie die Anfrager für würdig, arrangiert sie einen persönlichen Besichtigungstermin, allerdings unter Aufsicht.
Im Archivraum, in den ich schließlich gebeten werde, wartet sie bereits. Wir stellen einander vor, wechseln ein paar Worte. Dann ein paar Schritte hinüber zu einem Ausstellungstisch und wir kommen zum eigentlichen Anlass meines Besuchs. Dr. Perissa Torrini streift ein Paar nicht mehr ganz neue weiße Baumwollhandschuhe über, bittet mich, es ihr gleichzutun. Dann geht sie hinüber zu einer Reihe flacher Schubfächer, zieht eines davon auf, hebt eine Schutzmappe heraus, die sie vorsichtig auf den Tisch legt. Sie richtet sich auf und sieht mich fragend an.
»Nun, sind Sie bereit?«
Die Symmetrie der welt
Der Mensch ist das Modell der Welt
Leonardo da Vinci (um 1480) 1
Prolog
1490
Am 18. Juni 1490 macht sich in Mailand eine kleine Gruppe Reisender zu Pferd auf den Weg in die Universitätsstadt Pavia, etwa vierzig Kilometer weiter südlich. Die Straße zwischen beiden Städten ist ausgefahren, dennoch verspricht der Ritt über Land angenehm zu werden, eine Frühsommertour durch die grüne Ebene der Lombardei. Zu Pferd braucht man ein paar Stunden, vorbei an Kleewiesen, an Schatten spendenden Pappeln, entlang Kanälen, welche die Felder rechts und links des Weges entwässern. Die Reiter haben Muße genug, die Landschaft in sich aufzunehmen, Landluft einzusaugen, sich mit leichten Gesprächen zu unterhalten.
In Pavia angelangt, bringen sie die Pferde vor dem Gasthof Il Saracino zum Halten.2 Der Wirt, ein gewisser Giovanni Agostino Berneri, eilt, vom Klappern der Hufe herbeigerufen, vors Haus, um die Ankömmlinge zu begrüßen. Schließlich wurden zwei der Herren eigens nach Pavia berufen, und dies von niemandem Geringeren als von Ludovico Sforza, dem selbsternannten Herzog von Mailand, dessen Herrschaftsgebiet damals noch weit über Pavia hinausreicht. Der Herzog hat die Stadt vor nicht allzu langer Zeit besucht, auch die Baustelle des neuen Doms besichtigt. Den Bau hat er vor genau zwei Jahren in Auftrag gegeben. Am 8. Juni 1490 schickte er dann seinem Privatsekretär einen Brief nach Mailand: »Die Verwalter der fàbbricca des Doms haben gebeten und darauf gedrängt, dass wir uns entschließen mögen, ihnen den Sienesischen Architekten zu schicken, den die Òpera del duomo in Mailand beschäftigt hat … Ihr müsst mit diesem Ingenieur sprechen und darauf sehen, dass er hierherkommt und sich das Bauwerk ansieht.«3
Der Gefragte war Francesco di Giorgio Martini, einer der berühmtesten Architekten seiner Zeit, der sich gerade in Mailand aufhielt, um die Entwurfspläne für den Tiburio zu studieren, den Vierungsturm, der bald über dem in Bau befindlichen Dom errichtet werden sollte. In einem Postskriptum zu seinem Brief verlangte der Herzog, dass auch nach zwei weiteren Fachleuten seiner Wahl geschickt werde. Der eine von ihnen war Giovanni Antonio Amadeo, ein bekannter Mailänder Architekt, der mit Francesco bereits an den Plänen für den Vierungsturm arbeitete und der auch schon andere Aufträge für den Herzog ausgeführt hatte. Die Gründe für die Wahl des anderen waren sehr viel weniger durchsichtig: Es handelte sich um einen achtunddreißigjährigen Maler und Bildhauer aus Florenz, der in Mailand lebte, als Baumeister aber keinerlei Erfahrungen vorzuweisen hatte. In seinem Brief hatte ihn der Herzog als »Messer Leonardo aus Florenz« bezeichnet. Uns ist er unter einem anderen Namen bekannter: Leonardo da Vinci.
Pflichtschuldigst kümmerte sich der herzogliche Privatsekretär um die Angelegenheit und konnte schon zwei Tage später seinem Herrn eine Antwort schicken. Francesco, berichtete er, habe noch einiges zu tun, könne Mailand jedoch in acht Tagen verlassen. Amadeo allerdings könne ihn nicht begleiten, denn der sei mit einem wichtigen Bauvorhaben am Comer See beschäftigt. Leonardo wiederum habe großes Interesse gezeigt, Francesco nach Pavia zu begleiten. Der Meister aus Florenz, heißt es in diesem Schreiben weiter, »steht bereit, wann immer man ihn bittet. Wenn Ihr den Sieneser Architekten entsendet, wird auch er zur Stelle sein.«4
Kurz darauf machten sich Francesco aus Siena und Leonardo aus Florenz auf den Weg nach Pavia, begleitet von einer kleinen Gruppe von Berufskollegen und einigen Dienern. Hätte man einen der Mitreisenden gefragt, an welchen der beiden Herren man sich wohl auch in fünfhundert Jahren noch erinnern würde, die Antwort wäre eindeutig gewesen: an den großen Francesco. Noch Mitte des sechzehnten Jahrhunderts hieß es, Francesco habe mehr zur Entwicklung der italienischen Baukunst beigetragen als irgendwer sonst seit dem legendären Filippo Brunelleschi. Dabei entsprang dieser Ruhm nicht nur Francescos Leistungen als produktiver und erfolgreicher Baumeister, sondern auch seinem Werk als Schriftsteller und graphischer Künstler. So wurden die von ihm illustrierten Abhandlungen im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert häufiger kopiert als die aller anderen Künstler.5 Als er 1490 nach Mailand kam, galt er wohl als einer der Gefragtesten unter den architektonischen Beratern in ganz Italien. Allein im Jahr 1490 reiste er von Siena aus nach Bologna, Bracciano, Mailand und Urbino, überall dort suchte man seinen Rat für örtliche Bauvorhaben. Als er nach Pavia ritt, hatte er an seiner Seite Leonardo – dessen Vermächtnis das Francescos bald in den Schatten stellen würde.
Eine der frühesten Beschreibungen Leonardos stützt sich auf die Erinnerungen eines Malers, der ihn in Mailand persönlich kennengelernt hatte. Sie gibt uns eine Vorstellung von seinem Aussehen und Auftreten aus dieser Zeit: »Er war von schöner Gestalt, ebenmäßig, anmutig und von schönem Aussehen. Er trug einen kurzen, bis zum Knie reichenden rosenfarbenen Mantel, denn damals waren die langen Kleider in Mode. Sein schönes gekräuseltes, wohlgepflegtes Haar fiel ihm bis zur Mitte der Brust.«6
Schon das zeigt einen weithin vergessenen Leonardo – nicht den legendären, nachdenklichen, bärtigen Alten, sondern einen viel jüngeren Mann, der noch damit beschäftigt war, an seinem eigenen Bild zu arbeiten.
Sollte sich Francesco gefragt haben, warum ausgerechnet Leonardo zu seinem Reisegefährten bestimmt worden war, dann werden sich solche Zweifel nicht lange gehalten haben. Denn, wie uns ein anderer Künstler berichtet: »Der Zauber von Leonardos Wesen, das Blendende seiner Anlagen, die freigebige Güte seiner Natur waren nicht geringer als seine körperliche Schönheit«7 – er war ein idealer Gesellschafter. Bei Vasari, einem seiner ersten Biographen, heißt es: »In der Unterhaltung war Leonardo so angenehm, dass die Menschen sich zu ihm hingezogen fühlten.«8 Vielleicht hat Leonardo dem Kollegen Francesco noch eine andere Seite seiner Persönlichkeit offenbart, seine Liebe zu Possen und Schwänken. Hunderte davon hat er in seinen persönlichen Tagebüchern notiert, und viele davon zeigen eine Art Insiderwitz, was ihm im Umgang mit einem anderen Künstler vielleicht half, das Eis zu brechen. »Ein Maler wurde gefragt, warum er, obwohl er seine Gestalten, die doch tote Dinge seien, so schön mache, seine Kinder so hässlich gemacht habe. Darauf erwiderte der Maler, er mache die Gemälde eben am Tag und die Kinder bei Nacht.«9
Francesco wird jedoch rasch erkannt haben, dass Leonardo mehr als nur ein amüsanter Unterhalter war. Beispielsweise könnte ihm aufgefallen sein, wie unermüdlich Leonardo seine Umgebung beobachtete, stets auf der Suche nach Szenen und Ansichten, die sein künstlerisches Interesse reizten. Von der ersten Morgendämmerung an, schrieb Leonardo später, »füllt die Luft sich mit zahllosen Bildern, denen das Auge als Magnet dient«.10 Es war fast ein Zwang, wann immer ihm etwas ins Auge fiel, griff er nach einem kleinen Skizzenbuch, das er am Gürtel trug, und begann wie wild zu zeichnen, mit aberwitziger Kunstfertigkeit. Er liebte diese kleinen Skizzenbücher und riet allen, die ernsthafte Künstler werden wollten, sich eines zuzulegen: »… dann gehe spazieren, und beobachte beim Lustwandeln immer wieder die Haltungen und Gebärden der Menschen beim Sprechen, beim Streiten, beim Lachen oder Raufen, wie sie selbst sich dabei benehmen und wie die Umstehenden, die Schlichter und die Zuschauer bei solchen Vorgängen sich verhalten. Und zeichne all das mit flüchtigen Strichen in deinem Büchlein auf, das du immer bei dir tragen musst … denn das sind Dinge, die man nicht auslöschen darf, sondern mit großer Sorgfalt bewahren muss. Es gibt doch so unendlich viele Formen und Vorgänge, dass das Gedächtnis sie nicht alle zu behalten vermag.«11
So kann man sich gut vorstellen, mit welchen Worten Leonardo seinem Begleiter Francesco auf dem Weg nach Pavia den Nutzen seines Skizzenbuchs erläuterte, diesem vielleicht sogar vorschlug, sich ebenfalls eines zu besorgen und es im Gürtel mit sich zu tragen.
Francesco wird auch aufgegangen sein, dass Leonardo nicht nur den Blick umherschweifen ließ, sondern dass auch sein Geist stets wach und in Bewegung war. Der Wirbelsturm von Leonardos Interessen war Hofgespräch in Mailand, und mit seiner unersättlichen Neugier hatte Leonardo auch allerhand Spott auf sich gezogen – ebenso für die Beharrlichkeit, mit der er sich, sobald sich seine Gedanken für den Augenblick in ein Thema verbissen hatten, nach Fachleuten und Texten umtat, die ihm auf die Sprünge helfen und seine Fragen beantworten konnten. Ein Jahr bevor er mit Francesco nach Pavia ritt, hatte er alles, was er ergründen wollte, in einem Konvolut von Notizen festgehalten. Sie gleichen einer mentalen Landkarte:
Die Ausmaße von Mailand und Vorstädten. Ein Buch, das Mailand und seine Kirchen behandelt, das bei dem Händler am Weg nach Cordusio zu haben ist. Die Ausmaße des Corte Vecchio [einem Hof im Palast der Sforza]. Die Ausmaße des Castello [der Herzogspalast selbst]. Lasse dir vom Meister der Arithmetik [vermutlich ein Rechnungsführer] zeigen, wie ein Dreieck zu quadrieren ist. Lasse dir von Messer Fazio [einem Professor für Medizin und Recht in Pavia] etwas zu den Proportionen zeigen. Bringe den Mönch aus Brera [einem Benediktinerkloster in Mailand] dazu, dir De ponderibus [einen mittelalterlichen Text zur Mechanik] zu zeigen … Frage Giannino, den Geschützfabrikanten, danach, warum der Turm von Ferrara ohne Schießscharten ummauert ist. Frage Meister Antonio, wie man die Mörser bei Tag oder Nacht auf den Bastionen ausrichtet. Frage Benedetto Portinari [einen Florentiner Kaufmann], mit welchem Gerät sie in Flandern auf dem Eis laufen … Die Ausmaße der Sonne, die mir Maestro Giovanni Francese [vermutlich der französische Diplomat und Kunsttheoretiker Jean Pelerin] versprochen hat. Die Armbrust des Maestro Gianetto. Das Buch von Giovanni Taverna, das Messer Fazio hat. Zeichne Mailand. Finde einen Meister des Wasserbaus und lasse dir von ihm sagen, wie man eine Schleuse, einen Kanal und eine Mühle in lombardischer Manier repariert … Versuche den Vitolone [einen mittelalterlichen Text dieses Autors zur Optik] zu bekommen, der sich in der Bibliothek von Pavia befindet und sich mit Mathematik beschäftigt … Pagolino Scarpellino, Assiolo genannt, hat großes Wissen über Wasserbau.12
Dieser Eintrag lässt Leonardos unbändigen Wissensdurst erkennen. Benediktinermönche, obskure medizinische Abhandlungen, Universitätsprofessoren, Volksbücher, Buchhalter, reisende Kaufleute, Doktoren, Kanoniere, Festungsingenieure, Wasserbauexperten: Sie alle gehören zu seiner Beute, wenn er sich auf die Jagd begibt nach Wissen über die Dinge, die ihn interessieren.
Den Notizen lässt sich auch der Grund entnehmen, warum Leonardo 1490 so rasch bereit war, mit Francesco nach Pavia zu reisen: Er hielt diese Stadt für eine Quelle von Experten und Büchern, die er unbedingt zu Rate ziehen wollte. Und wen hätte man besser mit Fragen piesacken können als Francesco, damals einer der renommiertesten Architekten, Militärbaumeister und Wasserbauexperten Italiens? Leonardos Geist muss außer sich geraten sein über die Aussicht, dass er diesen berühmten Mann einige Tage fast für sich allein haben würde. Sogar über den Vierungsturm des Mailänder Doms könnten sie diskutieren, an dessen Planung Francesco mitwirken sollte; dazu hatte man ihn nach Mailand bestellt. Leonardo selbst hatte sich der fàbbrica empfohlen, hatte mutig behauptet, er sei in der Lage, dieses Werk zu vollenden, sogar ein Modell eingeliefert, das demonstrieren sollte, wie er sich das vorstellte. Insofern ist es kein Wunder, dass er erklärte, er werde sich glücklich schätzen nach Pavia zu gehen – wenn denn Francesco mitreisen werde. Es gab eine Menge Themen, über die er mit dem Ingenieur aus Siena diskutieren wollte.
Nur ein Buch hat sich erhalten, von dem wir sicher wissen, dass es sich in Leonardos Besitz befand, nämlich die reich illustrierte Handschrift mit dem Titel Trattato di architettura civile e militare (Abhandlung über die zivile und militärische Baukunst, um 1475), verfasst von niemandem anderen als von Francesco di Giorgio Martini. Leonardos Kopie dieses Werks, das eigenhändige Zeichnungen von Francesco enthält, stammt aus den frühen 1480er Jahren.13 Erworben hat er es wohl erst 1502, kurz nach Francescos Tod. Um 1490 war dieser damit beschäftigt, seine Abhandlung noch einmal durchzusehen; er könnte sie in Mailand und Pavia also durchaus bei sich gehabt haben.
Francescos Trattato ist eine weitschweifende Zusammenfassung seiner Gedanken zu Theorie und Praxis der Baukunst. Insofern ist die Abhandlung wahrscheinlich der beste Führer zu den Ideen, die er und Leonardo unterwegs diskutiert haben könnten. Geschrieben ist sie in einem ungeschliffenen Umgangsitalienisch, woraus zu schließen ist, dass Francesco sich mit seinem Buch eher an Baumeister, Ingenieure und Offiziere richten wollte als an Literaten und Gelehrte. Behandelt werden eine Menge Dinge, mit denen sich auch Leonardo in den 1490er Jahren auseinandergesetzt hat: Geometrie und Vermessung, Stadtplanung, Festungsbau, die Errichtung von Hafenanlagen, Wasserbau, die Bauweise von Tempeln, Palästen, Theatern und Wohnhäusern, ebenso eine Vielzahl raffinierter Pumpwerke, Winden, Kurbeln, Belagerungsmaschinen und anderer mechanischer Apparate.
Man kann sich die Szene ausmalen. Nach langen Gesprächen auf dem Weg von Mailand nach Pavia beugen sich Leonardo und Francesco in ihrem Quartier im Saracino über die Abhandlung und beginnen zu blättern. Vielleicht hat Francesco nach dem Essen, durch Leonardos unablässiges Fragen zur Erschöpfung getrieben, auch erklärt, er wolle sich zurückziehen – und hat das Manuskript aus seinem Mantelsack gekramt, hat es Leonardo in die Hand gedrückt und diesen aufgefordert, die Seiten doch einige Zeit auf Antworten zu durchkämmen. In beiden Fällen wäre Leonardo, sobald das Buch aufgeschlagen vor ihm lag, eine von Francescos Lieblingsideen ins Auge gesprungen. Basiliken, heißt es an einer Stelle in Francescos Text, haben »die Proportionen und die Gestalt des menschlichen Körpers«.14
Und Francesco hat die Analogie zwischen Kirchenbau und menschlichem Körper nicht nur nebenbei erwähnt und sich dann wieder anderem zugewandt. Er, der fest an die Erklärungsmacht von Bildern glaubte, hat diese Analogie sogar mit einer Zeichnung anschaulich gemacht. Das war zu seiner Zeit durchaus nicht üblich, dafür aber ganz in Leonardos Sinn. So heißt es im Epilog des Trattato: »Ohne eine Zeichnung lässt sich keine Idee darstellen und erklären.« Solche Gedanken brachten Francesco dazu, mit seiner Analogie visuell zu spielen – und am Rand der Handschrift entstand eine phantasmagorische Skizzenfolge: architektonische Formen, in denen geisterhaft Visionen des menschlichen Körpers hausen (Abb. 2 und 3).
Abb. 2 und 3. Kirchen und menschliche Körper. Aus Francesco di Giorgio Martinis Trattato di architettura civile e militare, um 1481/84, aus dem Besitz Leonardos.
Francesco wendet diese Analogie in seinem Trattato auf alles Gebaute an, das reicht von einer einzelnen Säule bis zu ganzen Städten. Schließlich war der menschliche Körper nach Gottes Ebenbild geschaffen, weswegen man davon ausgehen konnte und wohl auch sollte, dass er eine Quelle für harmonische Entwürfe abgeben müsse. Dazu Francesco: »Der Mensch, die kleine Welt genannt, enthält in sich die allgemeinen Vollkommenheiten des gesamten Kosmos.«15
Das waren Vorstellungen ganz nach Leonardos Geschmack. Hatte er selbst sich doch seit spätestens 1487 auf ein gründliches Studium des menschlichen Körpers und seiner Proportionen konzentriert und dabei auch die Beziehungen zwischen Anatomie und Architektur untersucht. Solche Erkundungen, dessen wurde er sich mehr und mehr gewiss, würden ihn, über die oberflächlichen Fragen nach Funktion und Gestalt hinaus, zuletzt zu einem Verständnis der ersten Prinzipien führen – mithin an einen Punkt, an dem es ihm möglich wäre, künstlerische Probleme, gelehrte Missverständnisse, Fragen der Ingenieurskunst, selbst philosophische Rätsel zu lösen. Insofern war es Musik in Leonardos Ohren, was er im Eröffnungsabschnitt von Francescos Abhandlung lesen konnte: »Alle die Künste und alle die Regeln sind abgeleitet aus dem wohl gebauten und proportionierten menschlichen Körper.«16
Über diese Vorstellung hatte man bereits im Mittelalter, dann auch während der Frührenaissance viel diskutiert, über ihre praktische Anwendung ebenso wie über ihre symbolischen Resonanzen. Bekanntlich stammte sie aus einer obskuren Abhandlung über die Baukunst, einer antiken lateinischen Schrift, über die mehr geredet wurde, als dass man sie las. Auf hohem technischen Niveau, doch unbeholfen geschrieben, voller architektonischer Fachbegriffe aus dem antiken Griechisch, war diese Schrift bis ins fünfzehnte Jahrhundert überliefert worden. Sie wimmelte dementsprechend von Abschreibefehlern – das und viele Auslassungen machten das Werk schier unverständlich. Selbst die wenigen Gelehrten und Architekturtheoretiker, die sich mit der Schrift beschäftigt hatten, zuckten hilflos die Achseln, wenn man sie nach dem Sinn und dem Autor Francesco fragte. Verzweifelt schrieb etwa der Florentiner Humanist Leon Battista Alberti, einer der ersten, die diesen Text Mitte des 15. Jahrhunderts methodisch durchforstet haben: »So ungebildet schrieb er, daß ihn die Lateiner für einen Griechen, die Griechen hingegen für einen Lateiner hielten. Die Sache selbst zeigt bei näherer Betrachtung, daß es weder Latein noch Griechisch ist, so daß es gleich wäre, er hätte es überhaupt nicht geschrieben, als daß er es so schrieb, daß wir’s nicht verstehen können.«17
Eine im vierzehnten Jahrhundert entstandene Kopie dieser Schrift hatte sich in der prächtigen Bibliothek der Visconti in Pavia erhalten, die Leonardo, das hatte er sich fest vorgenommen, während seiner Beratungsreise besuchen wollte. Der vom Kopisten bis ins Unverständliche verstümmelte Titel lautete »Virturbius de architretis«.18 Leonardo und Francesco allerdings wussten, was und wer sich dahinter verbarg. Der wirkliche Titel dieses Werks lautete De architectura libri decem (Zehn Bücher über Architektur). Ein römischer Architekt hatte es rund zwanzig Jahre vor Christi Geburt geschrieben. Sein Name war Vitruv.