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Eckard Michels

GUILLAUME, DER SPION

Eckard Michels

GUILLAUME,
DER
SPION

Eine deutsch-deutsche Karriere

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1. Auflage, März 2013 (entspricht der 1. Druckauflage von Februar 2013: ISBN 978-3-86153-708-3)

© Christoph Links Verlag GmbH

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
 www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de 

Umschlaggestaltung unter Verwendung eines Fotos,
das Willy Brandt und Günter Guillaume bei einer
Betriebsversammlung der
Braunschweigischen Kohlen-Bergwerke
im April 1974 in Helmstedt zeigt (ullstein bild / Rust) 

Satz: Agentur Marina Siegemund, Berlin 



ISBN 978-3-86284-212-4

INHALT

Einführung

Prolog

Geschichtswissenschaft und »intelligence history« in Deutschland

Quellen

Eine exemplarische Studie von DDR-Spionage und westdeutscher Abwehr

Lehrjahre eines »Kundschafters«

Anwerbungsmethoden des MfS

Herkunft und Jugend Günter Guillaumes

Zwischen Ost- und West-Berlin

Christel Boom

»Allmähliche Einbeziehung« in die Arbeit des MfS

Agentenausbildung

Der Auslandsnachrichtendienst der DDR

Spionage gegen die SPD

SED und SPD in den fünfziger Jahren

Vorbereitung der Übersiedlung in den Westen

Das Notaufnahmeverfahren

Entscheidung für Frankfurt

Warum Günter und Christel Guillaume Spione wurden

Aufstieg in der Frankfurter SPD

»Republikflucht« nach Frankfurt

Die »Hauptstadt des Wirtschaftswunders« und das »rote« Hessen

Hoffnungen der SED auf die SPD-Linke in Hessen

Aufbau einer Existenz während der »Legalisierungsphase«

Agentenführung durch Ost-Berlin

Eintritt in die Frankfurter SPD

Guillaume als Resident der HVA

Weichenstellungen für die weitere SPD-Karriere

Positionierung im Vorfeld und während der Großen Koalition

Wahlkämpfer für Georg Leber

SIRA

Nachlassender Spionageeifer des Ehepaares Guillaume

Im Kanzleramt

Vermittlung ins Palais Schaumburg

Sicherheitsüberprüfung

Sozialpolitische Ambitionen der neuen Regierung

Gewerkschaftsreferent

Erste Erfolge

Kolleginnen und Kollegen

Nachzug der Familie

Das Kanzleramt als Ziel der HVA

Ein neues Residentenehepaar für Guillaume

Übersiedlungs-IM nach dem Mauerbau und die »Aktion Anmeldung« des Verfassungsschutzes

Vom DDR-Spion zum Bundesbürger

Neuwahlen 1972

Aufstieg zum Parteireferenten Willy Brandts

Das Kanzlerbüro

Höhe- und Wendepunkt von Brandts Kanzlerschaft

Guillaumes Informationszugänge im und Berichterstattung aus dem Kanzlerbüro

Brandts ungeliebter Referent

Der Verdacht

Risiken des Westeinsatzes für DDR-Spione

Der Zufall führt den Verfassungsschutz auf die Spur

Fatale Entscheidungen in Verfassungsschutz und Kanzleramt

Beginn der Observationen

Brandt und Guillaume in Norwegen

Nachrichtendienstliche Ausbeute der Norwegenreise

Gefährdungsanalyse

Markus Wolf versichert sich höheren Ortes

Guillaume berichtet weiter

Genscher drängt auf eine Lösung

Guillaumes Wert als »Objektquelle« im Kanzleramt

Skandal im Westen, Verlegenheit im Osten

Verhaftung und Teilgeständnisse

Reaktionen in der Bundesrepublik

Das Ende von Brandts Kanzlerschaft

Ursachen und Wirkungen des Rücktritts

Folgen der Guillaume-Affäre für die Westspionage der HVA

Deutsch-deutsche Verstimmung

Krisenmanagement in Ost-Berlin

DDR-Interpretationen von Brandts Rücktritt

»Guillaume, der Spion«

Aufarbeitung der Affäre in Bonn

Verurteilung und »Freikämpfung«

Prozessvorbereitung durch die Bundesanwaltschaft

Haftalltag

Die HVA und ihre inhaftierten »Kundschafter«

Bemühungen Ost-Berlins um Pierre Guillaume

Der Fall Guillaume als Glaubwürdigkeitstest für Bonn und Ost-Berlin

Der Prozess

Das Urteil

HVA-Gefangenenbetreuung und Rückverwandlung in einen DDR-Bürger

Vergebliche Bemühungen der DDR um einen Agentenaustausch

Umdenken in Bonn und Begnadigung

Der Fall Guillaume und der »Basar der Spione«

Heimkehr in ein fremdes Land

Diskrete Rückkehr in die DDR

Der Lohn des Einsatzes und das Ende einer Ehe

MfS-Propaganda mittels »Kundschafterforen«

Zögerliche Öffentlichkeitsarbeit

Ernüchterung bei Christel Guillaume

Ausreise des Sohnes in die Bundesrepublik

Die Guillaume-Memoiren

Wendezeiten und letzte Jahre

Christel Boom als Rentnerin im vereinten Deutschland

Epilog: Der »menschliche Faktor«

»Human intelligence« des Ostblocks im Kalten Krieg

Historische Bedeutung des Falls Guillaume in nachrichtendienstlicher Hinsicht

Der unnötige Rücktritt

Anhang

Anmerkungen

Abkürzungsverzeichnis

Quellen- und Literaturverzeichnis

Danksagung

Personenregister

EINFÜHRUNG

Prolog

Am 5. Dezember 1973 gegen 16 Uhr hatte Willy Brandt vorerst genug vom Regieren, genug vom Palais Schaumburg. »Ich gehe jetzt nach Hause, fühle mich nicht wohl«, verkündete er seinem Büroleiter Reinhard Wilke und wies ihn an, die für den Tag noch vorgesehenen Termine mit den Ministern Walter Scheel und Egon Bahr abzusagen. »Guillaume begleitet ihn auf den Venusberg. Er hat wieder einmal die Flucht ergriffen, vielleicht in die Krankheit, vielleicht nicht einmal das. Er soll gesagt haben (nach Guillaume): ›Ich kann dieses Scheiß-Haus nicht mehr sehen.‹«1 In solchen schwierigen Momenten, in denen der Kanzler einen seiner depressiven Anfälle durchlitt, oder wenn er der sich vor ihm auftürmenden politischen Probleme nicht mehr Herr zu werden glaubte, fühlte sich der Parteireferent Günter Guillaume dem Regierungschef persönlich besonders nahe. Brandt hielt zwar nicht viel von Guillaume, bediente sich aber gern dessen Beflissenheit. Dabei wusste der Kanzler an jenem Dezembertag bereits seit einem halben Jahr, dass Guillaume im Verdacht stand, ein Agent der DDR zu sein. Guillaume wiederum hatte zu diesem Zeitpunkt längst seine ursprüngliche Identität als SED-Mitglied und DDR-Spion zugunsten einer bedingungslosen Loyalität und Fürsorglichkeit gegenüber dem Kanzler verdrängt.

Dies erlebte beispielsweise im Herbst 1973 Günter Grass, der bei den Bundestagswahlen von 1969 und 1972 eine der treibenden Kräfte in der »Sozialdemokratischen Wählerinitiative« gewesen war. Ein Jahr nach Brandts großem Wahlsieg vom November 1972 kritisierte Grass als enttäuschter Gefolgsmann im Fernsehmagazin »Panorama« den Führungsstil und den erlahmenden Reformwillen des Kanzlers, der zunehmend dem politischen Alltagsgeschäft entrückt sei. Einige Tage nach dem Fernsehauftritt sollte es im Palais Schaumburg zu einer Aussprache zwischen dem Schriftsteller und dem Kanzler kommen. »Ich saß noch im Vorzimmer und unterhielt mich mit seinem Referenten, weil Brandts Termin mit dem indischen Botschafter länger dauerte. Da ging die Tür auf und Guillaume kam herein. Er sah mich, bekam einen roten Kopf und fauchte mich an: ›Wie kommen Sie dazu, unseren Bundeskanzler in Panorama derart zu kritisieren?‹«2

Günter Guillaume war in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) sorgfältig ausgewählt und geschult worden, um als sogenannter Übersiedlungs-IM (Inoffizieller Mitarbeiter) zusammen mit seiner Frau Christel in die Bundesrepublik eingeschleust zu werden und dort die SPD auszuspionieren. Dass der Agent sich bis in die unmittelbare Nähe des ersten sozialdemokratischen Bundeskanzlers vorarbeiten würde, hätten sich weder Guillaume noch seine geheimen Auftraggeber in Ost-Berlin in ihren kühnsten Träumen vorstellen können, als sich ihre Wege zwei Jahrzehnte zuvor im geteilten Berlin erstmals kreuzten.

Guillaume, der von 1972 bis 1974 als Referent für Willy Brandt arbeitete, personifiziert daher geradezu die erfolgreiche Spionage der DDR im Westen. Sein Name steht auch für die bislang einzige politische Affäre, über die ein Bundeskanzler gestürzt ist – und nicht irgendein Regierungschef: Brandt ist wegen seines Lebenswegs und seiner Politik wie wohl kein anderer deutscher Politiker der Nachkriegszeit ebenso verehrt wie angefeindet worden. Er hat kaum einen Deutschen gleichgültig gelassen, ob im Westen oder Osten. Guillaume wiederum war, wie die Stuttgarter Zeitung anlässlich des Prozesses gegen den Agenten und seine Frau schrieb, »kein Genie (…), kein Meisterspion à la James Bond, kein Mann, dessen Intellekt und Raffinesse niemand gewachsen war, sondern ein eher subalterner, etwas liebedienerischer Jawoll-Brüller, ein Mann, der als Volksschüler sein mangelndes Allgemeinwissen stets mit penetranter Kumpelhaftigkeit zu überbrücken suchte«.3 Dass ausgerechnet ein Staatsmann vom Formate Brandts, der für so viele ein Hoffnungsträger gewesen war, über einen solchen Mitarbeiter und Spion stürzte, lässt seinen Rücktritt halb tragisch, halb banal erscheinen.

Geschichtswissenschaft und »intelligence history«
in Deutschland

Die Guillaume-Affäre und die Umstände von Brandts Rücktritt haben seit 1974 großen Widerhall in der Öffentlichkeit hervorgerufen. Als beispielsweise der Exagent 1988 in der DDR seine Memoiren veröffentlichte, widmete Der Spiegel diesem Ereignis die Titelgeschichte.4 Der Tod des vermeintlichen »Meisterspions« im April 1995 war vielen Medien eine Meldung mit einem Rückblick auf sein Leben und die gleichnamige Affäre wert. Die Ereignisse vom Frühjahr 1974 haben bereits die Literatur mit Gerhard Zwerenz’ Roman »Die Quadriga des Mischa Wolf« (1975), das Theater mit Michael Frayns Stück »Demokratie« (2003) und den Filmemacher Oliver Storz zum Fernsehspiel »Im Schatten der Macht« (2003) inspiriert. In Letzterem verkörpert pikanterweise Matthias Brandt, der jüngste Sohn des Kanzlers, Guillaume.

Lediglich die Geschichtsschreibung hat dieses Interesse an der Person Guillaumes nur unzureichend bedient. Die existierenden Darstellungen beschränken sich auf die Umstände des Sturzes von Willy Brandt und streifen dabei mehr oder weniger kursorisch die Karriere des Agenten bis zu seiner Verhaftung am 24. April 1974.5 Guillaumes Spionagetätigkeit wurde nie im Rahmen der Struktur und Arbeitsweise des Auslandsnachrichtendienstes der DDR, der zum MfS gehörenden Hauptverwaltung A (HVA) oder des Bonner Bundeskanzleramtes analysiert. Diese Versäumnisse haben bis heute nicht zuletzt eine nüchterne Einschätzung des tatsächlichen nachrichtendienstlichen Schadens für die Bundesrepublik oder des Informationsgewinns für die DDR durch den Kanzleramtsspion verhindert.

Die Geschichte der Nachrichtendienste, obwohl sie in der breiteren Öffentlichkeit auf ein starkes, zumeist auf einzelne, angebliche Meisterspione zentriertes Interesse trifft, besitzt in Deutschland im Gegensatz zu den angelsächsischen Ländern unter professionellen Historikern keine Lobby. Sie galt hierzulande lange als ein fast unseriöses Steckenpferd, das von vermeintlich wichtigeren Themen ablenke. Entsprechend ist »intelligence history« für ihre Betreiber in Deutschland weder karrierefördernd noch drittmittelträchtig. Dies ist umso erstaunlicher, als das geteilte Deutschland von 1945 bis 1989 das zentrale Austragungsfeld der Auseinandersetzung zwischen den beiden Machtblöcken war. Somit standen die west- wie ostdeutschen Nachrichtendienste gleichsam an vorderster Front des Kalten Krieges, um die militärische Schlagkraft, die wirtschaftliche und technologische Leistungsfähigkeit sowie die politischen Entscheidungen auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs für die eigene Regierung wie auch für die Verbündeten in Nato beziehungsweise Warschauer Pakt einzuschätzen.

Die bisherigen historiografischen Versäumnisse in der Aufarbeitung der Tätigkeit der deutschen Nachrichtendienste in der Ära des Kalten Krieges wie auch einzelner spektakulärer Fälle und ihrer politischen Folgen sind zum Teil der mangelnden Zugänglichkeit der Primärquellen geschuldet. Denn Geheimdienste und Geschichtswissenschaft verhalten sich wie Feuer und Wasser zueinander: Spionageorganisationen geben sich notorisch verschlossen unter dem Vorwand des Quellenschutzes sowie der Geheimhaltung der Arbeitsmethoden und des Erkenntnisstandes über das Ausland; Historiker hingegen streben nach möglichst umfassender Offenlegung der Akten zwecks akkurater Aufarbeitung der Vergangenheit und Nachweisbarkeit der aufgestellten Behauptungen. Wenn der Historiker keinen Zugang zu den Primärquellen hat, sondern nur auf mehr oder weniger seriöse journalistische Darstellungen oder die oft nicht verlässlichen und wenig präzisen Aussagen der Zeitzeugen angewiesen ist, kann er den hohen methodischen Standards seines Berufsstandes nicht voll entsprechen. Das wiederum bringt die ganze Geheimdienstgeschichtsschreibung an sich innerhalb der historischen »Zunft« in Verruf. Doch diesem Problem sehen sich grundsätzlich auch die Historiker in den angelsächsischen Ländern gegenüber und lassen sich trotzdem nicht abschrecken. Eine weitere Ursache für die bisherige Abstinenz deutscher Historiker auf dem Feld der »intelligence history« ist in der politischen Kultur der Bundesrepublik zu suchen. Anders als in den angelsächsischen Ländern herrscht als Folge von NS-Diktatur und entfesseltem wie verlorenem Weltkrieg hierzulande nicht unbedingt ein günstiges Klima für die historische Forschung zu Fragen von Sicherheitspolitik, Militär, Krieg und Rüstung. Nachrichtendienste jedoch, sei es in Ost oder West, waren und sind unentbehrliche Informationslieferanten zu diesen von der deutschen Historikerzunft eher gemiedenen Politikfeldern.6

Die Vorbehalte deutscher Historiker gegen diese Themenfelder und damit auch gegen »intelligence history« sind zwar verständlich, aber gleichwohl bedauerlich. Wichtige Aspekte der deutschen Nachkriegsgeschichte, die zum historischen Verständnis unerlässlich sind, bleiben damit unbearbeitet. So herrscht zum Beispiel eine allgemeine weitgehende Unkenntnis über die Arbeitweise der staatlichen bürokratischen Großorganisationen mit Tausenden von Mitarbeitern und großzügigen Budgets, zu denen sich die Nachrichtendienste vor allem seit der Frühphase des Kalten Krieges in Ost und West entwickelt haben. Entsprechend fällt es schwer, die Möglichkeiten und Grenzen der Spionageagenturen bis 1989 abzuschätzen, den jeweils anderen Teil Deutschlands zu unterwandern und die politischen Entscheidungen im Osten beziehungsweise Westen zu beeinflussen. Als Folge des überwiegenden Desinteresses an »intelligence history« hat es bislang an Versuchen gefehlt, einen einzelnen spektakulären Spionagefall wie etwa jenen Guillaumes nicht als bloße Skandalchronik zu schreiben, sondern in seiner langfristigen nachrichtendienstlichen und politischen Bedeutung historisch einzuordnen.

Quellen

Historiker, die sich mit der nachrichtendienstlichen Konkurrenz der beiden deutschen Staaten zwischen 1949 und 1989 beschäftigen, profitieren zumindest theoretisch davon, dass durch den Untergang der DDR die Unterlagen des MfS und der HVA relativ frei zugänglich sind. Diese an sich günstige, international wohl geradezu einmalige Situation erfährt aber ihre Einschränkung dadurch, dass die ostdeutsche Bürgerrechtsbewegung 1989/90 der HVA im Gegensatz zu allen anderen MfS-Abteilungen die Selbstabwicklung erlaubte. Die HVA nutzte diese Gelegenheit, um einen Großteil ihrer Akten zur Spionage im Westen und damit auch zum Fall Guillaume zu vernichten.7 Dennoch reichten die erhaltenen Quellenbestände, um in den letzten Jahren einige grundlegende Werke zur DDR-Spionage im Westen hervorzubringen, wenn auch ohne expliziten Bezug auf den Fall Guillaume.8 Der Offenheit der erhaltenen DDR-Unterlagen steht keine solche der westdeutschen nachrichtendienstlichen Quellen gegenüber, etwa der vom Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) verantworteten Spionageabwehr. Diese Akten sind vermutlich nicht in großem Umfang vernichtet worden, befinden sich aber dafür zum überwältigenden Teil noch nicht im Bundesarchiv, sondern in der Obhut der Dienste oder ihrer vorgesetzten Behörden, also Kanzleramt und Bundesinnenministerium (BMI). Bezeichnenderweise sind aus den mir auf Basis des 2000 in Kraft getretenen Informationsfreiheitsgesetzes erstmals zugänglich gemachten Verschlussakten des Kanzleramtes zum Fall Guillaume im Vorhinein nahezu alle Unterlagen, die vom Verfassungsschutz oder Bundesnachrichtendienst (BND) stammten, entfernt worden. Angesichts dieser Schwierigkeiten verwundert es nicht, dass es derzeit (fast) keine grundlegenden, quellengesättigten und wissenschaftlichen Standards entsprechenden Darstellungen zur Geschichte der westdeutschen Nachrichtendienste und ihrer Aktivitäten gibt.9

Die Quellenlage für das vorliegende Buch ist gleichwohl im Rahmen dessen, was Historikern bei der Bearbeitung nachrichtendienstlicher Themen normalerweise zur Verfügung steht, wegen der seinerzeitigen Prominenz des Falles Guillaume recht gut. Einige der wichtigsten für dieses Buch herangezogenen Unterlagen seien hier kurz vorgestellt. Allein die Abschlussberichte des parlamentarischen Untersuchungsausschusses von 1974/75 und der parallel arbeitenden Regierungskommission »Vorbeugender Geheimschutz« zum Fall Guillaume, beide als Bundestagsdrucksachen veröffentlicht,10 sowie die dichte, investigative Berichterstattung der westdeutschen Medien über die Affäre liefern eine bei anderen Spionagefällen kaum vorhandene und relativ leicht zu erschließende Materialbasis. Die seit einigen Jahren für die Forschung zugängliche »Rosenholz-Kartei« über die im Westen eingesetzten Spione der HVA und die Datenbank »System der Informationsrecherche der HVA« (SIRA) im Berliner Archiv des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) geben wichtige Anhaltspunkte über die Anwerbung und Tätigkeit des Agentenehepaares Guillaume.11 Zudem bieten die an der MfS-eigenen »Juristischen Hochschule« (JHS) in Potsdam seit den späten sechziger Jahren entstandenen, damals als geheim klassifizierten Doktorarbeiten von Stasi-Offizieren, die eher Berichte aus der »tschekistischen« Praxis denn theoretische und kritisch reflektierende akademische Qualifikationsarbeiten sind,12 wichtige Einblicke in die Agentenführung. Sie befassen sich zwar nicht explizit mit dem Fall Guillaume, streifen ihn aber immer wieder unter verschiedenen Aspekten. Sie erlauben es, den einzelnen Spion in der Struktur, Arbeitsweise und dem Weltbild der HVA zu verorten. Die auf 98 Seiten protokollierten Äußerungen von Guillaumes Exfrau Christel, die ebenfalls bis April 1974 für die DDR spionierte, sich aber unmittelbar nach der »Wende« gegenüber den Journalisten Anne Worst und Arnold Seul wesentlich kritischer mit ihrer Tätigkeit für das MfS auseinandersetzte als ihr Exmann, spiegeln den Agentenalltag aus Sicht einer Betroffenen wider. Ihr etwa 400-seitiges, unveröffentlichtes Memoirenmanuskript (»Es begann am Potsdamer Platz«), das Mitte der achtziger Jahre entstanden ist, stellt, obwohl es vom MfS »betreut« wurde, ein Korrektiv zu den ebenfalls unter Stasi-Aufsicht verfassten und kurz vor dem Ende der DDR erschienenen Erinnerungen ihres Exmannes dar. Als entscheidend für die Bearbeitung der westdeutschen Seite von Guillaumes Karriere und der gleichnamigen Affäre erwies es sich unter anderem, dass ich 2011/12 als erster Historiker den Zugang zu den bislang noch nicht ans Bundesarchiv abgegebenen Verschlussakten des Bundeskanzleramtes zum Thema erhielt. Diese mehreren Tausend Seiten von zum Teil als »geheim« oder vereinzelt sogar »streng geheim« klassifizierten Dokumenten betreffen die Einstellung und Karriere des Referenten im Kanzleramt, seinen dortigen Zugang zu Verschlusssachen, seine Reisebegleitungen Brandts, die Arbeit des parlamentarischen Untersuchungsausschusses, die Ermittlungen der Bundesanwaltschaft 1974/75 gegen das Agentenehepaar, den Prozess, den Strafvollzug sowie die Verhandlungen um eine vorzeitige Entlassung der Guillaumes aus der Haft im Zuge eines Gefangenenaustausches mit der DDR. Schließlich sind die Unterlagen Willy Brandts und der Nachlass Reinhard Wilkes, des 2010 verstorbenen Leiters des sogenannten »Kanzlerbüros« im Palais Schaumburg und damit engsten Mitarbeiters Brandts und direkten Vorgesetzten Guillaumes, im Bonner Archiv der Sozialen Demokratie (AdsD) aufschlussreich: Aus ihnen wird die Arbeitsroutine des Kanzlerbüros, dem Guillaume von 1972 bis 1974 als Parteireferent Brandts angehörte, ebenso nachvollziehbar wie das Verhältnis zwischen dem Kanzler und dem »Kundschafter«, wie die Spione im Westeinsatz in der DDR bezeichnet wurden.

Eine exemplarische Studie von DDR-Spionage
und westdeutscher Abwehr

Gestützt auf dieses Material ost- wie westdeutscher amtlicher Provenienz sowie die zahlreichen und verschiedenartigen erhaltenen »Ego-Dokumente«, also Memoiren, Briefe, Vorträge oder Interviews, des Ehepaares Guillaume und ihres Sohnes Pierre13 bietet die berühmteste deutsche Spionageaffäre das Potenzial zu weit mehr als einer sensationsträchtigen Geschichte des Endes von Brandts Kanzlerschaft: Die Karriere des Ehepaares Guillaume liefert vielmehr den Stoff für eine exemplarische Fallstudie sowohl der Agentenführung der HVA als auch der westdeutschen Spionageabwehr und der strafrechtlichen Ahndung geheimdienstlicher Tätigkeit gegen die Bundesrepublik. Mehr noch: Mittels einer Biografie des Agentenehepaares lässt sich die deutsch-deutsche Systemkonkurrenz auf dem Gebiet der Nachrichtendienste erstmals als Erfahrungsgeschichte der Spione »von unten« schreiben. Denn die Biografie des Ehepaars Guillaume ist eine deutsch-deutsche Migrations- und Mentalitätsgeschichte en miniature, wurde es doch wegen seiner Agentenkarriere zu doppelten Grenzgängern: 1956 kamen die Guillaumes im Auftrag der HVA nach Frankfurt am Main zwecks Infiltration und Ausspähung der dortigen SPD; 1981 nach Austausch gegen in der DDR einsitzende westdeutsche Häftlinge kehrten sie in den Staat zurück, für den sie spioniert hatten und dessen Zusammenbruch sie 1989/90 noch erlebten. Am Beispiel dieser heimlichen SED-Mitglieder und HVA-Agenten in der SPD lässt sich untersuchen, wie stark ursprüngliche ideologische und geheimdienstliche Bindungen noch in einem neuen Umfeld wirksam blieben. Anders gefragt: Inwiefern wurden solche Bindungen durch neue Eindrücke aus fast zwei Jahrzehnten des alltäglichen Lebens beim »Klassenfeind« verdrängt und als Folge dessen die Wirksamkeit der Agententätigkeit aus Sicht der Ost-Berliner Spionagezentrale unterminiert?

Meine exemplarische Studie ergänzt die bisherige Forschung zur Westspionage des MfS, die gleichsam den »menschlichen Faktor« und daraus resultierende Probleme der Agentenführung ausgeklammert hat, in wichtiger Hinsicht, indem sie den »Eigensinn« (Alf Lüdtke) von DDR-Kundschaftern angemessen berücksichtigt. Die Spionagetätigkeit der HVA wird also erstmals als Erfahrungsgeschichte der Betroffenen geschrieben und nicht nur als Geschichte der Intentionen der HVA, deren Spione scheinbar wie Marionetten nach dem Willen der Ost-Berliner Auftraggeber tanzten und die Bundesrepublik so vermeintlich erfolgreich unterwanderten.14 Die Geheimdienstpraxis und ihre menschlichen Folgen erstehen vor dem Leser durch den biografischen Zugriff am Beispiel der Guillaumes konkret und plastisch.

Weil dieses Buch nicht wie sonstige Abhandlungen zum Thema mit der Verhaftung des Spionageehepaares und dem Rücktritt Brandts endet, wird erstmals der Umgang in beiden deutschen Staaten mit der Affäre dargestellt. Am konkreten Fall lassen sich die Betreuung von in westdeutschen Gefängnissen einsitzenden DDR-Spionen durch die HVA, die strafrechtliche Ahndung von Spionage durch die westdeutsche Justiz, die Verhandlungen zum Austausch von Agenten und die Begnadigungspraxis für Spione in der Bundesrepublik verdeutlichen. Sodann werden die Reintegrationsbemühungen des MfS für in die DDR zurückkehrende Kundschafter und der Einsatz des Ehepaars Guillaume für eine zunächst nur regime-interne Öffentlichkeitsarbeit im Kontext der deutsch-deutschen Beziehungen der achtziger Jahre aufgezeigt. Abschließend erfolgt ein Blick auf die Bemühungen der Kundschafter, ihrer Spionagetätigkeit auch nach dem Zusammenbruch der DDR noch einen Sinn zu geben und sich den neuen Verhältnissen anzupassen. Anhand der Behandlung dieser Themen macht mein Buch nicht zuletzt deutlich, welch langen Schatten der Fall Guillaume auf die deutsch-deutschen Beziehungen bis zum Ende der DDR geworfen und selbst im vereinten Deutschland noch Behörden wie Öffentlichkeit beschäftigt hat.

LEHRJAHRE
EINES
»KUNDSCHAFTERS«

Anwerbungsmethoden des MfS

Das MfS veröffentlichte im Laufe seiner 40-jährigen Existenz keine Stellenausschreibungen; ebenso wenig waren Initiativbewerbungen von Personen willkommen, die sich zur geheimpolizeilichen oder nachrichtendienstlichen Tätigkeit berufen fühlten. Denn »Selbststeller« galten per se als verdächtig. Vielmehr suchte sich das MfS aus Gründen der Konspiration und der politisch-ideologischen Geschlossenheit, die es als unerlässlich für seine Effizienz als Geheimpolizei im Inneren und als Nachrichtendienst im Ausland ansah, sein Personal auf Basis von Empfehlungen vertrauenswürdiger Quellen. Solche Hinweise konnten sowohl von den eigenen Mitarbeitern kommen als auch von den Zuträgern in der SED, dem staatlichen Jugendverband FDJ oder der ostdeutschen Einheitsgewerkschaft, dem FDGB. War die Staatssicherheit auf einen möglichen IM oder auch Hauptamtlichen Mitarbeiter gestoßen, zog sie ohne dessen Wissen nähere Informationen über ihn ein. Galt die Person als politisch zuverlässig und verschwiegen? Besaß sie für das Ministerium wertvolle Kenntnisse und Fähigkeiten oder eine interessante berufliche oder gesellschaftliche Position, die sich zur Informationsbeschaffung ausnutzen ließen? Gab das familiäre wie gesellschaftliche Umfeld eine Gewähr dafür, dass die Person nicht ihrerseits vom politischen Gegner zur Infiltration der Staatssicherheit eingesetzt werden konnte? Fiel diese Vorprüfung aus Sicht des MfS positiv aus, sprach sie den Kandidaten direkt an. Dabei konnte es mehrere Treffen geben, bis sich die Staatssicherheit dem Umworbenen eindeutig zu erkennen gab. Für das Umfeld des Kandidaten waren die Anwerbungsversuche nicht ersichtlich. In einer Art Testphase mit Probeaufträgen für das MfS, etwa Erkundungen im Bekanntenkreis oder am Arbeitsplatz, sollte dann festgestellt werden, ob der Aspirant zur verdeckten Arbeit tatsächlich gewillt und geeignet war. Erst nach erfolgreicher Absolvierung der Probeaufträge wurde das »Arbeitsverhältnis« mit dem MfS durch eine Verpflichtung formalisiert und erhielt eine längerfristige Perspektive.1

So spielte es sich auch beim späteren Kanzleramtsspion Günter Guillaume ab: Nicht er bot sich ursprünglich der Staatssicherheit zur Mitarbeit an. Vielmehr kam diese nach vorheriger Überprüfung seiner Person auf ihn zu, denn Fähigkeiten, Charakterbild und politische Einstellung machten ihn aus Sicht des MfS interessant. »Man bewirbt sich nicht, sondern wird ausgewählt – aufgrund politischer Aktivität, einer bereits offenbarten Eignung und klar bewiesener Zuverlässigkeit«, antwortete Günter Guillaume entsprechend 1987 in einem Interview mit der FDJ-Zeitung Junge Welt auf die Frage, wie man Kundschafter, also Spion, für das MfS werde.2

Wer also war Günter Guillaume? Wie geriet er Anfang der fünfziger Jahre im geteilten Berlin ins Visier der Staatssicherheit? Was qualifizierte den Mann zum Spion, der durch seine Verhaftung im April 1974 und dem knapp zwei Wochen später erfolgenden Rücktritt Willy Brandts bis heute der bekannteste aller DDR-Kundschafter im Westen geblieben ist? Warum ließ er sich mit der Staatssicherheit ein?

Herkunft und Jugend Günter Guillaumes

Günter Karl Heinz Guillaume wurde am 1. Februar 1927 in Berlin geboren und wuchs in der Choriner Straße 81 des Arbeiterviertels Prenzlauer Berg auf. Sein Vater Karl Ernst, Jahrgang 1904, stammte aus einer Berliner Musikerfamilie hugenottischen Ursprungs. Er war Pianist und verdiente sein Geld in Kinos mit der musikalischen Untermalung von Stummfilmen und mit dem Aufspielen in den Hauptstadtlokalen. Günter Guillaumes Mutter, Johanna Olga Pauline, geborene Loebe, kam 1905 ebenfalls in Berlin auf die Welt und arbeitete als Friseurin, später als Postangestellte. Die Eltern heirateten im Oktober 1926. Der wenige Monate später geborene Sohn blieb ihr einziges Kind.3 Die Guillaumes entstammten also dem kleinbürgerlich-proletarischen Berliner Milieu. Allerdings scheint es in der Kernfamilie keine Tradition des politischen Engagements in der Arbeiterbewegung gegeben zu haben, ganz im Gegenteil: Durch Aufkommen des Tonfilms seit Ende der zwanziger Jahre und die gleichzeitig einsetzende Weltwirtschaftskrise wurde es für den Vater immer schwieriger, die Familie mit seiner Musik zu ernähren. Diese Erfahrung machte ihn für rechtsradikales Gedankengut empfänglich. Er begrüßte die Machtübergabe an Hitler und trat am 16. März 1934 der NSDAP bei, als Mitglied Nr. 1497764. Wenige Wochen nach diesem Schritt erfolgte die Aufnahme in die Reichskulturkammer,4 im »Dritten Reich« Voraussetzung für die Tätigkeit als Musiker. Um darin Mitglied zu werden, musste man allerdings kein Parteibuch vorweisen. Das Datum der Aufnahme in die NSDAP lässt darauf schließen, dass Guillaume senior schon vorher Verbindungen zur Partei oder anderen nationalsozialistischen Formationen wie der Hitlerjugend (HJ) oder der Sturmabteilung (SA) unterhielt. Solche Kontakte erwiesen sich als notwendig, um den eigentlich seit Mai 1933 und bis 1937 geltenden generellen Aufnahmestopp für neue Parteimitglieder zu umgehen. Mit dieser Maßnahme wollte die NSDAP dem unkontrollierten Zustrom politischer Opportunisten, der sogenannten Märzgefallenen, vorbeugen, die massenhaft seit der Machtübernahme in die Partei drängten.5 Dem Vater gelang es offenbar, den Anschein von bloßem politischen Opportunismus zu vermeiden und sich als genuiner Nationalsozialist zu präsentieren. Zudem erschien Karl Ernst Guillaume eine Parteikarriere langfristig aussichtsreicher als das Musikerdasein: Seit März 1937 und bis zu seiner Mobilisierung durch die Wehrmacht im April 1943 verdiente er sein Geld als Sachbearbeiter im Gaupersonalamt der NSDAP.6 Diese Institution verwaltete die Mitgliederkartei der Staatspartei und steuerte ihre Personalpolitik für den Großraum Berlin. Ebenso wurden in der Behörde Gutachten über die politische Zuverlässigkeit von Bewerbern für den Öffentlichen Dienst, Künstlern und anderen Prominenten verfasst.

Günter Guillaume besuchte von 1933 bis 1941 die Volksschule. Er war ein intelligenter Junge und über Jahre hinweg Klassenbester, wie sich Jahrzehnte später ein ehemaliger Mitschüler gegenüber dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel erinnerte.7 Sein bescheidener sozialer Hintergrund und die Familientradition verhinderten allerdings, dass man ihn auf eine weiterführende Schule schickte. Stattdessen trat er nach dem Volksschulabschluss eine Ausbildung als Fotolaborant beim Berliner Atlantic Pressebilderdienst an.

Am 20. April 1944, Hitlers 55. Geburtstag, wurde Guillaume, gerade 17-jährig, in die NSDAP – Mitgliedsnummer 9709880 – aufgenommen.8 Dieses symbolische Datum war für alle Parteibeitritte des Kalenderjahres 1944 im Vorhinein verfügt worden. Um die durch den Krieg gelichteten Reihen der älteren Parteimitglieder wieder aufzufüllen, senkte die Parteikanzlei im Januar 1944 zudem für den Jahrgang 1927 erstmals das Aufnahmealter in die NSDAP von 18 auf 17 Jahre. Guillaumes Alterskohorte sah sich wegen der hohen Kriegsverluste unter den älteren Parteigenossen besonderem Druck seitens der HJ ausgesetzt, der NSDAP beizutreten. Aufgrund der von oben verfügten intensiven Rekrutierungskampagne meldeten 1944 einige Abteilungen der Staatsjugend, in der fast alle Heranwachsenden quasi automatisch Mitglied waren, dass zwischen 45 und 60 Prozent der 1927 Geborenen in die Aufnahmelisten für die NSDAP eingeschrieben worden seien. Zu den bekanntesten Personen dieses Jahrgangs, die so, geradezu gedrängt, noch zu Nationalsozialisten der letzten Stunde mutierten, gehören etwa Hans-Dietrich Genscher, Horst Ehmke, Dieter Hildebrandt und Martin Walser. Sie traten entweder ebenfalls 1944 der NSADP bei, oder ihre Namen erschienen zumindest auf den von der HJ erstellten Aufnahmelisten. Bedenkt man den politischen Hintergrund von Guillaumes Vater und die jahrelange Sozialisation durch die HJ, ist es nicht unwahrscheinlich, dass der spätere Kanzleramtsspion bis in die letzten Kriegsmonate hinein ein überzeugter Jung-Nationalsozialist geblieben ist. So bekannte er beim Verhör durch das Bundeskriminalamt (BKA) im Frühjahr 1974, dass mit dem Ende des Dritten Reiches für ihn wie für unzählige andere Deutsche zunächst eine Welt zusammengebrochen sei.9


Am 6. Januar 1945 wurde Guillaume zur Wehrmacht eingezogen. Das Kriegsende erlebte er in Dänemark, anschließend kam er für sechs Wochen in britische Gefangenschaft. Nach seiner Entlassung verdingte Guillaume sich für einige Monate als Landarbeiter in Schleswig-Holstein. Im Dezember 1945 kehrte er schließlich nach Berlin zurück. Der Prenzlauer Berg, in dem er aufgewachsen war, gehörte nun zum sowjetischen Sektor der ehemaligen Reichshauptstadt.10

Zwischen Ost- und West-Berlin

Zur Jahreswende 1945/46 stieg Guillaume als Juniorpartner in die Fotoagentur eines früheren Lehrlingskollegen aus dem Atlantic Pressebilderdienst, Hans-Dieter Sallein, ein. Der kümmerte sich vornehmlich um das Kaufmännische, Guillaume um das Fotografieren und Entwickeln. Im April 1947 zog das Unternehmen in die Westsektoren Berlins um, weil man sich dort bessere Verdienstmöglichkeiten erhoffte. Der junge Guillaume war, wie sein Kompagnon später gegenüber einem Journalisten aussagte, ein recht begabter Fotograf, obwohl er im Gegensatz zu Sallein nur eine Laborantenausbildung vorweisen konnte. Guillaume war pfiffig und rührig, kontaktfreudig und wirkte sympathisch. Bei Frauen hatte er regelrecht einen Schlag, was er zeit seines Lebens für allerlei Affären ausnutzen sollte. Guillaume begeisterte sich schnell für großartige Visionen, ob nun geschäftlicher oder politischer Natur – so träumten Sallein und Guillaume davon, Unterwasserfilme in der Südsee zu drehen. Allerdings mangelte es dem jungen Guillaume mit seinem Faible für das Leben eines Bohemiens an Fleiß und Zielstrebigkeit, um diese Ziele konsequent zu verfolgen.11

Als der Vater Ende 1947 aus der – wegen seiner Parteimitgliedschaft überdurchschnittlich langen – britischen Kriegsgefangenschaft zurückkehrte, zog Guillaume junior wieder nach Prenzlauer Berg. Bereits am 18. Januar 1948 beging der Vater jedoch durch einen Sprung aus der im dritten Stock gelegenen Wohnung in der Choriner Straße Selbstmord. Ein Grund für diese Verzweiflungstat war der Umstand, dass seine Frau während seiner langen Abwesenheit seit 1943 eine Liaison mit einem anderen Mann eingegangen war, den sie später heiratete. Guillaume zog nach diesem tragischen Ereignis alsbald wieder nach West-Berlin, zumal er mit dem neuen Lebensgefährten der Mutter nicht auskam. Das Verhältnis zu seiner Mutter, die 1977 in Ost-Berlin starb, blieb seit diesem tragischen Vorfall nach Guillaumes eigener Aussage »spröde«.12

Für viele junge Männer der in den zwanziger Jahren geborenen sogenannten HJ- und Flakhelfergeneration bildete das Kriegsende einen tiefen Einschnitt. Sie fühlten sich durch den Nationalsozialismus verraten. Sie hatten ihm in der HJ und durch den Kriegseinsatz zum Teil idealistisch bis zuletzt gedient, nur um 1945 den vollständigen Zusammenbruch des Regimes einschließlich der Flucht des »Führers« durch Selbstmord aus der Verantwortung zu erleben. Dies führte bei einem Teil von ihnen zu einem ausgesprochenen Widerwillen gegen jegliches weitere politische Engagement, was dieser Altersgruppe in den fünfziger Jahren in der Bundesrepublik die Bezeichnung »skeptische Generation« eintrug. Sie war glaubens- und illusionsloser, nüchterner und weniger pathetisch als die vorhergegangenen Jugendgenerationen.13 Andere wiederum suchten mit dem gleichen politischen Idealismus, mit dem sie zunächst dem Nationalsozialismus gedient hatten, nach überzeugenden politischen Alternativen zur nun diskreditierten alten Weltanschauung. Damit wollten sie das entstandene ideologische Vakuum füllen und eine Art Wiedergutmachung leisten durch den Aufbau eines neuen Deutschland, sei es in der demokratisch-parlamentarischen Form im Westen oder in der sozialistischen Variante im Osten. Mit anderen Worten: Die einmal enttäuschten Idealisten waren bei Kriegsende alt genug, um zu erkennen, dass sie mit dem Nationalsozialismus den falschen Weg gewählt hatten, aber noch jung genug, um sich politisch umzuorientieren und unter anderen Vorzeichen erneut aktiv zu werden.14

Das wollten offenbar auch Sallein und Guillaume. Dessen erstes belegbares politisches Engagement nach Kriegsende, animiert durch das Vorbild Salleins, war der Eintritt in die von dem ehemaligen US-Bomberpiloten Garry Davis gegründete pazifistische »Weltbürgerbewegung«. Davis gab im Mai 1948 im Pariser US-Konsulat seinen amerikanischen Pass ab und deklarierte sich stattdessen zum »Weltbürger«. Er hoffte, damit eine Massenbewegung auszulösen, um so das Ende der nationalstaatlichen Mächterivalitäten und der daraus resultierenden militärischen Konflikte einzuläuten. Seine Initiative erhielt weltweite Publizität, als er und einige seiner Anhänger am 19. November 1948 die Vollversammlung der Vereinten Nationen, die zwischenzeitlich in Paris tagte, mit der Forderung nach einer Weltregierung sprengten. Anfang 1949 verzeichnete sein in Paris eingerichtetes Register der Weltbürger bereits 650 000 Mitglieder. Davis’ Initiative stieß vor allem in Deutschland auf starke Resonanz. Hier bildeten sich mehrere Hundert lokale Weltbürgervereinigungen, mehr als in jedem anderen Land. Sallein, Guillaume und ein weiterer Aktivist namens Fred Kaltmann versuchten zur Jahreswende 1948/49, mitten in der Berlin-Blockade, von West-Berlin aus die Bewegung in der geteilten Stadt zu lancieren. Sie stellten den Lizenzantrag für ihren Verein sowohl beim östlichen Magistrat als auch beim westlichen Senat, denn ihre Initiative sollte im Geiste Davis’ gerade die sich abzeichnende Spaltung Berlins, Deutschlands und Europas in antagonistische Blöcke verhindern. Sie luden zu einer Pressekonferenz ein, für die sie als Zugpferd den populären Berliner Schauspieler Viktor de Kowa gewinnen konnten. So schafften sie es sogar in den Spiegel, der ihnen im Januar 1949 einen kurzen Artikel widmete, in dem es hieß, dass bereits eintausend Berliner eine weltbürgerliche Solidaritätserklärung abgegeben hätten.15

Der Drang, im Sinne des Weltfriedens und der Völkerverständigung politisch aktiv zu werden, führte Guillaume von der letztlich amorphen Weltbürgerbewegung in das im Frühjahr 1950 auf Geheiß der DDR gegründete »Groß-Berliner Komitee der Kämpfer für den Frieden«, das sich als regionale Sektion des im Mai 1949 gegründeten »Deutschen Komitees der Kämpfer für den Frieden« verstand. Letzteres änderte Ende 1950 seinen Namen in »Deutscher Friedensrat« und bestand bis zum Ende der DDR. Die Berliner Unterorganisation, die seit Ende 1950 als »Berliner Friedensrat« auftrat, wurde hingegen kurz nach dem Mauerbau aufgelöst. Die Friedenskomitees richteten sich einseitig gegen die Aufrüstung im Westen bei gleichzeitiger Betonung der friedlichen Intentionen der Sowjetunion und ihrer Verbündeten, die, im Gegensatz zu den »Spaltern« im Westen, weiter an der Idee der deutschen Einheit festhielten. Anfangs bestand die Hauptaufgabe der Berliner Organisation darin, Unterschriften für den sogenannten Stockholmer Appell vom März 1950 zu sammeln, der ein Verbot jeglicher Atomwaffen forderte. Weil zu diesem Zeitpunkt einzig die USA über einsatzfähige Nuklearwaffen verfügten, entsprach dieser Appell den östlichen Interessen und wurde demzufolge wie auch das Groß-Berliner Komitee als Ganzes in West-Berlin vornehmlich als »5. Kolonne Moskaus« wahrgenommen. Die West-Berliner Polizei behinderte entsprechend die Arbeit des Komitees. Es kam wiederholt zur Verhaftung von Aktivisten, und Mahnwachen wurden gewaltsam aufgelöst. Während das Groß-Berliner Komitee bis Ende 1950 im Osten mehr als 11 000 Mitglieder und 890 000 Unterschriften für den Stockholmer Appell vorweisen konnte, waren in West-Berlin nur 567 Personen organisiert und 121 000 Unterschriften gesammelt worden.16

Der von Sallein und Guillaume auch für Ost-Berlin gestellte Lizenzantrag für die Weltbürgerbewegung stellte vermutlich für das entstehende Groß-Berliner Komitee den Anknüpfungspunkt dar, um Guillaume zu kontaktieren. Mit seinem West-Berliner Wohnsitz war er ein idealer Adressat für die Verbreitung östlicher Positionen in der anderen Hälfte der geteilten Stadt. Am 19. März 1950 schrieb ein Mann namens Butzke an Guillaume, wohnhaft in der Droysenstraße 4 in Berlin-Charlottenburg, und bedankte sich für das gezeigte Interesse an der entstehenden Friedensbewegung. Man plane, bei den Behörden des Bezirks Charlottenburg einen Lizenzantrag für ein örtliches Komitee der Kämpfer für den Frieden zu stellen. Es sei kein Prominentenverein beabsichtigt, sondern eine Massenbewegung. Bei der Gründungsveranstaltung des Charlottenburger Bezirkskomitees am 2. Mai 1950 war Guillaume einer der zehn Aktivisten der ersten Stunde. Im Sommer 1950 arbeitete er bereits hauptamtlich beim Deutschen Komitee der Kämpfer für den Frieden, das in der Ost-Berliner Taubenstraße residierte. Zugleich fungierte er für den ersten »Groß-Berliner Delegiertenkongress«, der am 29. Oktober 1950 in Ost-Berlin stattfand, auf Listenplatz 4 als »parteiloser Angestellter« unter den 60 Abgeordneten des Bezirks Charlottenburg. Die Deputierten waren nicht etwa von den Bezirken in West und Ost gewählt, sondern gemäß dem Grundsatz des »demokratischen Zentralismus« vom Friedensrat in Abstimmung mit der SED nach einem Proporz ernannt worden, der ein möglichst repräsentatives Bild der friedenswilligen Berliner abgeben sollte mit einem besonderen Augenmerk auf Kriegsversehrte, -witwen und -waisen.17 Guillaume trieb anfangs weniger ein Bekenntnis zur marxistisch-leninistischen Weltanschauung in die Arme des vom Osten gesteuerten Komitees als sein Pazifismus sowie der Drang nach Aktionismus und gesellschaftlicher Anerkennung. Anlässlich einer Sitzung der Charlottenburger Bezirksgruppe Ende November 1950 wurde Guillaume von einem anwesenden SED-Kader noch als politisch zwielichtig eingestuft.18

Gleichwohl engagierte sich Guillaume im Laufe des Jahres 1950 auch in anderen SED-nahen Massenorganisationen der noch jungen DDR: So wurde er im März 1950 Mitglied in der »Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft« (DSF) und besuchte im selben Jahr eine Schulung der »Nationalen Front« (NF),19 formal ein Zusammenschluss aller Parteien und Massenorganisationen der DDR mit dem Ziel, ein vereintes Deutschland herzustellen. Dieses sollte sich gemäß den Vorstellungen Moskaus und der SED im Idealfall sozialistisch wie die DDR ausrichten, zumindest aber neutral zwischen den Machtblöcken existieren; keineswegs aber, wie von Bundeskanzler Konrad Adenauer in Bonn angestrebt und von der Mehrheit der bundesrepublikanischen Bevölkerung befürwortet, im westlichen Bündnis integriert sein.20 Im März 1951 fiel Guillaume bereits der Organisation Gehlen, der von den Amerikanern ins Leben gerufenen Vorläuferorganisation des BND, zwei Mal als Propagandist für den Osten auf.21

Im Herbst 1950 lernte Guillaume in der Ost-Berliner Zentrale des Groß-Berliner Komitees der Kämpfer für den Frieden, die im Columbushaus am Potsdamer Platz residierte, die dort arbeitende Sekretärin Christel Boom kennen.22 Die Begegnung sollte im Leben beider eine entscheidende Weichenstellung nicht nur in persönlicher, sondern auch in beruflicher und geheimdienstlicher Hinsicht werden.

Christel Boom

Christel Boom kam am 6. Oktober 1927 im ostpreußischen Allenstein als Christel Ingeborg Margarete Meerrettig, uneheliches und einziges Kind der Landarbeiterin Erna Meerrettig, auf die Welt. Anfang der dreißiger Jahre gelang der 1905 geborenen Mutter ein bemerkenswerter gesellschaftlicher Aufstieg: Sie heiratete den um ein Vierteljahrhundert älteren Niederländer Tobias Boom, bei dem sie zunächst als Haushälterin gearbeitet hatte. Boom war technischer Direktor einer Tabakfabrik der Firma Loeser & Wolff im ostpreußischen Elbing und als solcher wohlsituiert. Er adoptierte Christel und tat sein Bestes, um sie zu einer kultivierten Tochter aus gutbürgerlichem Hause zu erziehen. Das Familienglück in der sächsischen Kleinstadt Leisnig, wohin die Familie inzwischen gezogen war, endete, als Boom im Mai 1940 mit dem Einmarsch der Wehrmacht in die Niederlande vorübergehend als feindlicher Ausländer in Nürnberg interniert wurde. Er kehrte einige Wochen später als physisch und psychisch gebrochener Mann nach Leisnig zurück und starb 1944 an den Spätfolgen seiner Haft. Mittlerweile, nach neunjähriger Schulzeit, hatte Christel Boom eine Ausbildung als medizinisch-technische Assistentin begonnen, die sie aber infolge des Kriegsendes nicht abschließen konnte. Christel Boom nahm nun anstelle der anvisierten Karriere im Gesundheitswesen Privatstunden im Schreibmaschineschreiben und in Stenografie. Weil es in ihrer Heimatstadt jedoch keine Stellen für Schreibkräfte gab, ging sie 1950 nach Ost-Berlin und fand dort zum 1. September Anstellung als Sekretärin in der Zentrale des Groß-Berliner Komitees der Kämpfer für den Frieden.23

Das Verhältnis zwischen Guillaume und Christel Boom, beide vaterlos und Einzelkinder, verfestigte sich rasch: Schon Ende November firmierte Christel Boom als Guillaumes Verlobte.24 Am 12. Mai 1951 heirateten sie in Leisnig. Sie wohnten zunächst einige Monate in Berlin bei der Mutter Guillaumes in der Choriner Straße, bis ihnen im November 1951 eine Wohnung im brandenburgischen Lehnitz zugewiesen wurde. Erna Boom zog 1953 zu Tochter und Schwiegersohn nach.

Guillaume war der lebenslustigere und umgänglichere Teil des Paares, der seine Fähigkeiten gerne überschätzte. Seine Frau zeichnete sich durch einen eher zurückhaltenden Charakter und herben Charme aus. Es mangelte ihr zunächst an Selbstvertrauen und sie ließ sich anfangs von Guillaumes souveränem Auftreten blenden. Sie war aber die Person mit der stärkeren Selbstdisziplin und Zielstrebigkeit. Daher erweckte sie später im Westen den Eindruck, als dominiere sie die Ehe. Dies führte nach der Enttarnung des Spionagepaares zu Schlagzeilen wie »Bei denen hat die Frau die Hosen an«. »Kalt und unnahbar« sei Christel Guillaume gewesen, aber »sehr viel cleverer und intelligenter als ihr Mann«, der vor allem durch seine stets gute Laune aufgefallen sei, erinnerte sich nach der Verhaftung des Paares eine Frankfurter SPD-Genossin an die beiden.25

Schon bald nach der Heirat begann Guillaume, der ewige Schürzenjäger, seine Frau zu betrügen. Auch sonst hielt er mit der Wahrheit hinter dem Berg: So verheimlichte er ihr, dass er Mitglied der NSDAP gewesen war, was sie erst im Zuge der westdeutschen Presseberichterstattung nach der Enttarnung des Agentenehepaares erfahren sollte. Es empörte sie dann umso mehr, als sie sich wegen des Schicksals ihres Adoptivvaters als Opfer des Faschismus empfand. Auch über seine Westreisen im Auftrage der Staatssicherheit informierte ihr Mann sie erst nach mehreren Jahren, als er sie ebenfalls als IM gewinnen wollte.26

Durch Verlobung, kurz darauf folgender Heirat und der endgültigen Übersiedlung in den Osten festigte sich Guillaumes Identifikation mit der DDR. Am 1. Juli 1951 trat er eine Stelle im Ost-Berliner Verlag Volk und Wissen an, dem bis 1989 führenden Schul- und Lehrbuchverlag der DDR. Im Laufe seiner dortigen mehr als vierjährigen Tätigkeit durchlief er, wie sein erhaltenes Personalstammblatt zeigt,27 Stationen als Fotograf, Bildredakteur und Ausbilder von Lehrlingen. Anfang 1953 fungierte er für vier Monate als Vorsitzender der FDGB-Abteilungsgewerkschaftsleitung, eine Untergliederung der Gesamt-Betriebsgewerkschaftsleitung bei größeren Unternehmen. Vor allem kristallisierte sich in jenen Jahren noch klarer sein politisches Engagement für die DDR jenseits der bloßen Friedenspropaganda heraus. Neben seiner FDGB-Tätigkeit wurde er laut Personalstammblatt im März 1953 Aufnahmekandidat der SED, das heißt, er trat eine zweijährige Probe- und ideologische Schulungszeit an, an deren Ende in der Regel die volle Parteimitgliedschaft winkte.

»Allmähliche Einbeziehung« in die Arbeit des MfS

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