FUCK THE
MÖHRCHEN
EIN BABY PACKT AUS
ISBN 978-3-8412-0680-0
Aufbau Digital,
veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, September 2013
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin
Die Originalausgabe erschien 2013 bei Aufbau Taschenbuch, einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG
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unter Verwendung eines Motivs von Tatyana Tomsickova Photography/ getty images
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Inhaltsübersicht
Cover
Impressum
1. Ich bin dann mal da
2. Es gibt einen Grund, warum Tiere nicht singen
3. Ab ins Reihenhaus
4. Ist das Kunst, oder kann das weg?
5. Mama gibt Gummi
6. Mütter ohne ernstzunehmende Betreuungsalternative
7. Papas Einsatz
8. Alle Wege führen nach Prag
9. Mama will ihr Ding machen
10. Sankt Martin und der stinkende Dschinn
11. Gebiss und Flasche – alles für mich
12. Endlich kommt Bewegung ins Spiel
13. Nussknackerpopo
14. Es geht immer nur um Knete im Leben
15. Fuck the Möhrchen und fuck the Pastinake
16 Verkehrte Welt
17. Mein erstes Mal im Sitzen
18. Das Dinkel-Ei und der Mops
19. Burgen aus Dreck und ein stehlender Fuchs
20. »Mama« und »Papa«
21. Konfrontation mit der Härte des Lebens
22. Und wie du wieder aussiehst
23. Öl auf Spucktuch – Kunst für alle
24. Ich bin dann mal weg
Informationen zum Buch
Informationen zur Autorin
Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne ...
Bin noch im Bauch. Draußen schreit eine Frau. Hört sich an wie Tina Turner auf Ecstasy.
Will hier nicht raus.
Sie schreit weiter.
Will ihr sagen, mit Schreien erreiche man gar nichts. Jetzt schreit sie mich an. Heiße wohl PDA.
Origineller Name, klingt nicht schlecht. Die Hebamme heißt Gudrun-Rudolf-Steiner Wiebkötter und sagt, für die PDA sei es schon zu spät.
Ich horche auf.
Muss raus und sehen, was da los ist.
Vorsorglich packe ich mir ein Stück Mutterkuchen ein.
Sehe Licht am Ende des Tunnels und warte auf den Bus.
»Kommt mal wieder nicht, Fahrplanänderung oder wegrationiert, oder was ist hier los«, murmelt der Mutterkuchen, »scheiß Gesundheitsreform, gerade jetzt.«
»Gemecker bringt jetzt auch nichts«, sage ich unwirsch, »wir müssen uns beeilen!«
Doch er ist bockig und stellt sich tot.
Ich aber kann jetzt keine Rücksicht nehmen und rutsche alleine und bauchwärts den Weg entlang. Komme kaum vorwärts, es ist viel zu eng hier drin und irgendwie unheimlich. Tatsächlich fühle ich mich wie im Dschungelcamp und rechne mit Spinnen, Emus und C-Prominenz.
Plötzlich erfasst Luft mein spärliches Haar. Jemand nimmt meinen Schädel zwischen beide Hände. Wow. Geboren und sofort frisiert werden, ich gebe zu, dass mir diese Welt spontan gefällt.
Schwupps bin ich draußen und mache die Augen auf.
Als Erstes sehe ich einen bleichen Mann mit blutroter Nase, der am Boden liegt.
Das ist der erste Mensch, den ich sehen kann, denke ich beglückt, und er ist mir auf Anhieb sympathisch. Nein, mehr noch, eine riesige Woge der Zuneigung überschwemmt meine kleine Seele.
Wer um Himmels willen ist das?
Vermutlich ein Krankenhausclown, der sich kurz ausruht, denke ich voller Anteilnahme. Plötzlich aber kommt Leben in ihn, und er ruft gerührt: »Ich bin dein Papa, da bissu ja endlich, meine kleine Prinzessin!«
Großartig, denke ich, habe ich ein Glück, mein Papa scheint ein toller Kerl zu sein und noch dazu ein König – ich hätte es wirklich schlechter treffen können.
Dann sehe ich mich erst mal in unserem Palast um und schreie entsetzt los, denn die Wände hat Gudrun-Rudolf-Steiner Wiebkötter in gebärmutterfarbenem Rosa gestrichen – zum Glück bin ich ein Mädchen, sonst müsste ich mit Sicherheit sofort schwul werden.
Das nenne ich frühkindliche Prägung. Liebe Güte, wahrscheinlich werden Jungs in diesem Land direkt umgebracht.
»Oder an katholische Priester in St. Pölten verkauft«, brummt der Mutterkuchen, der mittlerweile auch den Weg nach draußen gefunden hat.
Alle schauen mich liebevoll an und weinen, nur die Anthroposophen-Hebamme nicht. Spontan beschließe ich, sie zu hassen, da richtet sich eine Kamera auf mich, und alle weinen weiter, die hören gar nicht mehr auf zu weinen, offensichtlich bin ich hässlich. Vielleicht bin ich aber auch die Wiedergeburt von Elvis. Schreie direkt ein »Muss i denn, muss i denn ...« auf einem einzigen Vokal.
Das hat vor mir anscheinend noch keiner gemacht, denn es kommt enorm gut an, sogar mein bleicher lieber Papa stillt behände seine Nasenblutung und klatscht begeistert auf eins und drei.
Nur die Hebamme findet, dass ich nun fertig mit Singen sei, und stopft mir die Brustwarze einer Frau in den Mund.
Was soll das denn, frage ich mich, da schwant es mir: Das ist meine Mama!
Papa nennt sie allerdings immer »Du-hast-es-geschafft-mein-Schatz«.
Wär mir zu lang.
»Meine Mama«, seufze ich.
Ich bin völlig von den Socken und schenke ihr einen liebevollen Blick. Lächeln kann ich leider noch nicht, doch das übernimmt sie für mich, und ich habe das Gefühl, es strahlen tausend kleine Sonnen aus ihren Augen heraus. Begeistert taufe ich sie lautstark »Wäh«, und sie weint vor Freude.
Ein Mann in Weiß kommt nun herein und näht Mama untenrum zu, vermutlich soll ich Einzelkind bleiben.
Im Moment ist mir das egal. Ich bin einfach glücklich.
Nach einer halbe Stunde inniger Zusammenkunft reißt mich die Hebamme aus den Armen meiner Mama und meint, sie müsse mich jetzt wiegen und messen, und das Baden könne ja der Papa übernehmen. Engagiert sagt er, klar, das sei kein Problem, das könne er gerne machen – doch ich sehe in seinen Augen einen Hauch von Angst und weiß nicht, ob sie sich auf das ungewohnte Badeerlebnis oder die Anwesenheit der argusäugigen Hebamme bezieht.
Die nämlich beginnt unverzüglich mit dem Prozedere und verkündet das Ergebnis der Messung.
Zweiundfünfzig Zentimeter und drei Komma sieben Kilo, das sei ja sensationell, ruft Papa voller Elan in Richtung Gudrun-Rudolf-Steiner Wiebkötter, das habe sein strammes Mädchen aber fein gemacht.
Die Hebamme guckt empört.
Papa wird rot und ergänzt, er meine natürlich seine Mia, das habe sie doch gut gemacht, aber Heike auch, und Heike lacht, ja, das sei dem Naturjoghurt geschuldet, den sie sich säckeweise reingeschaufelt habe.
Und auch dem Eis, das ich dir nachts von der Tanke habe besorgen müssen, ruft Papa, ob sie das noch wisse, erst Paprika, aber um Gottes willen nur die gelbe, dann Lasagne, obwohl man da nie wisse, was drin sei, ob Rind, Pferd oder Känguru, und dann das Eis, er habe damals gedacht, sie habe sie nicht mehr alle, sie solle ihm nicht böse sein, aber jetzt sähe man ja, dass ihr das gutgetan habe, seiner Mia, richtig schön propper sei sie geworden und alles sei dran.
Die Hebamme verdreht die Augen und lässt das Badewasser ein. Papa krempelt sich die Ärmel hoch, nimmt mich in seine Arme und legt mich vorsichtig in die warme Brühe – mh, ich weiß nicht, ob mir das gefallen soll, denn das Fruchtwasser war irgendwie weicher und wärmer, doch er ist sich ganz sicher und säuselt: »Ja, fein, liebe Mia, daaas macht Spaß, oder? Plitsche, platsche, gleich bist du sauber, huch, nicht so spritzen, oder willst du mal Feuerwehrfrau werden, haha, ein Scherz, Humor ist nämlich wichtig im Leben, liebe Mia«, und Frau Wiebkötter fragt er: »Ich habe ein bisschen Angst, dass sie mir absaust, was soll ich tun?«
»Keine Sorge«, sagt die Hebamme trocken, »das machen Sie schon. Nun ist es aber auch gut, hier ist das Handtuch, und auch das Köpfchen schön einwickeln und immer stützen, sonst knickt das ab.«
Bevor er mich schnappen kann, pullere ich noch schnell ins seichte Wasser – ein herrliches Gefühl, das ich mir unbedingt merken muss. Ich hoffe inständig, dass es in meinem Leben noch haufenweise Gelegenheiten geben wird, bei denen ich das wiederholen kann. Dann werde ich mich immer an diesen einen Moment zurückerinnern, in dem mein Papa mich zum ersten Mal gebadet hat.
Hach – die Welt ist schön.
~
Zu meinem Entsetzen wache ich nach meinem ersten Schlaf außerhalb des Mutterleibs nicht alleine auf. Neben mir liegt eine vollständig behaarte Gestalt mit einem Knopf im Ohr und grinst mich an. Meine Eltern beugen sich über die Wiege und grinsen auch.
Ich fasse es nicht. Mama und Papa haben mich heimlich verheiratet.
Ich verstehe die Welt nicht mehr – erst tun sie so nett, und dann verschachern sie mich skrupellos an den Nächstbesten. Will sofort hier weg, kann mich aber nicht drehen und verharre verzweifelt in meiner Rückenlage.
Meine Bewegungsunfähigkeit macht mich noch wahnsinnig.
War der Haarige etwa die ganze Nacht bei mir, und warum grinst der so, frage ich mich und versuche hektisch, mich an den letzten Abend zu erinnern. Vermutlich hatte ich zu viel gesoffen, es gab dieses weiße Zeug aus Mamas warmer Brust, immer weiter wurde mir das mit diesem unwiderstehlichen Lächeln angeboten, da kann man doch nicht nein sagen, aber wer weiß, was in dieser ersten Milch alles drin war, und dann kompletter Filmriss und zack, bist du verheiratet, so schnell kannst du gar nicht gucken. »Wie konntet ihr nur«, schreie ich wütend und enttäuscht, »ich bin doch gerade erst auf der Welt und jetzt schon Hochzeit, wie soll denn das weitergehen, heute Nachmittag dann ins Seniorenheim und abends Wiedergeburt oder was«, doch keiner reagiert.
Alle lächeln weiter und sagen: »Dududu, feinifeinifeini, guckguckguckguck, ja wo isse denn, die Süüüße.«
Nur das braune Ganzkörpertoupet neben mir bemerkt trocken: »Wiedergeburt, warum nicht, im Krankenhaus sind wir ja schon.«
»Für die Witze bin ich hier zuständig«, stelle ich unmissverständlich klar und rufe Mama zu, dass sie mir eine Erklärung schulde, ich hätte sie doch schließlich lieb und sie mich angeblich doch auch, aber sie lächelt nur glücklich und kitzelt mich neckisch am Kinn. Daraufhin wende ich mich an Papa mit der Bitte um schnelle Rückmeldung, doch er zählt ignorant meine Finger und Zehen und sagt begeistert, dass alles dran sei, sogar richtige Nägel.
»Die hören dich nicht«, sagt mein gepiercter Bettnachbar und feilt sich gelassen die Tatzen.
»Das merke ich auch«, rufe ich und schreie lauter.
»Die hören dich nicht«, wiederholt er hartnäckig.
Ich finde ihn arrogant und brülle: »Die haben nur grad keine Zeit! Meine Eltern lieben mich und würden mich nie hängenlassen, dass das klar ist!«
Teddy schweigt.
»Die werden mich schon hören!«, setze ich nach und versuche, an die Vuvuzela ranzukommen, ein Geburtsgeschenk unserer afrikanischen Zimmernachbarin.
»Die verstehen dich nicht«, wiederholt er penetrant, »Erwachsene sprechen keine Babysprache.«
»Was heißt denn hier Babysprache«, empöre ich mich, »ich bin im Mutterleib fünfsprachig aufgewachsen! Mama hat sich richtig Mühe gegeben, an meine Zukunft gedacht und sich Tag und Nacht Kopfhörer mit Bildungs-CDs um den Bauch gespannt. Frühförderung nennt man das, und das macht man heute, wenn man als Mutter was auf sich hält. Ich kann dir alles erzählen über punische Kriege, asklepiadeische Odenstrophen, Mozarts Frühwerk, egal, und du kommst mir hier mit Babysprache, das ist ja lächerlich! Wenn sogar du mich verstehst!«
»Babysprache war Teil meiner Ausbildung«, entgegnet er gelangweilt und beginnt, den Knopf in seinem Ohr zu polieren.
»Was für ne Ausbildung?«, frage ich. »Zum Frauen-gegen-ihren-Willen-Heirater, oder was?«
»Nee, zum Teddy«, erklärt er, während er wie gebannt auf den Hintern des Krankenpflegers starrt, der gerade die Bettwäsche wechselt. Dann raunt er mir ins Ohr, dass er nach dem Willen meiner Eltern von nun an mein Freund sei, aber nur platonisch. Alles andere würde er sich tunlichst verbitten, er sei schließlich schwul, nun sei es heraus, er habe schon immer ausschließlich Interesse an Männern gehabt, und wenn ich was dagegen hätte, könne er auch woanders seinen Job machen.
Mir schwant Böses.
»Moment, Moment, Moment«, rufe ich, »schwörst du, dass du die Wahrheit sagst? Mich kann hier keiner verstehen außer einem sprechenden schwulen Stoffbären?«
»Mein Gott, jetzt hat sie’s«, erwidert er, dreht sich auf die Seite und macht ›Bööööh‹.
»Sonst kann mich hier keiner ...? Aber soweit ich weiß, waren die doch selber mal Babys, da muss doch noch was von da ..., das verlernt man doch nicht.«
»Nein, nicht verlernt, aber sie haben alles vergessen. Mit Eintritt ins Erwachsenenalter wird das ganze Programm gelöscht. Die sprechen auch nicht mehr mit Teddys.«
»Das kann ich verstehen«, murmle ich und sabbere ein bisschen auf unser Ehebett.
Nun ist Teddy beleidigt und sagt unwirsch: »Dann geh ich jetzt mal, kannst ja sehen, wie du klarkommst«, und versucht, sich durch die Gitterstäbe unserer Koje zu quetschen.
»Nein!«, rufe ich panisch. »So war das nicht gemeint, bitte bleib, und wenn das nur platonisch ist, dann geht das in Ordnung, ich mein, mit wem soll ich denn reden, man muss sich doch auch mal austauschen!«
Und leiser: »Und vielleicht könnte es mit dir sogar ganz nett werden«, und ich lächle, obwohl ich die vielen Haare als Provokation empfinde.
Der Knopf glänzt nun, und Teddy dreht sich um: »Na gut, du bekommst noch eine Chance, ich bin ja kein Unteddy.«
Bevor ich erschöpft einschlafe, höre ich noch ein leises Bööööh, und ich träume von Teddys, die auf Schafen über Zäune springen.
~
Als ich aufwache, ist Teddy immer noch da.
Gott sei Dank, denke ich, man muss doch jemanden zum Sprechen haben, und wenn erst mal die Haare auf dem Rücken weg sind, geht das auch ästhetisch.
Hektisch krame ich nach einem Epiliergerät, doch ich finde keins und blicke suchend im Raum herum. Papa und Mama sind zum Glück immer noch da, sie scheinen mit dem rosafarben gestrichenen Krankenhauszimmer gut zurechtzukommen.
Ich fühle mich bei ihnen geborgen, und es könnte alles wunderbar sein, riefe Mama nicht den ganzen Tag: »Ich bin die Mama! Und der Mann ist der Papa, und wir sind jetzt eine ›richtige‹ Familie, hörst du, ich bin die Mama!«
Irritiert überlege ich kurz, ob es möglicherweise schöner sei, Mitglied einer ›falschen‹ Familie zu sein, da geht die Tür auf.
Na so was. Methusalems Eltern kommen herein und dürfen mich anfassen.
Das seien Opa und Oma, ruft Mama begeistert, und die Oma sei ihre Mama genauso wie sie selbst meine Mama sei. Bin überrascht und vergleiche Mamas Körpergröße mit Omas Bauch. Teddy sieht meinen skeptischen Blick, will sich vermutlich mit mir anfreunden denn er ruft ihr zu, wohlweislich, dass Mama ihn nicht versteht: »Da hast du nie im Leben reingepasst, du Pinocchio-Schlampe.«
Ich antworte: »So sprichst du nicht von meiner Mama!«, muss aber ungewollt in mich hineinkichern. Das Eis ist gebrochen.
Oma und Opa tätscheln eine Weile an mir rum und sagen dabei die ganze Zeit »Dutzidutzidutzi« oder »Schnupsischnupsischnupsi«.
Verwundert sage ich zu Teddy: »Irgendwie mag ich die beiden, auch wenn sie sprachlich nicht die Kompetentesten zu sein scheinen.«
Teddy grinst, während die alten Leute nun sagen: »Jajajajajajajajadududududu.«
Bin überrascht und suche weiter nach Erklärungen: »Vermutlich sind die beiden Ausländer oder schlechte Ernst-Jandl-Imitatoren, was meinst du, Teddy?«
Lakonisch erwidert er: »Dann such ich jetzt mal den kotzenden Mops, um die Sache zu klären.«
Die Idee gefällt mir, und ich will ihm helfen, doch die Einzige, die sich übergibt, bin ich.
Mamas weiße Plörre, die ich eben noch mit großer Kraftanstrengung ihrer Brust abgetrotzt habe, benetzt flächendeckend Opas Anzug sowie Brille, woraufhin der alte Mann leise flucht, um dann in seinen Bart hineinzubrummeln, dass das ja wohl kein Wunder sei und er so was auch nicht trinken würde, haha, er würde mir jetzt was vom Pizza-Taxi bestellen, da gäb’s auch Bambini-Pizzen mit Gesichtern drauf, das liebten doch nun wirklich alle Kinder.
Oma verdreht die Augen und schweigt hörbar.
Das Baby kriege jetzt ausschließlich Vormilch, mischt sich die Steiner-Freundin ein und wedelt mit Mamas Brust vor mir herum, aus der sie wütend ein dünnes Rinnsal trüben Wassers quetscht. Ich finde das unappetitlich und bin enttäuscht, dass Mama sich nicht mehr Mühe gibt. Trotzig verweigere ich die Nahrung, denn Haute Cuisine ist mit Sicherheit was anderes.
Opa sieht mein Gesicht und wiehert, er habe es doch gewusst, ich sei ein intelligentes Mädchen, kein Wunder, bei dem Großvater, Vormilch, das sei ja wie alkoholfreies Bier, nur noch schlimmer. Ich beschließe, mich in einem unbeobachteten Moment von ihm adoptieren zu lassen.
~
Vormilch. Die ersten fünf Tage soll das nun mein Essen sein, behauptet die Hebamme, dann käme die Hauptmilch dran. Bin ehrlich entsetzt über diese schlechte Grundversorgung und vermisse plötzlich meinen Mutterkuchen.
Neun Monate lang war er mein bester Freund, mein einziger richtiger Freund. Er konnte zuhören wie sonst keiner da drin, das war etwas ganz Besonderes, ich gebe zu, nicht jeder hat so ein Glück mit seinem Mutterkuchen. Lange Zeit dachte ich, er könne dichthalten wie sonst keiner und würde mir immer beistehen und mich nähren, doch kaum aus der engen Behausung gekrochen und den Duft der großen Freiheit geschnuppert, ist er einfach verschwunden und hat mich allein gelassen. Er hat mal von seinen guten Kontakten zur Bild-Zeitung gesprochen, doch das habe ich nicht ernst genommen. Ich meine, welcher ordentliche Mutterkuchen hat schon Kontakte zur Presse, diese Sensationsjournalisten haben doch weiß Gott anderes zu tun.
Und nun das. Bestimmt sitzt der feine Herr Plazenta jetzt in der Redaktion und verschachert exklusiv meine Homestory, man kann sich ja wirklich auf keinen mehr verlassen.
Jetzt sitze ich hier fest, handlungsunfähig und zum Trinken von weißer Plörre verdammt.
Dagegen muss Guantanamo ein Ponyhof sein.
Langsam werde ich richtig sauer. Die glauben tatsächlich, mit mir kann man’s machen. Ungeduldig warte ich auf Haupt- und Nachmilch und sauge wie verrückt.
Nichts.
In der Hierarchie bin ich offensichtlich ganz unten angelangt.
»Ganz unten«, erklärt Teddy, »ist nur Günter Wallraff«, und er haut mir auf die Schulter und ruft fröhlich, Lehrjahre seien nun mal keine Herrenjahre.
Finde das schwer zu verstehen, wo mir doch eigentlich jeder weismachen will, was für ein Wunder ich sei und dass so was aus so was entstehe, könne man ja gar nicht glauben, manche würden ja jahrelang, und ach, das sei ja auch egal, sie seien einfach gerührt, und jetzt sei ich ja da, ein Mädchen, auch gut, Hauptsache gesund, und ob ich denn viel schreie.
Jaaah, rufe ich, denn selbst in der schlechtesten Mensa gebe es drei Auswahlessen, und wenn ich nicht gleich auch etwas bekäme, dann könnten sie gar nicht genug Schallschutzwände aufbauen, letzte Chance! Doch ich verstumme unter dem Medusenblick der Anthroposophen-Hebamme, beuge mich der Gewalt und sauge Mamas Nippel zu Pershings.
Nichts passiert.
Die Brust sei wohl kein Vier-Sterne-Koch, dröhnt Opa verlegen, und die Hauptmilch wohl nicht im Kader, haha. Ich pflichte ihm bei und frage mich, wie man so Geschmack entwickeln soll.
Außerdem sei Papa bestimmt auch immer sauer, wenn’s bei Mama nur ein Vorspiel gibt, setzt Opa noch einen drauf, woraufhin die Hebamme sagt, er solle bitte sofort das Zimmer verlassen, sie müsse jetzt Mamas Ute untersuchen.
»Ute?«, fragt Mama.
»Uterus«, erklärt die Hebamme, genervt von so wenig sprachlicher Kreativitätskompetenz seitens meiner Mutter, in Professor-Feuerzangenbowle-Kreil-Ton, sie kürze eben gern ab, das sei so ein Tick von ihr, außerdem klänge Ute ja wohl auch viel weiblicher als der medizinisch korrekte und sicher von einem Mann erfundene Fachbegriff.
Mama verdreht die Augen, und ich langweile mich ohne Opa. Fühle mich oral unterversorgt und schreie los. Mama hält sich die Ohren zu, doch Papa behauptet nicht ohne Stolz in der Stimme, Mia schreie ja inbrünstiger als Deep Purple bei Child in Time. Ich beschließe, das als Lob zu werten, und gebe eine Zugabe.
Doch plötzlich werde ich unterbrochen. Mein ganzer Körper kommt in Bewegung, und es brummelt in meinem Bauch. Irgendetwas schiebt sich durch meinen Leib und plumpst in meine Windel.
Mama kreischt vor Freude, öffnet die Windel und ruft: »Das Kindspech! Das Kindspech ist da!«, und ich wundere mich noch, wie man sich über Pech so freuen kann, da zeigt mir Mama den Grund ihres Gefühlsausbruchs: In der Windel liegt eine zähe, dunkle Masse, die sich aus einem Loch an meinem Popo abgesetzt hat. Ich bin entsetzt.
»Ja, das ist das Mekonium«, sagt die Hebamme trocken. »Da wischen wir jetzt mal den Popo ab und schmeißen die Windel weg.«
»Kommt gar nicht in Frage«, ruft Mama. »Die behalte ich!«
Sie schnappt sich ihre Handtasche, zieht einen Gefrierbeutel heraus und verschließt die Windel luftdicht.
Teddy dreht sich pikiert weg. Die Hebamme ist fassungslos und ich ebenfalls, aber Mama hat so ein Leuchten im Gesicht, dass keiner von uns beiden sich traut, ihren psychischen Zustand in Frage zu stellen. Kopfschüttelnd erklärt Gudrun-Rudolf-Steiner Wiebkötter noch, das Kindspech sei doch noch gar kein richtiger Stuhlgang, der käme erst in den nächsten Tagen, das Mekonium bestünde aus Schleimhautprodukten, Gallenabsonderungen und durchs Fruchtwasser geschluckten Hautzellen und hätte sich bereits im Mutterleib im kindlichen Darm gebildet.
So was trage ich schon die ganze Zeit in meinem Leib, igitt, denke ich, und ›Stuhlgang‹, was soll das sein, wandern da Sitzmöbel durch meinen Darm, so groß ist der doch gar nicht.
Die Welt ist ein Mysterium, und ich weiß nicht, ob ich damit einverstanden bin.
Schon seit zwei Tagen machen wir uns nun im Familienzimmer breit und haben jede Menge Besuch. Ich schreie nuanciert und häufig, und das macht mir großen Spaß, die Begeisterung von Mama und Papa lässt jedoch rapide nach, aber Familie ist Familie, da kommt jetzt keiner mehr raus.
Doch irgendwas ist faul hier, die Besucher kommen immer nur ein Mal, geben Geschenke ab und sind rubbeldiekatz wieder weg, wie Papa das ausdrückt.
Warum wird die Katze gerubbelt, frag ich mich, vielleicht mag das Vieh das gar nicht. Menschen sind seltsam. Jedenfalls sind alle auch ohne Katze schnell wieder weg.
Außer Wiebke und Lutz. Die sind seit heute Morgen da, und Mama lächelt mich an und sagt, das seien unsere Nachbarn, die seien ganz lieb und würden später sicher auch mal auf mich aufpassen. Wiebke kichert zustimmend und schenkt mir einen Stofftapir mit einem dicken Plastikknubbel am Po.
»Fehlkonstruktion«, ruft Teddy, »wahrscheinlich im Preis runteresetzt!«
Voller Leidenschaft fühle ich mit dem behinderten Tier mit, doch Wiebke hält meinen mitleidigen Blick emotional offensichtlich nicht aus, denn sie reißt mir das putzige Tierchen aus der Hand und zieht begeistert an dem Plastiknöppel.
Mir verschlägt es die Sprache.
Der Tapir singt Schlaf, Kindlein schlaf, nur ohne Text. Den singt dafür Lutz. Auch der Bass ist ausgefallen, aber die Hochtöner sind aktiv.
Meine erste Konfrontation mit der Härte des Lebens.
»Gräuslich«, murrt Teddy eifersüchtig.
Das finde ich auch, aber Empathie ist mein zweiter Vorname, und ich flüstere Teddy zu: »Vielleicht ist das unattraktive Felltier in der Ausbildung und übt noch, was soll es auch machen so fern von zu Hause, da denkt auch keiner drüber nach.«
Teddy schweigt beleidigt, und ich bin so sehr mit dem Verarbeiten der neuen geräuschintensiven Eindrücke beschäftigt, dass ich zuerst gar nicht bemerke, wie mich alle erwartungsvoll angucken.
Unsicher frage ich mich, was die von mir wollen, und pupse leise.
Alle scheinen das toll zu finden, denn sie lachen, hören aber nicht auf, mich mit großen Augen anzustarren, als wäre ich Moses, der mit den Gesetzestafeln munter den Berg hinunterstapft.
Der Tapir singt immer noch.
Unauffällig versuche ich, mir die Ohren zuzuhalten, kriege meine Hände aber nicht koordiniert und will gerade lautstark meine Verzweiflung zum Ausdruck bringen, da fallen mir plötzlich die Augen zu, und ich werde ganz müde.
Beim Wegdämmern denke ich noch darüber nach, dass sich manchmal alles von selbst findet, und dass es letztendlich immer eine Lösung gibt, und dass das gut so ist und ich glücklich bin und meine Eltern einschließlich der Nachbarn die besten von der Welt sind, und der Tapir freut sich auch über den frühen Feierabend.
Eine geraume Weile später wache ich wieder auf und blinzle vorsichtig durch die geschlossenen Lider. Wiebke und Lutz sind immer noch da. Der Tapir auch. Teddy gibt ihm einen ordentlichen Tritt, und er kullert aus unserer Wiege.
Fast tut er mir leid, und das scheint Lutz zu spüren, denn er hebt ihn auf, zieht glücklich an seinem Plastikknubbel und legt den Tapir zwischen Teddy und mich in die Besucherritze. Der Tapir guckt mich an, ich gucke Teddy an, ich zapple entschuldigend mit Armen und Beinen herum, aber Teddy dreht sich beleidigt zur Seite und macht ›Böööööh‹.
Offensichtlich hat Teddy gerade keinen Gesprächsbedarf, und so höre ich ein Weilchen den Erwachsenen zu.
Wiebke will nun von Mama wissen, wie die Geburt war. Mama spielt daraufhin pantomimisch eine Ohnmacht nach und zeigt lachend auf Papa, der spontan die Beschaffenheit des karierten PVC-Bodens prüft.
Wiebke bleibt ernst, wird leiser und fragt Mama, es ginge sie ja eigentlich nichts an, aber ob es denn direkt geklappt habe, sie wären doch schließlich schon so lange zusammen und das wäre doch nicht ohne Risiko, und ob sie sich nicht schon zu alt dafür fühlen würde, sie wäre froh, dass ihr Horst-Michael jetzt achtzehn und zum Studium nach Braunschweig gezogen wäre, also sie würde das nicht noch mal schaffen.
Mama lacht und sagt, dass sie es in den Dreißigern zu früh gefunden hätte, und diese ganze BdMler-Nummer, das sei nichts für sie, da hätte sie dann eben lieber noch siebzig Jahre gewartet, und heute wäre ja medizinisch alles möglich.
Nun ist Wiebke sauer, und Mama erklärt, dass sie nur Spaß gemacht habe und dass, um ehrlich zu sein, doch alles seine Vor- und Nachteile hätte, früh- oder spätgebärend, das sei doch Pott wie Deckel, Schlafmangel gäb’s in beiden Fällen.
Ob es denn nun direkt geklappt habe, hakt Wiebke wissbegierig nach, und Papa brummt ›Leider ja‹, und noch leiser, er hätte ja gern noch öfter probiert, doch er verstummt unter Mamas durchdringendem Blick.
Wiebke wirkt enttäuscht, und Lutz murmelt in den Raum, er könne ja nun wirklich nichts dafür, dass seine Spermien so langsam seien, und wie das überhaupt Horst-Michael finden würde, wenn sie noch mal ein Kind, und Wiebke ruft: »Psst! Das sollte doch unser Geheimnis ...«, aber Lutz ist nicht mehr zu stoppen, und ich wundere mich über seinen Redefluss.
»Vielleicht wegen des Frühschoppens heute Morgen«, vermutet Teddy, wedelt mit der Hand vor seiner Nase herum und dreht sich wieder zur Seite.
Wiebke habe doch jetzt Levke-Fee, meint Lutz weiter, ihre Nichte, da sei sie doch Patin und könne sich kindermäßig prima dran abarbeiten und nachts trotzdem durchschlafen, besser ginge es ja gar nicht, und außerdem müsse nun aber auch mal Schluss mit dem Thema sein. Beim Erwähnen von Levke-Fee beginnen Wiebkes trübe Augen zu leuchten und weiten sich, bis sie so groß sind wie Özils beim Elfmeter, zumindest behauptet Teddy das, und Wiebke zählt mehr als ausschweifend auf, was die Kleine schon alles kann mit ihren zwei Wochen, geradeaus gucken, husten und richtiges Aa machen. Sie hätte sogar schon ein paar englische Wörter, na ja Laute von sich gegeben, das sei schon was Besonderes, aber das mit dem Aa, da glaube sie ganz fest, dass ich das sicher auch bald könne, da sei sie ganz sicher.
Ich hingegen bin mir gar nicht sicher, ob ich das überhaupt will, und gucke hilfesuchend zu Mama, während Wiebke weiter monologisiert, dass sie da wirklich ganz sicher sei, und wenn nicht, könne man ja Psychologen, das sei ja heute alles möglich.
Mama nickt angestrengt, lächelt mich verschwörerisch an und kneift dabei ein Auge zu, und ich bin mächtig stolz, ihre Mitwisserin zu sein. Dann läutet sie diskret nach der Hebamme und meint fröhlich, es sei jetzt leider Zeit für ihre Untersuchung im Intimbereich, die »Ute« müsse jetzt zu ihrem Recht kommen, haha, und alle müssten jetzt raus und dass sie sich sehr über den Besuch gefreut habe, viele Grüße auch an Levke-Fee, woraufhin Wiebke anregt, dass wir uns ja mal alle zusammen treffen könnten, das wäre doch ganz wunderbar.
Mama antwortet heiter, ja gerne, aber Mia brauche jetzt erst mal Zeit, erst mal Hauptmilch, Seepferdchen, Abitur, aber danach mal so richtig mit Kaffee und Kuchen, das sei doch schön, und dass das gerade selbstverständlich ein Spaß gewesen sei, Wiebke habe doch schließlich Humor oder, den brauche sie doch als Waldorf-Lehrerin, das sei doch sicher Einstellungsbedingung.
Wiebke murrt beleidigt, wenn sie Freundinnen bleiben sollen, müsse Mama noch mal über ihren Humor nachdenken, ja, das solle sie wirklich mal tun, ihr Komikzentrum würde er jedenfalls nicht treffen, und andere hätten sich auch schon beschwert, aber egal, sie würden jetzt jedenfalls lieber gehen, und sie stopft ihren Terminkalender zurück in die Handtasche und verlässt erhobenen Hauptes mit Lutz das Zimmer.
Erleichtert will ich aufatmen, da kommt Gudrun-Rudolf-Steiner Wiebkötter herein und fragt drohend, warum wir geschellt hätten.
Mama behauptet, sie hätte sich vertan und nur das Licht anmachen wollen, woraufhin Gudrun-Rudolf-Steiner Wiebkötter die Vorhänge aufreißt, laut die Strahlkraft der Sonne preist und brüllt, dass das so nicht ginge, demnächst käme niemand mehr, wenn wir nur aus Spaß klingelten, das sei schließlich kein Vergnügungspark hier.
Ich finde, meine lieben Eltern haben bei der Auswahl des Personals kein gutes Händchen gehabt, und bin froh, dass Gudrun-Rudolf-Steiner Wiebkötter zwar erzürnt, aber immerhin zügig hinausrauscht.
Leise flüstert Mama Papa zu, das sei immer noch besser gewesen als Wiebke und Lutz, irgendwie sei da der Wurm drin, man würde sich wahrscheinlich viel zu oft sehen, das sei ja auf Dauer auch nicht das Gelbe vom Ei, obwohl sie eigentlich Wiebke als ihre Freundin ansähe, aber irgendwie habe die sich verändert, sie wisse auch nicht.
Papa murmelt was von Hormonen und dass die beiden doch eigentlich ganz okay seien und Babysitter teuer und der Kontakt doch so praktisch, doch Mama ruft, immer fiele er ihr in den Rücken, wie damals bei der Hochzeit, als er plötzlich auch mal witzig sein wollte und nein gesagt hat, vor versammelter Mannschaft, das werde sie nie vergessen.
Papas Gesicht verdunkelt sich einen Moment, als er sagt, ob sie schon wieder damit anfangen wolle, das sei doch nun wirklich schon lange her, und er fände, er habe sich oft genug dafür entschuldigt.
Ich mache hilflos ein Bäuerchen, und die beiden lachen. So fühlen sich also Kitt und Mörtel an, es gibt schlechtere Gefühle, und mein Herz schlägt ganz heftig für meine beiden Erziehungsberechtigten.
Das ist Glück.
~
Am nächsten Morgen betreten wir gerade den Frühstücksraum, in dem meine und andere vom Schlafmangel geplagten Neu-Eltern ihrer morgendlichen Nahrungsgier Herr zu werden versuchen, da kreischt hinter uns plötzlich eine weibliche Stimme: »Neiiiin! Bist du das, Heike? Ich bin’s, die Bettina! Bettina, aus der Schule damals! Du hast immer Mathe von mir abgeschrieben, weißt du noch, wir haben uns ja ewig nicht gesehen! Ach, wie süß, dein Junge, der hat ja gar keine Haare, na ja, da weiß man, wie er im Alter aussehen wird, gell, hahaha, kommt, setzt euch doch zu uns!«
Verwundert stelle ich fest, dass Mama sich anscheinend freuen und gleichzeitig nicht freuen kann und ziehe begeistert das Mützchen vor ihr, beziehungsweise ich strample so lange, bis es mir vom Kopf rutscht – mehr geht eben noch nicht.
Mama setzt es mir gleich wieder auf und ruft: »Das gibt’s ja nicht, die Betty, das ist ja eine Ewigkeit her, und jetzt hier im Krankenhaus, was für ein Zufall, und das hier ist kein Junge, sondern ein Mädchen, die Mia. Aber dein Kleiner ist ja ein ganz Süßer, ein bisschen übergewichtig vielleicht, und das mit den Ohren, na ja, die kann man ja anlegen lassen, ich habe da einen Künstlerkollegen, der war mal Chirurg, da kann ich dir mal die Telefonnummer, ach ja, und das hier ist mein Mann, der Chris, wo ist denn deiner?«
Bettina korrigiert nun gewissenhaft, dass sie Bettina heiße, Betty würde sie heute von niemandem mehr genannt werden, und dass ihr Freund, der Marlon, heute ein gaaaanz wichtiges berufliches Meeting habe, er sei ja Creative Director, aber Mama unterbricht sie und fragt aufgeregt, ob das der Marlon sei, Marlon aus der Schule, und Bettina, ja, aber das sei ja jetzt auch, doch Mama kann sich gar nicht mehr halten.
Waas, der Marlon, der damals im Schwimmbad immer die Arschbombe, ja, der Marlon, bestätigt Bettina genervt, wirklich der Marlon, der damals immer seine Fürze angezündet habe, ruft Mama und lacht ungläubig.
Jetzt solle sie aber mal aufhören, lacht Bettina gequält, das sei doch schließlich eine Ewigkeit her, und will von Mama wissen, wie alt denn ihr Säugling sei, ihrer sei sechs Tage alt und hieße Sören-Wotan, und seine Ohren seien nur vom ungünstigen Liegen etwas vom Kopf entfernt platziert.
Sören-Wotan guckt mich durch seine rollbare Plexiglaswanne entschuldigend an und fragt mich: »Ist bei dir der Bus auch nicht gekommen?«
»N-n-nein«, antworte ich nahezu sprachlos, wollte ich doch gerade durch morsezeichenähnliches Strampeln eine Kommunikationsgrundlage zwischen uns schaffen, »du kannst sprechen und ich dich verstehen, wie kommt denn das?«
Gutmütig erwidert Sören-Wotan: »Na klar, Babys untereinander sprechen ganz normal miteinander. Warum die Großen nicht schnallen, was wir sagen, weiß ich auch nicht, da ist nichts zu machen, aber bei Gleichaltrigen funktioniert die Kommunikation eins a, und das ist auch gut so. Immer dieses ›Ja wo isser denn? Daaa isser ja, der Söri, dutzidutzidutzi‹, das nervt ja so was von. Oder machen das deine Alten etwa nicht?«
Ich nicke bejahend und bewundere seine vielen roten Haare.
»Was für eine Frisur«, flüstere ich Teddy begeistert zu.
Der wiederum zuckt verächtlich mit den Schultern und brummt: »Jau, wie Paul Breitner, nur in Rot, wer will denn so was, pah. Model wird man so jedenfalls nicht.«
»Wieso denn Model?«, raune ich ihm zu. »Du bist ja nur eifersüchtig, weil er eine Haut hat wie ein kleiner süßer Babypopo.«
»Nun ja, er ist ja auch ein Baby«, stellt Teddy schnippisch fest, »das wird sich noch ändern, irgendwann kommen die Falten und der Hängepo, und dann sprechen wir uns wieder, liebe Mia.«
Mit erhobenem Haupt holt er seinen Taschenspiegel raus und betrachtet mit gerunzelter Stirn seine Felldichte.
Na so was. So weit in die Zukunft mag ich gar nicht denken und bleibe begeistert im Hier und Jetzt.
Diesen Sören-Wotan muss ich unbedingt besser kennenlernen und will ihn gerade fragen, ob er auch nur Vormilch kriege, als Mama und Papa mich unter dem Vorwand, ich müsse jetzt schlafen, aus dem Frühstücksraum schieben. Werfe dem Rothaarigen einen verruchten Blick zu, den er sofort mit einem vieldeutigen Schmatzgeräusch erwidert.
Wir rollen hinaus.
Bin erschöpft von meinem ersten Date und schlafe glücklich ein.
~
Als ich aufwache, steht ein gutaussehender Mann im weißen Kittel vor mir und sagt, er heiße Dr. Liebermann, er sei mein Kinderarzt und mache jetzt die U2 mit mir.
Gespannt warte ich darauf, dass er gleich große Augen bekommt und »tschtschtschtschtsch« macht, um die U-Bahn-Linie 2 akustisch zu imitieren, mit der Mama und ich immer zum Geburtsvorbereitungskurs gefahren sind.
Zu meinem Entsetzen legt der Arzt mich stattdessen in eine kalte Metallschale und macht sich dann Notizen.
Kann hier eigentlich jeder mit mir machen, was er möchte, will ich rufen, doch Mama fährt sich durch die Haare, tätschelt mir liebevoll den Kopf und sagt glücklich, so schnell sei also die zweite U-Untersuchung dran. Überrascht schließe ich daraus, dass dieser Vorgang seine Richtigkeit hat, und akzeptiere die gewöhnungsbedürftige Situation achselzuckend.
Der Mann behauptet nun, dass mein Herz einhundertvierzig Mal in der Minute schlägt und dass das normal für ein Baby sei.
»Wow«, sagt Teddy, »einhundertvierzig Mal pro Minute schlagen, da kann Klitschko sich aber mal ein Beispiel dran nehmen.«
Ich kenne keinen Klitschko, bin aber zu abgelenkt, um nachzufragen, denn Dr. Liebermann guckt sich gerade meinen Bauchnabel an. Als wäre das nicht Aufregung genug, betritt nun auch noch Bettina mit Sören-Wotan und einem Mann mit dunklen und akkurat gegelten Haaren unser Familienzimmer.
Mir ist es hochgradig peinlich, in Anwesenheit von Sören-Wotan von dem Arzt befingert zu werden, doch Sören-Wotan scheint den Vorgang interessant zu finden, denn er strampelt aufgeregt in seiner Plexiglaswanne rum und macht hörbar ein Drückerchen in die Windel.
»Na toll«, sagt Teddy pikiert, »das ist wohl die frühe Vorbereitung auf pupsende und Bier-trinkende Ehemänner auf der Wohnzimmercouch.«
Muss nun ungewollt in mich hineinkichern. Teddy kann sich also genau wie ich eine gemeinsame Zukunft zwischen mir und dem attraktiven Rothaarigen vorstellen. Mein Kopf wackelt vor Vergnügen, was dem Arzt gar nicht gefällt, da er gerade dabei ist, meinen Kopfumfang zu messen.
Mama springt auf, zupft ihre Haare abermals zurecht und ruft enthusiastisch, wie schön es sei, dass auch Marlon mitgekommen sei, und dass Betty und Marlon immer noch zusammen wären, sei ja unglaublich, wie es ihnen denn ginge und wo sie eigentlich wohnen würden und dass sie doch erst mal hereinkommen sollten.
Der attraktive Arzt nestelt nervös an seinem Stethoskop herum und sagt ungehalten, dass das jetzt aber eigentlich nicht ginge, sie seien schließlich mitten in einer Untersuchung, doch Mama erwidert, Doktor Liebermann könne da ruhig mal ein Auge zudrücken, sie würde die beiden schon seit der Schulzeit kennen und sie hätten so viel miteinander erlebt, davon auch eine Menge peinlicher Situationen, und ob Marlon noch wisse, was damals hinter der Turnhalle, haha – na ja, sie wolle ja jetzt nicht ausholen, aber was sie sagen wolle, sei, dass man da fast schon von Familie sprechen könne und die drei von ihr aus ruhig hierbleiben könnten.
Sie müsse es ja wissen, brummelt der Arzt wenig begeistert und schaut ungeduldig auf seine Uhr.
Marlon ignorierte das und dröhnt, Mensch Heike, dass sie sich hier wiedersähen, sie seien ja scheinbar auch privat versichert, alle Achtung, schönes Zimmer, und ob denn die Mia, so hieße sie doch, oder?, ob denn die Mia auch so eine große Fontanelle hätte wie sein Sören-Wotan, also das sei ja vielleicht ein Oschi. Mann, Mann, Mann, dass die Schädelknochen noch nicht zusammenwachsen würden in den ersten zwei Jahren, sei ja ein Ding, bei Sören-Wotan würde man das ja auch gar nicht sehen, der hätte ja schon sooo viele Haare, aber bei Mia, da sprieße ja gar nichts, wie das denn käme, Heike hätte doch eigentlich ganz gute Haare, ob denn der Vater ...
Der sei gerade nicht hier, erwidert Mama leicht gekränkt, aber der hätte lange Zeit sehr schöne Haare gehabt, er hätte sie nur grade komplett abrasiert, weil Glatze ja momentan total die Mode sei und ihm auch wirklich ausgezeichnet stehen würde, das sähe unglaublich cool aus – aber gegelt ginge ja auch noch in Ordnung, da gäbe es wirklich Schlimmeres.