HOTEL
FLORIDA
Wahrheit, Liebe und Verrat
im Spanischen Bürgerkrieg
Aus dem Amerikanischen von Susanne Held
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Klett-Cotta
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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Hotel Florida: Truth, Love, and Death in the Spanish Civil War« im Verlag Farrar, Straus und Giroux, New York
© 2014 by Amanda Vaill
Für die deutsche Ausgabe
© 2015 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Lektorat: Michael Kinzig, Heidelberg
Umschlag: Rothfos & Gabler, Hamburg
Umschlagdesign unter Verwendung des Originalumschlags von Tal Goretsky.
Fotos (von oben links nach unten): Ernest Hemingway: Getty Images/Lloyd Arnold/Hulton Archive; Gerda Taro: Robert Capa © International Center of Photography/Magnum Photos/Agentur Focus; Martha Gellhorn: Getty Images/FPG/Staff ; Robert Capa: Getty Images/Picture Post/Hulton Archive; Plaza de Callao und Hotel Florida: António Passport, 1930, Ministry of Education, Culture and Sports, Institute of Spain Cultural Heritage, Heritage Photo Library.
Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Printausgabe: ISBN 978-3-608-94915-5
E-Book: ISBN 978-3-608-10803-3
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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Für jene, die in Spanien starben,
oder dort ihr Herz verloren – und für Tom
In den Jahren damals konnte man im Hotel Florida
mehr lernen als sonst irgendwo auf der Welt.
Ernest Hemingway
Cómo se pasa la vida,
Cómo se viene la muerte.
Tan callando:
Cuán presto se va el placer,
Cómo, después de acordado,
Da dolor,
Cómo, a nuestro parecer,
Cualquiera tiempo pasado
Fue mejor.
Jorge Manrique (1440–1479)
Denn was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?
Matthäus 16,26
Karten
Chronologie
Die wichtigsten Personen
PROLOG
TEIL I:
»SIE SIND HIER, WEIL ES UM
IHR LEBEN GEHT«
TEIL II:
»DIE KUGEL, DIE DICH TRIFFT,
HÖRST DU NICHT«
TEIL III:
LA DESPEDIDA
EPILOG
Tafelteil
Anmerkungen
Bibliographie
Detailliertes Inhaltsverzeichnis
Bildnachweis
König Alfonso XIII. verlässt Spanien und macht Platz für die Zweite Republik, eine Koalition aus Sozialisten und liberalen Republikanern der Mittelschicht; die neue Regierung führt das Frauenwahlrecht ein, legalisiert die Ehescheidung und reduziert die Größe des Heers.
General José Sanjurjo unternimmt einen Putschversuch des rechten Flügels gegen die spanische Republik; in Andalusien, Aragón, dem Baskenland und Madrid finden anarchistische Aufstände statt.
Franklin Delano Roosevelt wird zum Präsidenten der USA gewählt; die Arbeitslosigkeit im Land liegt bei 25 Prozent.
Adolf Hitler wird Kanzler von Deutschland; sämtliche politischen Parteien außer den Nationalsozialisten werden verboten; das erste nationalsozialistische Konzentrationslager wird in Dachau eröffnet.
In Spanien erringen die rechtsgerichteten Parteien eine Mehrheit in den Cortes.
General Francisco Franco führt die Niederschlagung des Aufstands der Bergarbeiter in Asturien an.
Der österreichische Bürgerkrieg verursacht Straßenkämpfe in Wien und anderen Städten; der konservative Bundeskanzler Dollfuß verbietet die Sozialdemokraten, und Österreich wird ein protofaschistischer Staat.
Andrés Nin und Joaquin Maurin begründen die Arbeiterpartei der Marxistischen Einheit (Partido Obrero de Unificación Marxista POUM) in Katalonien.
Ministerpräsident Benito Mussolini entsendet italienische Truppen zum Einmarsch in Abessinien.
Stalin ordnet die erste Säuberungsaktion des später so genannten Großen Terrors an.
Februar Die neu formierte Volksfront-Koalition aus Sozialisten, Kommunisten und Republikanern gewinnt knapp die spanischen Parlamentswahlen; die neue Regierung entzieht Francisco Franco das Oberkommando und schickt ihn in die Verbannung auf die Kanarischen Inseln.
März Hitler marschiert im Rheinland ein.
Mai Die Volksfront gewinnt die Parlamentswahlen in Frankreich; Léon Blum entkommt nur knapp einem Anschlag durch faschistische Milizionäre; er wird zum Ministerpräsidenten gewählt.
Juli In ganz Spanien finden koordinierte militärische Aufstände statt; Franco fliegt von den Kanarischen Inseln nach Marokko, um den Befehl über das Afrikaheer zu übernehmen und im spanischen Festland einzumarschieren; die Regierung bewaffnet Zivilisten, um den Aufstand zu bekämpfen.
August Mehrere europäische Nationen, denen sich die USA anschließen, verabschieden eine Nichteinmischungserklärung für Spanien; die nationalistischen (aufständischen) Truppen, unterstützt mit geheimen Waffenlieferungen aus Deutschland und Italien, rücken stetig vor; der Sozialistenführer Francisco Largo Caballero wird Ministerpräsident Spaniens.
September Die spanischen Rebellen nehmen Toledo und San Sebastián ein; Franco wird zum Oberkommandierenden General der rebellierenden Streitkräfte ernannt.
Oktober Die spanischen Goldreserven werden nach Russland verbracht; die ersten Internationalen Brigaden treffen in Spanien ein.
November Nationalistische Streitkräfte rücken in die Außenbezirke von Madrid vor, werden aber aufgehalten; die Regierung zieht nach Valencia um; Deutschland und Italien erkennen Franco an.
Januar In Moskau beginnen die Prozesse gegen altgediente Bolschewiken und aktive Offiziere; der US-Kongress untersagt jegliche Waffenlieferungen an Spanien.
Februar Die Nationalisten nehmen Málaga ein, Beginn der Schlacht am Jarama.
März Regierungstruppen drängen die Nationalisten bei Guadalajara zurück.
April Die deutsche Luftwaffe bombardiert Guernica.
Mai Mai-Tage (Kämpfe zwischen Kommunisten, Anarchisten und unabhängigen Marxisten) in Barcelona; Juan Negrín löst Largo Caballero als Ministerpräsident ab.
Juni Einnahme von Bilbao durch die Nationalisten.
Juli Schlacht bei Brunete; die UDSSR tritt in den Chinesisch-Japanischen Krieg ein.
August Beginn der Kämpfe an der Aragonien-Front.
Oktober Regierungskräfte erobern Belchite in Aragonien; die Nationalisten erringen die Herrschaft über den Norden; die Regierung zieht von Valencia nach Barcelona um.
Dezember Beginn der Schlacht um Teruel. In China Belagerung und Eroberung von Nanking durch die Japaner.
Januar Die Regierungstruppen erobern Teruel.
Februar Rückeroberung von Teruel durch die Nationalisten.
März Rückeroberung von Belchite durch die Nationalisten, Beginn des Vorstoßes zum Mittelmeer; italienische Flugzeuge beginnen, Barcelona zu bombardieren; Frankreich öffnet seine Grenze zu Spanien; Deutschland annektiert Österreich.
April Einnahme von Lérida, dann von Vinaroz, durch die Nationalisten, wodurch das Territorium der Republikaner zweigeteilt wird; Franco unterzeichnet heimlich den Anti-Komintern-Pakt mit Japan, Italien und Deutschland.
Juni Léon Blum tritt als französischer Ministerpräsident zurück und wird von Édouard Daladier abgelöst; Schließung der Grenze zu Spanien.
Juli Die spanische Regierung beginnt mit Gegenangriffen entlang des Ebro.
September Die Konferenz von München mit den Teilnehmern Frankreich, Großbritannien, Deutschland und Italien gibt Hitler freie Hand zur Annektierung des tschechischen Sudetenlands.
Oktober Die spanische Regierung stimmt dem Abzug sämtlicher ausländischer Freiwilliger zu; Abschiedsparade der Internationalen Brigaden in Barcelona; in China fällt Hankou an die Japaner.
November Offensive am Rio Segre; Schlacht am Ebro endet mit Niederlage der Regierung und deren Rückzug; in Deutschland kommt es zur sogenannten Reichskristallnacht, den Novemberpogromen: Zerstörung von 7500 jüdischen Geschäften und 400 Synagogen.
Dezember Franco beginnt Angriff auf Katalonien.
Januar Die Nationalisten nehmen Barcelona ein.
Februar Katalonien vollständig von den Nationalisten besetzt; Anerkennung der Regierung Francos durch Großbritannien und Frankreich.
März Franco marschiert in Madrid ein; Deutschland annektiert die gesamte Tschechoslowakei und fordert eine freie Stadt Danzig in Polen.
April Franco verkündet das Ende der militärischen Auseinandersetzung und gibt seinen Beitritt zum deutsch-italienisch-japanischen Anti-Komintern-Pakt bekannt.
Julio Álvarez del Vayo,1 Außenminister der spanischen Republik von September 1936 bis Mai 1937 und von April 1938 bis März 1939
Arturo Barea Ogazón, Patentingenieur, Pressezensor, Traumberuf: Schriftsteller
Luís Companys, Präsident der katalonischen Generalitat (autonomen Regierung Kataloniens)
Francisco Largo Caballero, führende Persönlichkeit der Sozialisten, Ministerpräsident der spanischen Republik von September 1936 bis Mai 1937
Enrique Líster, in der Sowjetunion ausgebildeter Anführer der 11. Division der Volksarmee, später des 5. Armeekorps
José Miaja, loyalistischer General und Anführer der Verteidigungsjunta von Madrid
Oberst Juan Modesto, kommunistischer Anführer des 5. Armeekorps, später Anführer der Ebro-Armee
Constancia de la Mora y Maura, Aristokratin, Kommunistin, Abgeordnete (seit Mai 1937) und später, von Oktober 1937 bis Februar 1939, Propagandachefin der spanischen Republik
Dr. Juan Negrín, führende Persönlichkeit der Sozialisten, Finanzminister, später (von Mai 1937 bis März 1939) Ministerpräsident Spaniens
Andrés Nin, katalanischer Kommunist und Stalingegner, Gründer der POUM
Indalecio Prieto, führende Persönlichkeit der Sozialisten, Rivale von Largo Caballero, spanischer Verteidigungsminister von Mai 1937 bis März 1938
José Robles Pazos, spanischer Übersetzer von John Dos Passos
Luis Rubio Hidalgo, Propagandaminister der spanischen Republik von September 1936 bis Oktober 1937
José (Pepe) Quintanilla, Chef der Geheimpolizei von Madrid, Bruder des Künstlers Luis Quintanilla
Luis Bolín, Verschwörer der Rechten, später Propagandachef der Nationalisten
Francisco Franco Bahamonde, jüngster General in der spanischen Armee, später Anführer des Aufstands der Nationalisten
Virginia (Ginny) Cowles, Korrespondentin beim Hearst Newspaper Syndicate
John Dos Passos, Romancier und Journalist
Sidney Franklin, amerikanischer Matador, Freund und Faktotum Ernest Hemingways
Martha Gellhorn, Romanautorin und Journalistin
Ernest Hemingway, Romancier und Journalist
Josephine (Josie) Herbst, amerikanische Romanautorin und linke Journalistin, Freundin von Hemingway und Dos Passos
James Lardner, amerikanischer Journalist, Korrespondent für das Pariser Büro der Herald Tribune, Sohn des amerikanischen Romanciers Ring Lardner
Archibald MacLeish, amerikanischer Dichter und Zeitschriften-Herausgeber, Freund von Hemingway und Dos Passos
Herbert L. Matthews, Madrider Korrespondent der New York Times
Robert Hale Merriman, amerikanischer Professor für Wirtschaftswissenschaften, Kommandant des Abraham Lincoln Bataillons, später Stabschef der Fünfzehnten Internationalen Brigade
Maxwell Perkins, Hemingways Lektor bei Charles Scribner’s Sons
Liston Oak, amerikanischer Kommunist im Dienst des Propagandaministeriums der spanischen Republik; Sekretär der League of American Writers
Franklin Roosevelt, von 1933 bis 1945 Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika
Eleanor Roosevelt, seine Frau, Journalistin und Aktivistin
Vincent (Jimmy) Sheean, Auslandskorrespondent der Herald Tribune
Eric Blair alias George Orwell, englischer Enthüllungsjournalist und Milizionär der POUM
Claud Cockburn, Spanienkorrespondent des Daily Worker, Herausgeber und Korrespondent von The Week
Sefton (Tom) Delmer, Madridkorrespondent des Daily Express
Diana (Dinah) Forbes-Robertson, Schriftstellerin, verheiratet mit Vincent Sheean
Wladimir Gorew, Sonder-Militärattaché der Sowjetunion und Leiter der Außenstelle der GRU (sowjetischen Militäraufklärung) in Madrid
General Emilio Kléber alias Manfred (oder Lazar) Stern, Kommandant der Elften Internationalen Brigade im November 1936
Michail Kolzow, russischer Journalist, Spanienkorrespondent der Prawda
Alexander Orlow, Leiter der Außenstelle des NKWD in Madrid (später in Valencia) von 1936 bis 1938
Josif Wissarionowitsch Stalin, Generalsekretär der Kommunistischen Partei von 1922 bis 1952
Marschall Kliment Woroschilow, Volkskommissar für Verteidigung, UDSSR
Ted Allan, linker Journalist aus Kanada
André (Endre) Friedmann alias Robert Capa, ungarischer Fotograf
Carlos Contreras alias Vittoria Vidali, in Triest geborener Agent des NKWD und Gründer des loyalistischen Fünften Regiments
Louis Delaprée, Madridkorrespondent der Paris Soir
John Ferno alias Fernhout, kommunistischer Filmemacher aus Holland
Joris Ivens, kommunistischer Filmemacher aus Holland
Oberst Hans Kahle, preußischer Kommunist im Exil, nach 1936 Befehlshaber der Elften Internationalen Brigade, später Divisionskommandant in der republikanischen Volksarmee
Alfred Kantorowicz, emigrierter polnischer Journalist und Nachrichtenoffizier des Tschapajew-Bataillons
Geza Korvin Karphathi, ungarischer Fotograf und Filmemacher, Jugendfreund von Endre Friedmann (Robert Capa)
Otto Katz alias André Simone, deutscher Kommunist und Flüchtling, Propagagandist, Gründer der Agence Espagne
Ilse (später Ilsa) Kulcsar, geborene Pollak, österreichische Journalistin, sozialistische Aktivistin und Übersetzerin
Leopold (Poldi) Kulcsar, österreichischer Journalist und Geheimagent
General Pavol Lukács alias Maté Zalka, in Ungarn geborener, in Moskau ausgebildeter Kommandant der Zwölften Internationalen Brigade
André Malraux, französischer Romancier und Kunsttheoretiker, Gründer der Escuadrilla España
Randolfo Pacciardi, italienischer Antifaschist, Kommandant des Garibaldi-Bataillons der Zwölften Internationalen Brigade
Gustav Regler, deutscher Kommunist, Flüchtling, Politkommissar der Zwölften Internationalen Brigade
Kajsa Rothman, Schwedin, von der loyalistischen Propaganda-Abteilung beschäftigte Dolmetscherin und Fremdenführerin
Karol Swierczewski alias Oberst (manchmal General) Walter, in Polen geborener, in der Sowjetunion ausgebildeter Kommandant der Vierzehnten Internationalen Brigade
Gerta Pohorylle alias Gerda Taro, polnischstämmige, in Stuttgart geborene Fotografin
Es war der 18. Juli 1936. In Gando auf den Kanarischen Inseln bestieg ein untersetzter, zur Kahlheit neigender, stämmiger Mann in einem grauen Anzug, der sich im Besitz eines spanischen Diplomatenpasses auf den Namen José Antonio de Sagroniz befand, ein siebensitziges Passagierflugzeug des Typs de Havilland Dragon Rapide, das drei Tage zuvor in Gando gelandet war und seither auf der Rollbahn wartete. Man hatte das Flugzeug für die stolze Summe von 2000 Pfund (heute wären das 156 000 Dollar) gechartert; das Geld war anonym auf ein Sonderkonto der Kleinwort Bank in London eingezahlt worden, und die Maschine wurde unter schärfster Geheimhaltung vom englischen Flughafen Croydon Aerodrome auf die Kanaren geflogen. Sein Pilot Cecil Bebb, ein ehemaliger Offizier des britischen Militärgeheimdiensts, war angewiesen, sich der Identität seines Passagiers zu versichern, indem er diesem die untere Hälfte einer Spielkarte gab und von ihm verlangte, die obere Hälfte zu ergänzen – was eine recht absonderliche Anordnung gewesen wäre, wenn es sich bei dem Passagier um einen gewöhnlichen Diplomaten und bei diesem Flug um einen routinemäßigen Charterflug gehandelt hätte.
Tatsächlich war Bebbs Passagier kein anderer als Francisco Franco Bahamondo, mit seinen 44 Jahren der jüngste General in der spanischen Armee, ehemals Befehlshaber der Fremdenlegion während des verhängnisvollen Aufstands gegen die spanische und französische Herrschaft in Marokko. Als vehementer Kritiker der sozialistischen Regierung, die fünf Monate zuvor an die Macht gekommen war, wurde er von seinem Posten als Oberbefehlshaber der Streitkräfte entbunden und als Militärgouverneur auf die weit vom Zentrum der Macht abgelegenen Kanarischen Inseln versetzt worden. Und jetzt war er im Begriff, sein Exil auf den Kanarischen Inseln, das über 1500 Kilometer von Spanien entfernt war, zu verlassen, um sich mit seinen ehemaligen Truppen in Spanisch-Marokko wieder zu vereinigen, sie im Rahmen eines sorgfältig geplanten Militärcoups auf das Festland zu führen und Spaniens demokratisch gewählte Regierung zu stürzen.
Die Republik, deren Regierung Franco und seine Mitverschwörer zu Fall bringen wollten, existierte erst seit 1931. Damals hatten die ersten freien Wahlen in fast sechzig Jahren zur Abdankung von König Alfons XIII. geführt. Spanien war jahrhundertelang vom großgrundbesitzenden Landadel, von der katholischen Kirche und darüber hinaus in den letzten Jahrzehnten von der neu aufgekommenen Industrie-Oligarchie kontrolliert worden; in einem ersten Versuch, deren Macht zu brechen, hatte die im Dezember 1931 verabschiedete Verfassung der neuen Republik den Frauen das Wahlrecht zugestanden, die Ehescheidung legalisiert, die staatliche Förderung von Ordensgemeinschaften abgeschafft, die Schulpflicht eingeführt und die Autonomiebemühungen der sprachlich abweichenden und ehemals unabhängigen Landesteile unterstützt. »Endlich konnte das junge und zukunftsoffene Spanien vernehmlich seine Stimme erheben«, verkündeten die Republikaner. Allerdings war die Regierung in Fragen der praktischen Politik ungeübt. Es versammelten sich in ihren Reihen derart viele miteinander im Widerspruch stehende Elemente – von den reformfreudigen Sozialisten über konservative Monarchiegegner bis hin zu den radikalen Anarchisten und weiteren Zwischengruppen –, dass sich ein geschlossenes, einheitliches Vorgehen zur Lösung der chronischen Probleme Spaniens – kein Wahlrecht für Arbeiter, Analphabetismus, Armut und industrielle Rückständigkeit – als ein Ding der Unmöglichkeit erwies. Und die Gruppen mit massiven Eigeninteressen – das Heer, die Eigentümer ausgedehnter Landgüter, der sogenannten latifundias, die Minen- und Fabrikbesitzer und die Kirche – sahen in den meisten Reformmaßnahmen den Anfang einer kommunistischen Revolution, eine in den 1930er Jahren in Europa weit verbreitete Reaktion. Viele erhofften sich von der Vision der aufsteigenden faschistischen Führer Benito Mussolini und zunehmend auch Adolf Hitler eine Alternative.
Diese etablierten Mächte arbeiteten im Grunde von Anfang an gegen die Regierungspolitik. Es gab Berichte von latifundistas im Süden des Landes, die ihre Pachtbauern aushungerten, indem sie sich schlichtweg weigerten, Ackerland nutzen zu lassen, oder indem sie billigere Arbeitskräfte anheuerten; und man hörte von Arbeitern, die es gewagt hatten, sich zusammenzuschließen und zu streiken, und von der Bürgergarde attackiert wurden. Die konservative Presse machte es sich zur Gewohnheit, die Regierung als eine Bande aus jüdischen, bolschewikischen und freimaurerischen Ränkeschmieden zu diffamieren. Innerhalb der Armee, deren Grundeinstellung schon seit jeher konservativ und monarchistisch war und die den Bemühungen der neuen Regierung, die aufgeblähten Offiziersränge zurückzuschneiden, massiven Widerstand entgegensetzte, formierte sich eine kleine Gruppe von republikfeindlichen Verschwörern.
Die Anti-Republikaner profitierten von einer alten Reform-Paradoxie: Hat sich einmal ausreichend Druck für einen Wandel aufgebaut, dann reduziert es den Druck nicht, wenn man den Deckel nur ein wenig vom Kessel abhebt – im Gegenteil, der Inhalt wird dann erst richtig explodieren. Im ersten Jahr der Republik kam es zu Bauernaufständen, zur Brandschatzung von Kirchen und einer Anarchisten-Revolte; ein Klima der Furcht und des Aufruhrs breitete sich aus, und die Rechte wurde in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt. Obwohl es der Regierung noch gelang, im Spätsommer 1932 eine Meuterei von General José Sanjurjo niederzuschlagen, gewann die rechtsgerichtete katholische CEDA (Confederación Española de Derechas Autónomas) bei den Parlamentswahlen 1933 fast doppelt so viele Sitze im spanischen Parlament, den Cortes, wie die Sozialisten; und die Radikalen Republikaner, die sich von der Linken entfremdet hatten, vollzogen den Bruch nun endgültig und schlossen sich den anderen Anti-Republikanern in einer Koalition der Rechten an. Nun, da die Sozialisten nicht mehr an der Macht waren, befürchtete die sozialistische Gewerkschaft, die UGT (Unión General de Trabajadores), dass die neue Regierung die erst kürzlich durchgesetzten Reformen wieder rückgängig machen würde, und rief zu einem Generalstreik auf; und der Präsident der katalanischen Regionalversammlung erklärte das reiche, industrialisierte Katalonien zum autonomen Staat innerhalb der Republik. Dann brach im Oktober 1934 in Asturien ein bewaffneter Arbeiteraufstand los, in dem 30 000 Arbeiter Minen und Fabriken übernahmen, Anlagen zerstörten und Fabrikbesitzer und Priester töteten.
Der Mann, den die Regierung zu Hilfe rief, um die Aufstände niederzuschlagen, war der gerade erst zum Oberbefehlshaber der Streitkräfte beförderte Francisco Franco. Seine schlagkräftigste Waffe waren die Truppen, mit denen er die Rif-Rebellen in Marokko bezwungen hatte: die Söldner des Afrika-Heers, Soldaten, für die das Abschlachten anderer Menschen ein Job war und die nicht groß darüber nachdenken mussten, was es bedeutete, Mitbürger umzubringen, weil die Bergwerksarbeiter von Asturien für sie keine Mitbürger waren. Einem Journalisten gegenüber, der ihn zu seiner Asturien-Aktion befragte, erklärte Franco : »Der Krieg in Marokko hatte ein gewisses romantisches Flair, es war quasi eine Rückeroberung. Dieser Krieg aber ist ein Frontenkrieg, und die Fronten sind der Sozialismus, der Kommunismus und alles, was über die Zivilisation herfällt, um sie durch Barbarei zu ersetzen.« Nach vollendeter Rückeroberung waren ein- bis zweitausend Menschen tot, darunter auch rund 320 Angehörige von Militär oder Regierung.
In der Zeit nach den Ereignissen des Oktober 1934 wurden zahlreiche Politiker der Linken inhaftiert – einer von ihnen, Francisco Largo Caballero, nutzte seine Zeit im Gefängnis zum erstmaligen Studium der Werke von Marx und Lenin. Luís Companys, der Präsident der katalanischen Regionalversammlung, wurde zum Tod verurteilt. Alle Inhaftierten wurden letztlich wieder freigelassen – in dem verzweifelt-vergeblichen Versuch, in der Republik wieder eine Art Gleichgewicht herzustellen. Doch mittlerweile war zwischen der Rechten und der Linken offenbar nur noch ein Gleichgewicht des Verdachts und des Hasses möglich.
Im Februar 1936 traten in einem erbittert ausgetragenen Wahlkampf mit äußerst knappem Ausgang zwei Koalitionen gegeneinander an: eine linke Koalition – die sogenannte Volksfront – unter Leitung des ehemaligen Ministerpräsidenten Manuel Azaña, einem linksrepublikanischen Literaten (hier versammelten sich Sozialisten und Kommunisten), und die rechtsgerichtete Antirevolutionäre Koalition (die mitunter auch als Nationale Front bezeichnet wurde und einen losen Zusammenschluss aus CEDA und Monarchisten darstellte). Die Wogen der Emotionen schlugen hoch: Während des Wahlkampfs ermahnten Bischöfe die Katholiken, die Antirevolutionären zu wählen, andernfalls würden sie auf ewig in der Hölle schmoren; und Largo Caballero drohte mit Bürgerkrieg, sollte die Rechte gewinnen. Ähnliche Verlautbarungen kannte man von ihm zwar schon seit 1932, trotzdem trugen seine Kommentare nicht dazu bei, die Spannungen zu entschärfen. Die Volksfront trug den Sieg davon (mit einem Stimmenvorsprung von lediglich 1,1 Prozent, womit sie jedoch immerhin 263 Sitze von 473 in den Cortes errang), doch der hauchdünne Vorsprung untergrub gleich von Beginn an das Mandat der neuen Koalition. Als aufgeschreckte Investoren nun auch noch hohe Kapitalsummen aus dem Land abzogen, wurde die Wirtschaft des Landes, die bereits von den Auswirkungen der weltweiten Depression geschwächt war, bis ins Mark erschüttert. Die Cortes avancierten zum Schauplatz wütender Redegefechte, und durch die Ausbrüche von Gewalt bei den bewaffneten Milizen einer triumphierenden Linken und einer empörten, aggressiven Rechten verlagerte sich die Wut auch auf die Straße.
Vor diesem Hintergrund versuchte die Regierung, ein Programm durchzudrücken, das unter anderem Reformen beim Militär und in der Agrarwirtschaft sowie die Autonomie Kataloniens vorsah, außerdem die Befreiung der in den letzten Jahren festgenommenen politischen Gefangenen – und nun war es so weit, dass führende Persönlichkeiten der Rechten entschlossen im Geheimen mit unzufriedenen Generälen Gespräche über eine Machtergreifung aufnahmen. Spaniens Schicksal wurde auch jenseits seiner Grenzen mit wachsendem Interesse verfolgt: einerseits von den Menschen in Europa und den Vereinigten Staaten, die mit Sorge die Entwicklung Sowjetrusslands und seiner kommunistischen Revolution verfolgten und entsetzt erleben mussten, wie Hitler und Mussolini ihre Anhänger zu immer aggressiveren Aktionen gegen ihre Mitbürger und Nachbarn anstachelten – andererseits aber auch von den politischen Führern Deutschlands, Italiens und Russlands, die in Spanien ein Modell für ihre eigene Zukunft sahen.
Im Juni hatte sich Francisco Franco von seinem Posten auf den Kanarischen Inseln aus in einem Brief an den Ministerpräsidenten Santiago Casares Quiroga gewandt – ein unparteiischer Mann von asketischem Äußeren, der das Amt übernommen hatte, als Azaña Präsident wurde. Franco hatte Protest dagegen eingelegt, dass im Zuge von Säuberungsmaßnahmen, die die Regierung in militärischen Kreisen durchführte, einige seiner rechtsgerichteten Offizierskollegen entlassen worden waren. Franco warnte seinen Vorgesetzten, dieser setze durch die Aktionen der Regierung »die Disziplin der Armee« aufs Spiel; wenn allerdings er selbst, so sein Vorschlag, mit der obersten Verantwortung für das Militär betraut werde, dann sähe er sich durchaus in der Lage, dessen Loyalität zu gewährleisten. Casares Quiroga würdigte das Schreiben keiner Antwort.
Damit war die Bühne für einen sorgfältig durchgeplanten Militäraufstand vorbereitet: Er nahm in Melilla, Ceuta und Tetuán, den kolonialen Außenstellen in Spanisch-Marokko, seinen Anfang und setzte sich über die Militärstützpunkte auf dem spanischen Festland fort. Die Verschwörer planten offensichtlich eine schnelle Machtübernahme durch das Militär, keinen ausgedehnten Bürgerkrieg, der an die drei Jahre dauern sollte, in dessen Verlauf fast vierhunderttausend Menschen ihr Leben lassen sollten und Siedlungen, Dörfer und große Teile von Städten zerstört wurden, einem Krieg, in dem Tausende Bürger für Jahrzehnte in politischen Gefängnissen verschwanden, einem Krieg, der die Wirtschaft des Landes lahmlegte und in der Seele des Landes Narben hinterließ, die noch 75 Jahre später nicht aufgehört haben zu schmerzen. Was sie allerdings – auch unter Einsatz von Gewalt – planten, war der Sturz der offiziell und demokratisch gewählten Regierung ihres Landes, die durch eine von ihnen allein bestimmte Regierung ersetzt werden sollte.
Und so öffnete Francisco Franco, als die gecharterte Dragon Rapide in den Luftraum des spanischen Kolonialgebiets eindrang, seinen Koffer und tauschte seinen grauen Geschäftsanzug gegen eine Khaki-Uniform. Um seine Hüften schlang er die Schärpe mit roten und goldenen Quasten, die ihn als General der spanischen Armee kenntlich machte. Kurz darauf landete das Flugzeug auf der Rollbahn von Tetuán, wo bereits Rebellentruppen den Flugplatz gestürmt und gesichert hatten, und Franco fuhr in einem Wagenkonvoi zwischen Reihen salutierender maurischer Soldaten zum Büro des Hochkommissars. Wenig später hörte die gesamte Welt seine Verlautbarung:
Ein weiteres Mal sah die Armee zusammen mit den anderen Streitkräften der Nation sich genötigt, dem Wunsch der großen Mehrheit der Spanier zu entsprechen, welche mit unendlicher Bitterkeit den Untergang dessen beobachten mussten, was uns in einem gemeinsamen Ideal vereint: SPANIEN. Jetzt geht es darum, die Herrschaft der ORDNUNG in der REPUBLIK wieder aufzurichten … [sowie] das Prinzip der AUTORITÄT, das in den vergangenen Jahren in Vergessenheit geraten ist …
Um diese Aufgaben rasch umzusetzen,
ordne ich an und befehle:
Artikel 1. Für das gesamte Staatsgebiet wird das Kriegsrecht ausgerufen, und infolgedessen werden sämtliche Streitkräfte in Kampfbereitschaft versetzt …
Zehn Tage später gelang es dem amerikanischen Journalisten Jay Allen, der sich zu Beginn des Aufstands in Gibraltar aufhielt, nach Tetuán zu kommen und Franco im Gebäude des Hochkommissars zu interviewen. »Ein Kompromiss oder ein Waffenstillstand ist ausgeschlossen«, sagte der General zu Allen. »Ich werde vorrücken. Ich werde die Hauptstadt einnehmen. Ich werde Spanien vor dem Marxismus retten – koste es, was es wolle.«
Allen hakte nach: »Das bedeutet wohl, Sie werden halb Spanien exekutieren müssen?«
Franco lächelte. »Wie ich schon sagte: Koste es, was es wolle.«
Der Spanische Bürgerkrieg hatte begonnen.
»SIE SIND HIER,
WEIL ES UM IHR LEBEN GEHT«
Arturo Barea lag auf dem braunen, mit Kiefernadeln bedeckten Waldboden der Sierra de Guadarrama im Nordwesten von Madrid, sein Kopf ruhte im Schoß seiner Geliebten. Es war heller Nachmittag am Sonntag, dem 19. Juli, und in der nach Harz riechenden Luft lag der Gesang der Zikaden. Der große, hagere Barea, die Haare streng nach hinten gekämmt, hatte die Augen eines Heiligen von El Greco und einen sinnlichen Mund. Benommen von der Hitze, dem Wein, den Maria und er zu ihrem Picknick getrunken hatten, und dem anschließenden Sex sehnte er sich danach, einfach nur die Augen zu schließen und sich seiner Schläfrigkeit zu überlassen. Maria aber hatte anderes im Sinn. Sie wollte reden. Diesmal ausnahmsweise nicht über ihren dringenden Wunsch, dass er seine Ehefrau und seine Kinder verlassen und eine ehrenwerte Frau aus ihr machen möge, nachdem sie sechs Jahre lang seine Sekretärin und gelegentliche Bettgenossin gewesen war – ein Thema, das meistens zu nichts als Tränen führte. Heute wollte sie wissen, wo Barea in der Nacht zuvor, die ganze Nacht über, gewesen war: Was er gemacht hatte, als er weder zu Hause noch bei ihr im Bett gewesen war. Die Ereignisse und Eindrücke der letzten zwölf Stunden waren allerdings noch zu frisch, zu unverarbeitet, als dass er darüber hätte reden wollen. Er hatte das Gefühl, dass ihm das Gleichgewicht seines Lebens unwiderruflich aus den Händen glitt, und war zu erschöpft, um sich mit den Folgen auseinanderzusetzen.
Das Leben des 38-jährigen Barea war ein sorgfältig austarierter Balanceakt. Er war in armen Verhältnissen aufgewachsen: Sein Vater, ein Musterungsoffizier bei der Armee, war mit vierzig Jahren gestorben und hatte seiner Familie keinen Peso hinterlassen; seine Mutter musste im Fluss Manzanares die schmutzige Wäsche von Soldaten waschen – an kalten Wintertagen brach sie morgens mit ihrem Wäschestampfer das Eis auf. Außerdem arbeitete sie als Dienstbotin für ihren gut situierten Bruder, um ihren Kindern das Los zu ersparen, im Waisenhaus zu landen. Der Bruder hatte am kleinen Arturo einen Narren gefressen, er schickte ihn in die Escuela Pía, damit er eine Schulbildung bekam, lud ihn in den Zirkus und ins Kino ein, kaufte ihm Bücher an den Ständen an der Plaza de Callao und bestärkte ihn in seinen Träumen, Maschinenbau zu studieren. Weniger begeistert war er von den literarischen Ambitionen, die Arturos zahlreiche Beiträge zur Schulzeitung Madrileñitos beflügelten. Aber dann starb auch dieser Bruder, und seine Witwe wollte mit ihrer Schwägerin und deren Kindern nichts mehr zu tun haben. Arturo, noch immer ein schlaksiger Teenager, musste also arbeiten gehen. Zunächst war er als Lehrling bei einem Juwelier tätig, dann, nach dem erfolgreichen Abschluss einer Buchhalterausbildung, als Angestellter in der Madrider Filiale der Crédit Lyonnais.
Das Lernen fiel ihm leicht, und es dauerte nicht lang, bis er erfreuliche Veränderungen an seinen anfangs bescheidenen monatlichen Gehaltszahlungen feststellte; wäre er bereit gewesen, sich bei seinen Vorgesetzten anzubiedern, hätte er schnell die Karriereleiter in der Bank hochsteigen können. Aber er war stolz und leicht erregbar – eine gefährliche Mischung – und litt unter dem Hochmut seiner Chefs, während er sich gleichzeitig seiner niedrigen Herkunft schämte, die seine Vorgesetzten, wie er genau wusste, verachteten. Eine Zeitlang liebäugelte er mit einer ganz anders gearteten Option, dem Schreiben, aber es schien nirgendwohin zu führen, dass er Prosastücke an Madrider Wochenzeitungen schickte und als Zaungast an den tertulias teilnahm, den freigeistigen Diskussionen in diversen literarischen Cafés. Mit zwanzig Jahren trat er in die Sozialistische Gewerkschaft UGT ein, und obwohl er sich fehl am Platze fühlte, wenn er bei den Gewerkschaftstreffen in Anzug und Krawatte erschien, verspürte er mit den Arbeitern in ihren einfachen Jacken und hanfbesohlten Schuhen größere Solidarität als mit den Bankdirektoren in ihren Gehröcken, die ihn herablassend durch ihr Monokel musterten. Die gönnerhafte Art seiner Vorgesetzten in Verbindung mit seiner eigenen Abscheu vor dem, was er als unrechtmäßige Bereicherung empfand, führte schließlich dazu, dass er noch am selben Tag des Jahres 1914, als der Erste Weltkrieg ausbrach, fluchtartig die von ihm als »Schweinestall« bezeichnete Bank verließ. Obwohl er später erstaunlicherweise selbst eine leitende Position in einem Patentanwalts-Büro im trendigsten Teil der Calle de Alcalá innehatte, wurde kein Bonze aus ihm, vielmehr blieb er auf der Seite der Arbeiter. »Als Kapitalist bin ich eine Fehlbesetzung«, sagte er später.
Nicht dass er über sein Kapitalistensalär und die damit verbundene goldene cédula personal unglücklich gewesen wäre, den Personalausweis, der zum Ausdruck brachte, dass er sich auf der Einkommensleiter ziemlich weit oben befand. Aber er bestand darauf, mit seiner Familie eine große Wohnung in einer der engen, gewundenen Straßen in Lavapiés zu beziehen, dem Arbeiterviertel, in dem er aufgewachsen war, und nicht in einem der großbürgerlichen Distrikte, nach denen sich seine Ehefrau Aurelia so sehnte. Ihm gefiel die Vorstellung, in beiden Welten zu leben und doch zu keiner zu gehören, was er zum Teil der Tatsache verdankte, dass er sich aus den politischen Streitigkeiten des zurückliegenden Jahrzehnts herausgehalten hatte. Gut, er hatte sich 1931 den Sozialisten angeschlossen, als die neue Republik ausgerufen wurde, einem Freund dabei geholfen, eine neue Gewerkschaft für Büroangestellte zu organisieren; ansonsten hatte er sich – sogar während des bienio negro, der beiden dunklen Jahre nach dem Wahlsieg der Rechten 1934 – aus den politischen Debatten herausgehalten. Er kritisierte zwar die Korruption und Ausbeutung, die ihm in seiner Eigenschaft als Patentanwalt häufig auffielen, doch er empfand sich als ein zu unbedeutendes Rädchen im Wirtschaftsgetriebe, um dagegen irgendetwas unternehmen zu können.
Die Wahlen im vergangenen Februar hatten ihn dann aber doch motiviert, aktiv zu werden. Er hatte in dem Dorf außerhalb von Madrid, wo er mit seiner Familie immer die Wochenenden verbrachte, ein Volksfront-Komitee gegründet, was den dortigen Landbesitzern und den Offizieren der Guardia Civil, der Polizeitruppe auf Kreisebene, die häufig als Handlanger der Oberschicht fungierte, nicht verborgen blieb. Als sich in den Monaten danach die politische Situation immer weiter verschlimmerte, mit Schlägereien, Schießereien und Gerüchten über Aufstände und Gegenaufstände, und in der Ermordung eines sozialistischen Leutnants der Sturmgarde, José de Castillo, und kurz danach des Führers der faschistischen Opposition José Calvo Sotelo in der Woche zuvor kulminierte, war Barea klar geworden, dass er sich nun für eine Seite entscheiden musste.
Trotzdem war er auf das, was in der letzten Nacht geschehen war, nicht vorbereitet. Die Stadt Madrid war bereits den ganzen Tag in Alarmbereitschaft gewesen, alle hatten fieberhaft auf Neuigkeiten aus dem Radio gewartet – was nicht schwer war, da die Regierung an jeder Straßenecke Lautsprecher aufgestellt hatte –, und zwischen nordamerikanische Tanzmusik wurden immer wieder fragmentarische Meldungen eingestreut, die von Meutereien in einzelnen Militärgarnisonen berichteten. Kein Grund zur Panik; die Regierung hat die Lage im Griff. Aber es gingen Gerüchte um, und dann kamen Meldungen von einem weiteren Ausbruch, und dann noch einem. Offenbar wurde in Barcelona schon auf den Straßen gekämpft. Die Leute fingen an, sich in Bars und Cafés und auf den Straßen zusammenzurotten. Was würde geschehen, wenn die Regierung die Lage nicht mehr im Griff hatte? Was, wenn diese Aufstände der Anfang einer Säuberungsaktion gegen die Linke waren wie damals Francos Aktion in Asturien? Wenn das Militär gegen gewöhnliche Bürger vorging, wer würde sie dann beschützen? Nach dem Abendessen mit seiner Familie ging Barea durch die Calle del Ave Maria in Emilianos Bar, sein Stammlokal, wo aus dem Radio Tommy Dorseys »The Music Goes Round and Round« dröhnte und die Leute schreien mussten, um sich verständlich zu machen. Er hatte eben einen Kaffee bestellt, als wieder die Stimme des Nachrichtensprechers ertönte: Die Situation hat sich verschärft. Gewerkschafter und Mitglieder politischer Vereinigungen werden aufgefordert, sich sofort in ihren Hauptquartieren zu melden.
In Sekundenschnelle leerte sich die Bar. Aufgeschreckte Arbeiter, die befürchteten, dass die in einer der Garnisonen rund um die Stadt stationierten Truppen das Feuer auf sie eröffnen würden, gingen auf die Straße und forderten Waffen zur Selbstverteidigung. Barea hatte sich einen Weg durch die Menge zur Zentrale der Sozialisten in der Casa del Pueblo im Stadtteil Chueca gebahnt, am anderen Ende der Gran Via, wo zahlreiche Freiwillige aus der Gewerkschaft lautstark verlangten, sich als Verteidigungstrupp formieren zu dürfen. Barea stand der Sinn nicht nach Kämpfen – vier Jahre Militärdienst in Marokko zur Zeit der Rif-Rebellion hatten ihn davon kuriert. Immer noch hatte er den Gestank der verwesenden Leichen in der Nase, die er bei seiner Ankunft in der belagerten Stadt Melilla gesehen hatte. Noch weniger konnte er sich aber eine Aussöhnung vorstellen, und einen Sieg der Faschisten war das Letzte, was er wollte. Er blieb also die ganze Nacht in der Casa del Pueblo und brachte Männern, die in ihrem ganzen Leben noch kein Gewehr in der Hand gehabt hatten, bei, wie man eine alte Mauser – dasselbe Modell, das er im Pionierbattalion getragen hatte – lädt und abfeuert. Wenn die Faschisten Madrid einnehmen wollten, dann mussten sie sich auf Gegenwehr gefasst machen – zumindest dann, wenn die Regierung beschließen sollte, Waffen auszugeben, damit die Männer der Bürgerwehr in der Lage waren, zu kämpfen.
In der Zwischenzeit hatte sich die Regierung zu einer Notfallberatung getroffen, hatte sich aufgelöst, wieder getroffen und neu formiert. Einige Minister plädierten für einen Kompromiss mit den Rebellen, andere für einen Gegenschlag, und schließlich erging noch vor Sonnenaufgang die Verlautbarung: »Die Regierung hat die Kriegserklärung der Faschisten gegen das spanische Volk angenommen.« In der Casa del Pueblo brach Jubel aus; dann ging am wolkenlosen Horizont die Sonne auf, die Versammlung zerstreute sich, und jeder ging nach Hause oder ins Café, um zu frühstücken. Als Barea die Casa del Pueblo verließ, waren die Straßen still und verlassen – scheinbar der Anfang eines heißen Sommersonntags wie viele andere. Barea wagte zu hoffen, dass die Rebellen jetzt vielleicht einlenkten und das Leben wieder in seine gewohnten Bahnen zurückkehrte – wie auch immer das aussehen würde. Da ihm nichts Besseres einfiel, beschloss er, mit Maria einen Ausflug in die Sierra zu machen. Das hatte er ihr am Freitag – vor einer Ewigkeit – versprochen.
Mittlerweile bedauerte er diese Entscheidung: Er fragte sich, was in der Hauptstadt und im übrigen Land seit dem Morgen wohl passiert war; leider war Maria aber nicht die Person, mit der er seine Sorgen teilen konnte. Als sie vor sechs Jahren zum ersten Mal als Mitarbeiterin in seinem Patentbüro aufgetaucht war, hatte er gehofft, mit ihr über seine Ideen, Überzeugungen und Hoffnungen reden zu können, was mit seiner Frau Aurelia nicht möglich war. Für Aurelia war seine politische Einstellung ein Hindernis auf dem Weg zu den gesellschaftlichen Beziehungen, die sie gern geknüpft hätte, außerdem war sie der Auffassung, es sei eines Mannes nicht würdig, in seiner Frau mehr zu sehen als eine Bettgefährtin. Also hatte er seine Sekretärin Maria zu seiner Vertrauten gemacht, doch obwohl die vertraulichen Gespräche sich bald in Schäferstündchen verwandelten und Maria zu seiner Geliebten wurde, hatte Aurelia die Verhältnisse ignoriert. Ihrer Meinung nach konnte ein Mann ruhig seine Affären haben, solange daraus nur keine unehelichen Kinder hervorgingen. Maria hatte jedoch keinerlei Interesse daran, Bareas Vertraute zu sein; sie wollte einfach nur Aurelias Platz einnehmen. Und nun hatte Barea, wie er verdrossen feststellen musste, mit zwei Frauen eine intime Beziehung, ohne auch nur in eine von beiden verliebt zu sein.
Barea stand auf, entnervt von dieser Feststellung und außerdem in Sorge darüber, was draußen in der Welt, jenseits ihres lauschigen Waldfleckchens, passierte. Er sagte, um fünf werde ein Zug in die Stadt fahren, und den wolle er erreichen. Schmollend ging Maria neben ihm den Hügel hinunter in das kleine Dorf im Tal. Dort kehrten sie noch auf ein Bier im Bahnhofscafé ein, und Barea unterhielt sich kurz mit einem Bekannten, den er dort antraf, einem Buchdrucker, den er bei Zusammenkünften der Sozialistischen Partei kennengelernt hatte und der aus Gesundheitsgründen die Sommermonate hier im Dorf verbrachte. Ein paar Offiziere der Guardia Civil saßen mit offenen Mänteln am Fenster und spielten Karten, ihre lackledernen Dreispitz-Hüte lagen vor ihnen auf dem Tisch. Als Barea und Maria das Café verlassen wollten, um ihren Zug zu besteigen, stand einer von ihnen auf, knöpfte seinen Mantel zu und folgte ihnen hinaus auf die Straße. Er stellte sich ihnen in den Weg, verlangte Bareas Papiere zu sehen – und war sichtlich überrascht von der goldenen cédula. Argwöhnisch fragte er nach, wie es möglich war, dass ein señorito wie Barea jemanden von der Roten Union wie den Buchdrucker kannte. Barea hatte irgendwie das Gefühl, dass es wohl besser war zu lügen, und gab an, sie würden sich aus ihrer Kindheit kennen, woraufhin der Offizier ihn zwar nach Waffen abtastete, dann aber mit Maria gehen ließ.
Später sollte Barea erfahren, wie knapp er einem grausamen Schicksal entgangen war: Am nächsten Tag eroberte die Guardia Civil das Dorf im Namen der Rebellen und erschoss seinen Bekannten am Straßenrand. Als der Zug in den Madrider Nordbahnhof einfuhr, war ihm lediglich klar, dass die Stadt sich radikal verwandelt hatte. Außerhalb des Bahnhofs war der Verkehr fast zum Erliegen gekommen. In die eine Richtung bewegten sich LKWs voll mit singenden Gewerkschaftern, in die andere Richtung fuhren teure Autos, in denen sich wohlhabende Madrileños mit Sack und Pack Richtung Norden und französische Grenze aus dem Staub machten. Allenthalben waren Straßensperren errichtet. Die Leute grüßten offizielle Regierungsautos mit erhobener Faust, und bewaffnete milicianos verlangten an jeder Straßenecke Einblick in Bareas und Marias Papiere. Über allem hing eine ätzende Rauchwolke, deren Ursprung er erst entdeckte, nachdem er Maria in ihre Wohnung gebracht hatte, in der sie mit ihrer Mutter, ihrem Bruder und ihrer jüngeren Schwester lebte, und in die Calle del Ave Maria weiterhetzte. Dort sah er, dass die benachbarten Kirchen, auch diejenige, die zur Escuela Pía, seiner ehemaligen Schule, gehörte, in Flammen standen. Davor hatten sich Menschenmengen eingefunden, die in Jubelrufe ausbrachen, wenn die alten Steine in den Flammen zischten und barsten und Kuppeln und Türme in sich zusammenbrachen. Einige Schaulustige erklärten ihm, Faschisten hätten von den Kirchtürmen aus auf das Volk geschossen oder in den Sakristeien Waffen gelagert; und einer meinte, indem er sich der volkstümlichen Bezeichnung für die Priester in ihren dunklen Soutanen bediente: »Es gibt doch sowieso zu viele von diesen schwarzen Käfern.« Nicht dass Barea allzu große Sympathie für die organisierte Kirche empfunden hätte – für ihre enge Beziehung zu den Großgrundbesitzern, den wohlhabenden Bankiers und Reedern; für ihren selbstverständlichen Reichtum in einem so armen Land; für ihre anti-intellektuelle, engstirnige Rechtgläubigkeit –, doch diese massive Zerstörungswut bereitete ihm Unbehagen. Schweren Herzens begab er sich nach Hause zu Aurelia und den Kindern.
Am nächsten Morgen wurde er in aller Frühe von Schüssen auf der Straße geweckt. Er eilte nach unten und erfuhr, dass sich im Lauf der Nacht eine riesige Menschenmenge um die Montaña-Kaserne versammelt hatte, eine Festung oberhalb des Manzanares, gut eine Meile westlich der Stadt, in der sich Offiziere der Aufständischen mit 5000 Soldaten und einem großen Bestand an Waffen verschanzt hatten. Man nahm an, dass die Offiziere sich mit anderen von Aufständischen besetzten Garnisonen abgesprochen hatten, um einen koordinierten Angriff auf die Hauptstadt zu unternehmen. Mittlerweile aber hatten Luftwaffenoffiziere, die auf der Seite der Republik standen, mit der Bombardierung der Kasernen begonnen, und auf Bierlastwagen montierte Kanonen nahmen die Mauern unter Beschuss. Barea war voller Sorge über den weiteren Fortgang der Dinge, wollte aber auch wissen, was dort nun genau geschah, und ließ sich von einigen milicianos in die Calle de Ferraz mitnehmen, die am Truppenübungsplatz der Kaserne entlangführte. Dort war er sechzehn Jahre zuvor als Rekrut für den Einsatz in Marokko gedrillt worden.
Um die Festung herum hatte sich eine Menschenmenge versammelt, die seinem Eindruck nach mehrere Tausend Menschen umfasste; die Luft war von Gewehrschüssen und dem explosiven Geknatter der Maschinengewehre erfüllt. Schnell duckte er sich hinter einen Baum – und merkte plötzlich, wie wahnwitzig es war, hier ohne Waffe aufzutauchen. Andererseits konnte er sich auch nicht vorstellen, irgendwo anders zu sein, jetzt, da so viel auf dem Spiel stand. Direkt vor ihm waren zwei Männer in einen heftigen Disput verwickelt: Es ging um die Frage, wer jetzt an der Reihe war, mit einem alten Revolver auf die massiven Mauern der Kaserne zu feuern. Etwas weiter entfernt gab ein Offizier der Sturmgarden, einer Abteilung der städtischen Polizei, die Anordnung, ein 75-Millimeter-Feldgeschütz an immer wieder anderen Stellen zu platzieren, damit die Rebellen in der Festung den Eindruck bekamen, ihre Angreifer damit über mehr Kanonen, als es tatsächlich der Fall war. Plötzlich erschien in einem der Kasernenfenster eine weiße Fahne; die Menge, in der Erwartung, die Rebellen würden aufgeben, bewegte sich vorwärts, und Barea wurde mitgezogen. Doch genauso plötzlich brach von den Mauern herunter Maschinengewehrfeuer los; zu beiden Seiten Bareas sackten Angreifer in sich zusammen und fielen zu Boden. Die Menschen schrien, rannten zurück, formierten sich neu. Und dann, es war kaum zu glauben, wandten sie sich wieder wie ein Mann um und warfen sich mit einem riesigen Rammbock gegen die Kasernentore, die unter dem Ansturm krachend nachgaben.
milicianos