Für Kathy, Drew und Joanie
Teil 1
DER CODE
1. Kapitel
Gregor drückte den Rücken auf den kalten Steinfußboden, als er zu den Worten an der Decke hinaufstarrte. Seine Augen und seine Haut brannten noch immer von der vulkanischen Asche, die ihn vor ein paar Stunden eingehüllt hatte. Es stach so sehr in der Lunge und sein Herz schlug so schnell, dass er kaum atmen konnte. Um sich zu beruhigen, umklammerte er den Griff seines neuen Schwerts noch fester.
Er hatte das Schwert aus dem Museum geholt und war dann sofort in diesen Raum gestürmt. Jeder Zentimeter hier – Boden, Decke und Wände – war mit Prophezeiungen über das Unterland bedeckt, diese düstere, kriegerische Welt tief unter der Stadt New York, die Gregor das ganze letzte Jahr in Atem gehalten hatte. Bartholomäus von Sandwich, der Gründer der Menschenstadt Regalia, hatte die Prophezeiungen vor rund vierhundert Jahren hier eingeritzt. Größtenteils bezogen sie sich auf die Menschen in Regalia, aber auch die riesenhaften Wesen in den benachbarten Gebieten kamen darin vor – die Fledermäuse, Kakerlaken, Spinnen, Mäuse und vor allem die Ratten. Ach ja, und Gregor natürlich. Ziemlich viele handelten von Gregor. Aber er wurde nicht mit seinem Namen genannt. In den Prophezeiungen war er immer »der Krieger«.
Gregor hatte niemandem erlaubt, ihn hierher zu begleiten. Wenn er diese Prophezeiung zum ersten Mal las, wollte er ganz allein sein. So, wie sie sich in den letzten Monaten alle bemüht hatten, den Inhalt vor ihm geheim zu halten, musste es etwas sehr Schlimmes sein. Und er wollte nicht, dass ihn jemand beobachtete, wenn er es zum ersten Mal sah. Wenn er weinen musste, wollte er weinen. Wenn er schreien musste, wollte er schreien. Aber dann kam es ganz anders, denn er reagierte fast überhaupt nicht.
Ich muss mich dieser Sache stellen, sagte er sich. Ich muss sie verstehen. Also zwang er sich, die säuberlich eingemeißelten Worte noch einmal genau zu betrachten.
Als er sie zum zweiten Mal las, war ihm, als hörte er beim Lesen eine Uhr ticken. Schließlich war es ja auch die »Prophezeiung der Zeit«.
Tick tack tick tack tick tack tick tack tick tack tick tack tick tack …
Den Krieg habt ihr begonnen
Verbündete gewonnen
den Schlüssel findet nun zum Code
Sonst ist es euer sicherer Tod.
Die Zeit ist bald um
ist bald um
ist bald um.
Mein Schwert muss bei dem Krieger sein
Nur so könnt ihr die Sieger sein
Doch vergesst niemals das Tick
Und das Klick-klick-klick.
Gebt auf die Rattenpfote acht
mit ihr halten sie die macht.
Denn die Pfote ist der Bote
In dem Krallencode.
Die Zeit steht still
steht still
steht still.
Der Prinzessin kann’s gelingen
Dieses Rätsel zu bezwingen
Studieren muss sie und vergleichen
Das Kratzen, Kratzen, Kratzen
Hinterlistiger Rattentatzen
Denn der Name stellt die Weichen.
Mit einem Blick sah sie den Trick
In dem Klick-klick-klick.
Die Zeit läuft zurück
läuft zurück
läuft zurück.
Fliesst das Blut des Monsters rot
Ist der Krieger endlich tot
So hört dennoch auf das Pock
Und das Tick-tack-tock.
Wollt ihr schlafen, wollt ihr warten
Haben die Nager die besseren Karten.
Dann sind sie die Herrscher im Land
Und ihr für alle Zeit verbannt.
Mit dem letzten Wort hörte auch das Ticken auf.
Gregor schloss die Augen, als die eine Zeile in seinem Kopf hämmerte:
Ist der Krieger endlich tot
Das waren die entscheidenden Worte. Über die niemand mit ihm sprechen wollte.
Ist der Krieger endlich tot
Nicht einmal Ripred – und der war es bestimmt gewohnt, schlechte Nachrichten zu überbringen, nach all den Jahren, die er im Krieg gekämpft hatte.
Ist der Krieger endlich tot
Nicht einmal Luxa – die erst zwölf war und doch viel älter wirkte, weil sie die Königin war und ihre Eltern verloren hatte. Was hatte sie vor wenigen Stunden an der Klippe zu ihm gesagt? »Solltest du nach Hause zurückkehren, nachdem du die Prophezeiung gelesen hast, so könnte ich es dir nicht verdenken.«
Stimmt das, Luxa?, dachte Gregor. Würdest du es mir wirklich nicht übel nehmen? Denn wenn es andersherum wäre … nicht in hunderttausend Jahren würde ich dir verzeihen.
Ist der Krieger endlich tot
Theoretisch könnte Gregor natürlich nach Hause zurückkehren. Könnte sich seine dreijährige Schwester Boots schnappen, seine Mutter aus dem Krankenhaus holen, wo sie sich von der Pest erholte, und sich von seiner Fledermaus Ares in den Wäschekeller ihres Hauses in New York zurückfliegen lassen. Ares, mit dem er verbunden war, der ihm unzählige Male das Leben gerettet hatte und der, seit er Gregor kannte, nur gelitten hatte. Gregor versuchte sich den Abschied vorzustellen. »Ares, es war echt super bei euch. Jetzt muss ich wieder nach Hause. Ich weiß, dass damit alle, die mir hier unten geholfen haben, zum Untergang verdammt sind, aber diese Kämpferei hier ist einfach nicht so mein Ding. Also dann, fliege hoch, alles klar?«
Nicht sehr wahrscheinlich.
Ist der Krieger endlich tot
Es kam ihm so unwirklich vor. Alles. Vielleicht lag es daran, dass er so müde war. Er hatte seit Tagen nicht geschlafen. Seit er in den Feuerländern gesehen hatte, wie die Ratten Hunderte von Mäusen in einer Grube am Fuß eines Vulkans ermordet hatten. Von den giftigen Dämpfen, die bei dem Vulkanausbruch ausgetreten waren, war er eine Weile bewusstlos gewesen. Zählte das als Schlaf? Vielleicht. Aber schon bald war er wieder zu sich gekommen, war durch hohe Asche gestapft und hatte seine Freunde gesucht. Und ehe er sich darüber freuen konnte, dass er sie gefunden hatte, musste er schon erfahren, dass Thalia, die niedliche kleine Fledermaus, die nur rein zufällig auf dieser unglückseligen Reise dabei war, auf der Flucht vor dem Vulkan erstickt war. Hazard, Luxas siebenjähriger Cousin, hatte sich mit Thalia verbinden wollen, und er war so außer sich, dass sie ihm ein Beruhigungsmittel geben mussten. Später, als sie auf einer Klippe hoch über dem Dschungel endlich saubere Luft fanden, meldete Gregor sich freiwillig zur Wache, während die anderen sich ausruhten. Auf dem Heimflug saß Gregor mit Boots, Hazard, dem Kakerlak Temp und Cartesian, einem Mäuserich, den sie ruhig gestellt hatten, auf Ares und konnte kein Auge zutun. Jetzt war er wie betäubt …
Ist der Krieger endlich tot
Und wenn er die Prophezeiung las, empfand er rein gar nichts. Was ist mit mir los?, überlegte Gregor. Ich müsste doch eigentlich ausrasten. Natürlich, ja. Aber nach allem, was passiert war, fühlte er sich leer. Der Schreck kommt bestimmt später, dachte er. Vielleicht in ein paar Tagen. Wenn ich dann noch lebe …
Die Prophezeiung war schrecklich, aber sie hätte noch schlimmer sein können, fand Gregor. Immerhin sah es so aus, als könnten Boots und seine Mutter heil aus dem Unterland rauskommen. Und offenbar spielte Boots, die unter den Riesenkakerlaken als »Prinzessin« bekannt war, eine entscheidende Rolle beim Entschlüsseln des Krallencodes. Davon, dass außer Gregor irgendwer sterben sollte, war in der Prophezeiung nicht die Rede.
Oder ja, doch.
Fliesst das Blut des Monsters rot
Nach allem, was Gregor in den letzten Tagen mit angesehen hatte, konnte mit dem Monster nur der Fluch gemeint sein. Die gigantische weiße Ratte, die er, als sie noch ein Baby gewesen war, verschont hatte, war jetzt ein bösartiger Anführer, voller Hass und ziemlich wirr im Kopf. Das Leben hatte aus dem zarten Rattenbaby ein Monster gemacht, und jetzt war dem Fluch nicht mehr zu helfen. Er hatte den Befehl erteilt, die Mäuse zu vernichten, und keiner wusste, was er als Nächstes vorhatte. Man musste ihn aufhalten. Im Überland würde man ihn wahrscheinlich lebenslang ins Gefängnis stecken. Im Unterland kam das nicht infrage. Hier musste man ihn umbringen.
Ich sollte mich allmählich aufraffen, dachte Gregor. Zumindest mal was essen. Nicht mehr lange, dann würde eine Rattenarmee hier einfallen. Ares war auf dem Weg nach Regalia über sie hinweggeflogen. Gregor musste sich bereithalten. Er wusste, dass er kämpfen musste.
Aber er war wie erstarrt, als wäre auch er zu Stein geworden. Er erinnerte sich an etwas, das er auf einer Exkursion zu The Cloisters in New York gesehen hatte. The Cloisters war ein altes Museum mit lauter Sachen aus dem Mittelalter. In einem Raum waren ganz viele Gräber zu sehen. Auf jedem Grab war eine lebensgroße Statue des Toten aus Stein. Ein Mann – war es ein Ritter gewesen? – hatte die Hände über dem Griff seines Schwerts gefaltet. Er hatte fast genauso dagelegen wie Gregor jetzt. Das bin ich, dachte Gregor. Das bin ich. Ich bin zu Stein geworden und ich bin so gut wie tot. Wie passend, dass Sandwich die Prophezeiung der Zeit mitten an die Decke gemeißelt hatte, sodass Gregor daliegen musste wie jetzt, um sie zu lesen. Und wie passend, dass das Schwert unter Gregors Händen einmal Sandwich gehört hatte und jetzt seine Visionen wahr machen würde. Wie schrecklich passend das alles war.
Leise ging die Tür auf und Schritte kamen näher.
»Gregor? Wie ist dir?«, fragte Vikus. Der alte Mann klang erschöpft, so erschöpft, wie Gregor sich fühlte. Wahrscheinlich hatte auch Vikus nicht viel geschlafen. Als Vorsitzender des Rats von Regalia war er sowieso immer überarbeitet. Gegen seine Frau Solovet, bis vor Kurzem Oberbefehlshaberin der Armee, sollte Anklage erhoben werden, weil sie für ein Forschungsprojekt verantwortlich war, das eine Pest ausgelöst hatte; und Luxa, Vikus’ Enkelin, war in den Feuerländern in großer Gefahr. Nein, Vikus fand bestimmt nicht viel Ruhe.
»Mir? Mir geht es gut«, sagte Gregor gelassen. »Könnte gar nicht besser sein.«
»Was sagst du zu der Prophezeiung der Zeit?«, fragte Vikus.
»Sie ist sehr eingängig«, sagte Gregor und erhob sich langsam, unter Schmerzen. Auf der letzten Reise hatte er sich am Knie verletzt.
»Ich kam, um dich daran zu erinnern, wie leicht Sandwichs Prophezeiungen falsch gedeutet werden können«, sagte Vikus.
Gregor zog das Schwert aus dem Gürtel und zeigte mit der Spitze auf die Zeile, die von seinem Tod handelte. »Das hier? Du meinst, das könnte man falsch deuten?«
Vikus zögerte. »Möglich ist es.«
»Also, mir scheint das ziemlich eindeutig zu sein«, sagte Gregor.
»Glaube mir, Gregor, könnte ich an deine Stelle treten, könnte ich die Prophezeiung selbst erfüllen … ich würde es augenblicklich tun …« Vikus’ Augen füllten sich mit Tränen.
Trotz seiner eigenen Lage empfand Gregor Mitleid. Das Leben hatte Vikus ganz schön übel mitgespielt. »Hör mal, ich hätte hier unten schon fünfzig Mal umkommen können. Es ist ein Wunder, dass ich überhaupt noch lebe.« Wenn Vikus schon so mitgenommen war, wie würde Gregors Familie erst reagieren? Das wollte er lieber gar nicht wissen. »Sag meiner Muter nichts davon. Oder meinem Vater. Keiner aus meiner Familie darf es erfahren. Okay?«
Vikus nickte.
Als Gregor das Schwert wieder in den Gürtel steckte, streckte Vikus die Hand danach aus. Instinktiv legte Gregor eine Hand auf den Griff. »Es ist meins. Du hast es mir gegeben«, sagte er schroff. Wie er das Schwert jetzt schon verteidigte, geradezu eifersüchtig.
Vikus sah erst überrascht aus, dann besorgt. »Ich hatte nicht vor, es dir abzunehmen, Gregor. Ich wollte dir nur zeigen, wie du es tragen musst.« Er legte seine Hand auf Gregors und drehte den Griff herum. »Wenn du es so trägst, schneidest du dir nicht ins Bein.«
»Danke für den Tipp«, sagte Gregor. »Und jetzt muss ich mal zusehen, dass ich den Mist hier abkriege.« Zwar hatte er sich an der Quelle auf der Klippe gewaschen, so gut es ging, aber noch immer scheuerte vulkanische Asche an seiner Haut.
»Gehe ins Krankenhaus. Dort haben sie eine Salbe dafür«, sagte Vikus.
Gregor wollte zur Tür gehen, doch da sagte Vikus: »Gregor, du hast außergewöhnliches Geschick zum Töten gezeigt. Noch vor einem Jahr wolltest du die Waffe nicht einmal berühren. Vergiss nicht, dass auch im Krieg bisweilen Zurückhaltung geboten ist. Manchmal ist es besser, das Schwert nicht zu ziehen. Wirst du daran denken?«
»Ich weiß nicht«, sagte Gregor. Er war zu müde für hehre Versprechungen. Zumal er, wenn er einmal anfing zu kämpfen, meistens die Beherrschung verlor. »Ich weiß nicht, was ich tun werde, Vikus.« Er merkte, dass das keine ausreichende Antwort war, deshalb fügte er hinzu: »Ich kann es versuchen.« Schnell verließ er den Raum, um weiteren Diskussionen darüber, was er vielleicht tun würde und was nicht, aus dem Weg zu gehen.
Unten im Krankenhaus wurde ihm sofort ein sprudelndes Kräuterbad verordnet, das die Asche von seiner Haut spülen sollte. Als die Dämpfe des Gebräus seine Lunge füllten, hustete er eine Menge Dreck aus, den er in den letzten Tagen eingeatmet hatte. Erst nachdem er drei Mal gebadet hatte, waren die Ärzte überzeugt, dass er frei von Asche war, innen wie außen. Dann wurde er mit einer duftenden Lotion eingecremt. Als Gregor fertig war, bekam er kaum mehr die Augen auf. Er trank Brühe aus einer Schale, die man ihm an die Lippen hielt. Verschwommen nahm er wahr, dass er irgendeine Medizin schluckte. Und dann drohte ihn die Müdigkeit zu übermannen. Gregor packte den erstbesten Arzt am Ärmel. »Ich muss in den Kampf!«
»Nicht in diesem Zustand«, sagte der Arzt. »Keine Sorge. So schnell geht ein Krieg nicht vorüber. Wenn du erwachst, wirst du noch reichlich Gelegenheit zum Kämpfen haben.«
»Nein, ich …«, sagte Gregor. Aber im Grunde wusste er, dass der Arzt recht hatte. Der Ärmel entglitt ihm, er überließ sich dem Schlaf.
Als Gregor die Augen öffnete, wusste er nicht gleich, wo er war. Nach der langen Reise kam ihm das Krankenhauszimmer so schön hell und sauber vor. Schläfrig machte er eine Bestandsaufnahme seines Körpers. Die Lotion war eingezogen, seine Haut fühlte sich weich und kühl an. Sein Knie, das er sich beim Sturz von einem Felsen verletzt hatte, war verbunden worden und tat nicht mehr so weh. Jemand hatte ihm die lädierten Fingernägel geschnitten. Und er hatte frische Sachen an.
Plötzlich setzte er sich kerzengerade auf und fasste sich mit der rechten Hand an die linke Hüfte. Sein Schwert! Wo war sein Schwert? Doch da sah er es auch schon in der Zimmerecke stehen, der Gürtel baumelte daran. Natürlich hatten sie ihn nicht mit Schwert ins Bett gelegt. Das wäre zu gefährlich gewesen. Und niemand hatte es geklaut. Trotzdem bereiteten ihm die vier Meter, die zwischen ihm und dem Schwert lagen, Unbehagen. Er musste es immer griffbereit haben.
Gregor schwang die steifen Beine aus dem Bett, um das Schwert zu holen, als eine Krankenschwester mit einem Tablett hereinkam und ihm befahl, sich wieder hinzulegen. Er wollte nicht mit ihr streiten, also gehorchte er. Aber kaum war sie aus dem Zimmer, schob er das Tablett weg, holte das Schwert und stellte es direkt neben sein Bett. Jetzt konnte er essen.
Nahrung war in den letzten Tagen der Reise knapp gewesen. Ein wenig Fisch, ein paar Pilze. Er war so hungrig, dass er das Besteck liegen ließ und sich das Essen mit den Händen in den Mund stopfte. Die fade Mahlzeit – Brot, Fischsuppe und Pudding – schmeckte ihm köstlich und er ließ kein Krümelchen übrig. Er wischte die Puddingschale gerade mit dem Finger aus, als sein alter Freund Mareth ins Zimmer kam.
»Du kannst einen Nachschlag bekommen«, sagte Mareth lächelnd. Er rief in den Flur, man solle Gregor noch etwas zu essen bringen. Dann humpelte er zu einem Stuhl neben dem Bett. Gregor fand, dass Mareth mit seiner Beinprothese schon besser laufen konnte, aber er brauchte immer noch eine Krücke. »Du hast den ganzen Tag geschlafen. Wie geht es dir?«, fragte er Gregor und sah ihn vielsagend an.
»Gut«, sagte Gregor. Er war auf der Reise nicht schlimm verwundet worden. Mareth brauchte nicht so besorgt auszusehen. Da begriff Gregor, dass er auf die Prophezeiung anspielte, in der sein Tod angekündigt wurde. »Ach so, du meinst …« Langsam sickerte die Angst in sein Gehirn. Er schob sie beiseite, er konnte immer noch nicht damit umgehen. »Mir geht es ganz gut, Mareth.«
Mareth drückte ihm die Schulter und ließ es dabei bewenden. Gregor war froh, jetzt keine tiefschürfenden Gespräche führen zu müssen. »Wie geht es Boots und Hazard und den anderen?«
»Gut. Ihnen allen geht es gut. Sie wurden alle von der Asche gereinigt. Hazard wird noch das Bett hüten müssen, bis seine Wunde am Kopf ganz verheilt ist. Doch Howards medizinische Ausbildung hat sich bezahlt gemacht. Er hat die Wunde hervorragend genäht«, sagte Mareth.
Sein Freund Howard und dessen Fledermaus Nike. Luxa und ihre Fledermaus Aurora. Ripred. Sie alle lagen nicht gemütlich im Krankenhaus, sie kämpften immer noch um das Leben der verbliebenen Mäuse in den Feuerländern. »Irgendeine Nachricht von den anderen?«, fragte Gregor.
»Nichts«, sagte Mareth. »Zwei Divisionen wurden nach ihnen ausgeschickt. Wir hoffen auf baldige Nachricht. Doch unsere normalen Kommunikationswege sind unterbrochen, jetzt, da Luxa den Krieg erklärt hat.«
Luxa …
Gregor fasste in die Hintertasche seiner Hose, aber sie war leer. Vermutlich waren seine alten Kleider vernichtet worden. Er verspürte leichte Panik. »Ich hatte ein Foto. In der Hosentasche …«
Mareth nahm ein Foto vom Nachttisch und reichte es ihm. »Dies hier?«
Da waren sie. Luxa und Gregor. Wie sie tanzten. Und lachten. Einer der wenigen richtig glücklichen Augenblicke, die sie miteinander erlebt hatten. Erst ein paar Wochen war das her, auf Hazards Geburtstagsfeier. Gregor steckte das Foto in die Tasche seines T-Shirts. »Danke.«
Auch das nahm Mareth einfach hin. Und das war gut so, denn Gregor wusste nicht, wie er in Worte hätte fassen sollen, was sich da zwischen ihm und Luxa entwickelte. Wie sich ihre komplizierte Freundschaft gerade in etwas ganz anderes verwandelte.
»Und meine Eltern?«, fragte Gregor.
»Dein Vater weiß, dass du in Sicherheit bist. Als du hier ankamst, wurde umgehend ein Flieger mit der Nachricht hinaufgeschickt. Dein Vater lässt dir ausrichten, dass es deiner Großmutter und deiner Schwester Lizzie gut geht«, sagte Mareth. Dann hielt er inne.
»Und meiner Mutter?«, half Gregor nach.
»Sie hatte einen Rückfall«, sagte Mareth.
»Du meinst, sie hat wieder die Pest?«, fragte Gregor erschrocken.
»Nein, nein. Aber sie hat eine Infektion der Lunge«, sagte Mareth. »Sie wird genesen, doch sie ist sehr geschwächt.«
Das war gar nicht gut. Gregor wollte seine Mutter um jeden Preis nach Hause bringen. Wenn er sterben musste, dann war das eben so. Doch umso wichtiger war es, dass seine Mutter und Boots wohlbehalten nach New York zurückkehrten. Seine Eltern, seine Großmutter und seine Schwestern brauchten einander.
Die Krankenschwester brachte ihm noch eine Portion Pudding und ging dann wieder. Gregor war auf einmal gar nicht mehr hungrig. Er stocherte mit dem Löffel in seinem Pudding herum.
»Wo sind die Ratten jetzt? Die auf Regalia zumarschierten, als ich mit Ares zurückgeflogen bin?«, fragte Gregor. »Haben sie schon angegriffen?«
»Nein. Sie sind in die Feuerländer zurückgekehrt, als sie unsere Truppen in der Luft sahen«, sagte Mareth.
»Was?«, sagte Gregor verblüfft.
»Gewiss wollen sie die Verteidigung des Fluchs stärken«, sagte Mareth.
»Heißt das … hier ist keiner, gegen den wir kämpfen müssen?« Gregor war plötzlich ganz klar im Kopf. Den ersten Teil seiner Mission hatte er erfüllt. Er hatte die Kinder und die Verwundeten nach Regalia zurückgebracht. Er hatte die Prophezeiung der Zeit gelesen. Und vor allem hatte er Sandwichs Schwert in Besitz genommen. Als Nächstes musste er, so hatte er geglaubt, Regalia gegen einen gewaltigen Angriff der Ratten verteidigen. Doch es gab gar keinen Angriff. »Das ist nicht gut«, murmelte er. Eine Rattenarmee, die vor den Mauern einer gut befestigten Stadt wartete, war beängstigend, aber eine Rattenarmee, die sich auf freiem Feld sammelte, war weitaus schlimmer. Was machte er noch hier? Lag hier im Bett und stopfte sich mit Pudding voll, während seine Freunde in einer Schlacht in den Feuerländern steckten?
Gregor schob das Tablett so schnell von seinen Beinen, dass die Schalen klirrend zu Boden fielen. Er sprang aus dem Bett und griff nach seinem Schwert.
»Was hast du vor?«, fragte Mareth.
»Ich muss zurück«, sagte Gregor. »Ich muss zurück und gegen die Ratten kämpfen.«
2. Kapitel
Mareth stand auf und stellte sich ihm in den Weg. »Warte, Gregor. So einfach ist das nicht. Es herrscht Krieg.«
»Davon rede ich doch gerade«, sagte Gregor. Hastig fummelte er an dem Gürtel herum, um ihn anzulegen. »Ist Ares noch im Krankenhaus?« Ares wollte bestimmt ebenso dringend zu ihren Freunden wie Gregor.
»Ja, sein Zimmer liegt weiter hinten. Aber hör mir mal zu …«, setzte Mareth an.
»Worauf warten wir dann noch?«, sagte Gregor. Er ging zur Tür, als er plötzlich hochgehoben und wieder aufs Bett geworfen wurde. Selbst mit nur einem Bein war Mareth viel stärker als Gregor.
»Hör mir zu!«, sagte Mareth. »Im Krieg bist du ein Soldat. Vielleicht der wertvollste, den wir haben. Du kannst nicht einfach weglaufen, wenn es dir gerade in den Sinn kommt. Es wird von dir erwartet, dass du die Befehle befolgst.«
»Wessen Befehle?«, fragte Gregor.
»Solovets«, sagte Mareth.
»Solovets?«, fragte Gregor. Das haute ihn wirklich um. Soweit er wusste, war sie nicht mehr befugt, irgendwem Befehle zu erteilen. »Ich dachte, sie wäre in ihrem Zimmer eingesperrt und würde demnächst angeklagt, weil sie an der Pest schuld ist.«
»Als bekannt wurde, dass Luxa den Krieg erklärt hat, wurde der Prozess vertagt«, sagte Mareth.
»Aber … warum? Das ändert doch nichts daran, was Solovet getan hat«, sagte Gregor. »Sie hat nun mal den Ärzten befohlen, die Pest als Waffe einzusetzen. Sie hat so viele Menschen und Fledermäuse auf dem Gewissen. Sie hätte fast meine Mutter umgebracht.«
»Das war ein Versehen. Ihr eigentlicher Plan war es, die Nager zu töten«, sagte Mareth. »Jetzt, da wir uns mit den Nagern im Krieg befinden, ist jemand, der nicht zögert, sie umzubringen, sehr nützlich. Daher hat der Rat Solovet wieder als Heerführerin der Armee von Regalia eingesetzt.«
»Als Heerführerin – das gibt’s doch nicht!«, rief Gregor. Er hatte gedacht, sie sei vielleicht Befehlshaberin seiner Einheit oder so. Aber das Oberhaupt der ganzen Armee! »Konnten sie niemand anders finden?«
»Außer dir gibt es keinen Menschen, den die Nager so fürchten wie sie«, sagte Mareth. »Im Krieg ist Solovet gleichermaßen gerissen wie skrupellos. Es sieht so aus, als bräuchten wir sie, wenn wir überleben wollen.«
»Aber – dann wird der Prozess ja nie stattfinden!«, sagte Gregor bitter. Der Krieg würde ausbrechen und alles andere überlagern. Wenn der Hass auf die Ratten immer größer wurde, würden die Menschen schließlich finden, dass es eine gute Idee war, die Pestbazillen als Waffe einzusetzen. Obwohl Solovets eigene Leute durch sie gestorben waren, würde sie als Heldin dastehen, nicht als Verbrecherin. Gregor dachte an seine Mutter, die irgendwo im Krankenhaus lag und um Atem rang. An Ares’ lilafarbene Narben, die von seinem Fell noch nicht ganz verdeckt wurden. An all die Menschen, Fledermäuse und Ratten, die gestorben waren. »Das ist nicht richtig, Mareth«, sagte Gregor. »Findest du es richtig?«
Mareth seufzte und wich seinem Blick aus. Er gab Gregor frei und trat ungeschickt einen Schritt zurück. »Meine persönliche Meinung tut hier nichts zur Sache. Solovet hat jetzt das Kommando.«
»Nicht über mich«, sagte Gregor. Eins war sicher. Er würde nicht zu Solovets Bedingungen in den Tod gehen, sondern zu seinen eigenen.
»Pass auf, zu wem du das sagst, Gregor«, sagte Mareth ruhig. »Nicht alle hier sind deine Freunde.« Und mit diesen Worten humpelte er aus dem Zimmer.
Gregor atmete ein paarmal tief durch, um sich zu beruhigen, dann löste er den Gürtel und stellte das Schwert wieder in die Ecke. Er wischte den Pudding vom Boden auf und stellte das Tablett ordentlich hin. Dann legte er sich wieder ins Bett wie ein vorbildlicher Patient, während er über alles nachdachte.
Mareth hatte recht. Nicht alle in Regalia waren auf Gregors Seite. Es gab genug Leute, die ihn nur zu gern für Solovet ausspionieren würden. Gregor hatte keine Ahnung, was sie mit ihm im Sinn hatte, aber ganz bestimmt nicht, dass er sich auf Ares schwang und zurück in die Feuerländer flog. Wahrscheinlich war er Teil irgendeines größeren Plans. Es spielte gar keine Rolle, was er wollte. Für Solovet war er nur ein Werkzeug, über das sie nach Belieben verfügen konnte. Wenn er wirklich zurück in die Feuerländer fliegen wollte, musste er es heimlich tun. Und er musste höllisch aufpassen.
»Was hast du vor?«, hörte er Ripreds Stimme in seinem Kopf. Die Ratte versuchte ihm abzugewöhnen, immer gleich aus der Haut zu fahren und zu handeln, ohne über die Folgen nachzudenken. »Was hast du vor?«
Zunächst mal darf keiner auf die Idee kommen, dass ich zurückwill, dachte Gregor. Mareth erzählte es bestimmt nicht weiter, da war er sich ziemlich sicher. Aber auf andere Leute konnte er sich nicht unbedingt verlassen. Am liebsten wäre er sofort zu Ares gerannt, aber das wäre verdächtig. Wenn er nicht unbedingt in die Feuerländer zurückkehren wollte, wenn er in Regalia bleiben wollte wie ein braver kleiner Soldat, würde er dann nicht als Erstes zu seiner Mutter wollen? Plötzlich schämte er sich. Müsste er nicht so oder so als Erstes seine Mutter besuchen? Ja. Aber falls es ihr überhaupt so gut ging, dass sie Besuch empfangen durfte, würde sie erstens wütend sein wegen seiner Reise zu den Feuerländern und zweitens darauf bestehen, dass er auf der Stelle nach New York zurückkehrte. Und das kam überhaupt nicht infrage. Also musste er entweder mit ihr streiten, sich über sie hinwegsetzen oder sie anlügen. Das war alles gleich schlimm. Trotzdem wollte er sie unbedingt sehen.
Als ein paar Minuten darauf eine Ärztin vorbeikam, fragte Gregor, ob er seine Mutter besuchen dürfe. Er durfte, aber nur kurz. »Es ist ganz gut, wenn du dein Knie benutzt. Aber nimm dich in den ersten Tagen noch ein wenig in Acht«, sagte die Ärztin und half ihm, ein Paar Sandalen anzuziehen.
»Alles klar«, sagte Gregor und ging extra vorsichtig zum Zimmer seiner Mutter. Nicht um seinetwillen musste er Theater spielen, sondern um ihretwillen.
Gregor hatte nicht damit gerechnet, dass der Rückfall so schlimm sein würde. Seine Mutter war so krank wie damals, als sie sich mit der Pest angesteckt hatte. Vielleicht sogar noch kränker. Damals hatte sie wenigstens die Kraft gehabt, ihn nach Hause zu schicken. Jetzt konnte sie nicht mal sprechen. Sie brauchte ihre ganze Energie, um zu atmen. Als er ihre Hand hielt, war ihre Haut heiß und trocken vom Fieber. Ihre Augen starrten ins Leere.
»Das ist nicht die Pest, oder?«, fragte Gregor den Arzt.
»Nein, es ist eine Infektion der Lunge. Ich glaube, im Überland nennt ihr es Lungenentzündung«, sagte der Arzt.
»Aber wenn sie gesund genug wäre, um zu reisen, könnte sie nach Hause?«, fragte Gregor.
»Ja, aber sie kann jetzt auf keinen Fall reisen«, sagte der Arzt.
Gregor streichelte ihr die Wange. »Keine Sorge, es wird schon alles gut. Alles wird gut.« Er wusste nicht, ob sie ihn überhaupt verstand.
Draußen vorm Zimmer nahm der Arzt Gregor beiseite und sprach im Flüsterton. Erst dachte Gregor, es sei aus Rücksicht auf seine Mutter, aber dann wurde ihm klar, dass der Arzt von niemandem gehört werden wollte. »Krieger, wenn es meine Mutter wäre, würde ich alles Menschenmögliche tun, um sie zurück ins Überland zu bringen. In euren Krankenhäusern kann sie genauso gut behandelt werden wie bei uns. Und wenn der Krieg ausbricht, könnte der Palast angegriffen werden. Vielleicht muss man sie sogar an den Quell verlegen.«
»Aber Sie haben doch gesagt, sie dürfte nicht reisen«, sagte Gregor.
»Weil ich das sagen muss. Und es stimmt auch. In Zeiten des Friedens«, sagte der Arzt. »Aber jetzt musst du abwägen, wie groß die Gefahr ist, wenn du sie im Krieg hierlässt.« Er schaute sich nervös um. »Bitte behalte meinen Rat für dich.« Dann eilte er davon.
Einen Moment lang war Gregor hin- und hergerissen zwischen seinem Wunsch, in die Feuerländer zu fliegen, und dem Bedürfnis, seine Mutter in Sicherheit zu bringen. Seine Mutter gewann. Seine Freunde im Feuerland hatten einander und eine ganze Armee hinter sich. Seine Mutter hatte niemanden außer ihm.
Gregor verließ das Krankenhaus, ohne sich die Erlaubnis zu holen, und traf Vikus in einem Raum neben der Hohen Halle. »Wann schickst du meinem Vater wieder eine Botschaft?«, fragte er.
»Das hatte ich soeben vor, Gregor. Soll ich noch etwas hinzufügen?«, sagte Vikus.
»Ja«, sagte Gregor. »Meine Mutter.«
Vikus rieb sich die Augen. »Das habe ich versucht, Gregor. Schon drei Mal. Jedes Mal hat der Rat meine Anfrage abschlägig beschieden.«
Gregor wusste, dass Vikus seine Mutter nicht gegen den erklärten Willen des Rats weglassen konnte. Trotzdem war er frustriert, weil Vikus sich dem Rat immer wieder beugte. »Sie kann aber nicht hierbleiben, wenn Krieg ist. Was machen wir, wenn die Ratten den Palast angreifen? Dann müsst ihr sie sowieso verlegen.« Gregor dachte, so viel könnte er wohl sagen, ohne den Arzt in Schwierigkeiten zu bringen.
»Das gab ich auch zu bedenken«, sagte Vikus. »Doch der Rat will nichts davon hören. Sie wollen sie nicht gehen lassen. Meine Frau hat sie davon überzeugt, dass deine Mutter zu schwach für eine solche Reise ist.«
Plötzlich begriff Gregor, was für ein Spiel da gespielt wurde. »Hier geht es gar nicht um ihre Gesundheit. Es geht um mich. Mich wollt ihr nicht weglassen«, sagte er. Solovet hielt seine Mutter als Geisel gefangen. Sie wusste genau, dass Gregor niemals ohne seine Mutter gehen würde.
Vikus’ Schweigen war Antwort genug.
»Dann sag dem Rat, sie sollen zusehen, dass meine Mutter überlebt. Wenn sie stirbt, habt ihr einen Krieger verloren!«, sagte Gregor.
»Möchtest du wirklich, dass ich das sage?«, fragte Vikus.
»Wieso nicht?«, sagte Gregor.
»Es bringt dir nichts ein und du gibst viel damit preis«, sagte Vikus. »Ich für meinen Teil halte es für klüger, gewisse Gedanken für mich zu behalten, bis sie mir zum Vorteil gereichen können.«
Vikus hatte recht. Die Ärzte im Krankenhaus würden alles tun, um seine Mutter wieder gesund zu machen. Wenn Gregor den Ratsmitgliedern jetzt drohte, weckte er damit nur ihr Misstrauen, während er doch eigentlich so tun wollte, als wäre er fügsam. »Ich verstehe, was du meinst«, sagte er. »Danke.« Wenigstens passte Vikus immer noch auf ihn auf.
Er ging wieder in Richtung Krankenhaus, voller Angst um seine Mutter. Konnte er sie allein mitnehmen? Nein, dafür war sie viel zu krank. Er bräuchte ein ganzes Ärzteteam. Wenn sie nach Hause käme, müsste sie sofort ins Krankenhaus, und dann würde die Fragerei losgehen. Trotzdem wäre Gregor lieber das Risiko eingegangen, dass sein Vater und Mrs Cormaci sich abwegige Ausreden einfallen lassen müssten, als dass seine Mutter im Krieg hier unten war.
Aber all das war müßig, weil Solovet seine Mutter nicht weglassen würde, solange Gregor für sie nützlich war. Plötzlich hatte er eine Stimme aus der Vergangenheit im Kopf: »Ich dachte mir nur gerade, dass meine Mutter nicht lange gebraucht hat, um dich in ihre Klauen zu bekommen.« Hamnet. Das hatte Hamnet damals im Dschungel gesagt, bei ihrer ersten Begegnung, bevor er Gregors Führer wurde, bevor die Ameisen ihn töteten. Hamnet, selbst ein berühmter Krieger, war aus Regalia geflüchtet, weil er es mit seinem Gewissen nicht länger vereinbaren konnte, zu kämpfen, und er wusste, dass seine Mutter Solovet versuchen würde, ihn zum Kampf zu zwingen. Wer wusste besser als Hamnet, wie es jemandem erging, den Solovet in ihre Klauen bekam? Jetzt versuchte sie sich Gregor zu krallen, auf eine ganz neue Weise. Doch Gregor war fest entschlossen, ihr die Stirn zu bieten.
Er ging in sein Zimmer, wo schon wieder etwas zu essen auf ihn wartete. Er aß es, um den Schein zu wahren. Wahrscheinlich brauchte er es auch. Womöglich gab es schon bald wieder nur Fisch und Pilze. Dann machte er sich auf den Weg zu Ares. Da er seine Mutter bereits besucht hatte, würde das niemanden beunruhigen.
Ares hatte gerade fertig gegessen, als Gregor hereinkam. Eine Krankenschwester räumte das benutzte Geschirr ab.
»Na, wie geht’s dir?«, fragte Gregor.
»Ich fühle mich ein wenig steif, aber es geht mir gut«, sagte Ares. Seine Stimme, sonst ein leises Schnurren, war heiser von der Vulkanasche.
»Bist du nachher für eine Partie Schach zu haben?«, fragte Gregor. Das sagte er nur für die Krankenschwester. Gregor und Ares hatten noch nie Schach gespielt. Und auch noch nie davon gesprochen. Aber Gregor hatte im Krankenhaus viele Menschen und Fledermäuse Schach spielen sehen, während sie sich erholten. Gregor dachte sich, dass es der Krankenschwester gefallen würde.
»Die Frage ist eher, ob du dafür zu haben bist«, sagte Ares.
»Das klingt nach einer Kampfansage«, sagte Gregor und grinste.
Die Krankenschwester war einverstanden. »Ich schaue mal, ob wir ein Brett für euch haben.« Sie nahm das Geschirr und ging aus dem Zimmer.
Gregor und Ares warteten eine Weile, dann begannen sie aufgeregt zu flüstern.
»Wir müssen zurück in die Feuerländer«, sagte Ares.
»Ich weiß. Aber Mareth sagt, wir stehen jetzt unter Solovets Kommando«, sagte Gregor. »Können wir uns an dem Ort treffen?« Gregor war sich sicher, dass Ares wusste, was mit »dem Ort« gemeint war – jener See, der von einer Quelle gespeist wurde und als der »Woog« bekannt war. Von einer steinernen Schildkröte im alten Spielzimmer führte ein Geheimgang dorthin.
»In einer Stunde«, sagte Ares. »Die Huscherbabys sind immer noch im Spielzimmer. Wenn deine Schwester nicht bei Hazard ist, wird sie vermutlich auch dort sein.«
»Ich finde schon einen Weg«, sagte Gregor. Obwohl es nicht ganz einfach sein dürfte, Boots, einen Wurf Mäusebabys und ihren Babysitter abzulenken, um die große steinerne Schildkröte aufzuklappen und zu verschwinden.
Die Krankenschwester kam mit einem Schachbrett zurück. »Ein Brett habe ich gefunden, aber keine Figuren. Bald werden welche frei.«
»Ich glaube, im Museum gibt es welche«, sagte Gregor. »Ich soll sowieso ab und zu mein Knie bewegen. Ich hole sie.« Tatsächlich gab es im Museum ein kleines magnetisches Reiseschachbrett mit Figuren. Das war die perfekte Ausrede.
Gregor flitzte kurz in sein Krankenzimmer und schnallte sich den Gürtel mit dem Schwert um. Falls ihn jemand fragte, könnte er ja sagen, er wolle sich an das Gefühl gewöhnen, es zu tragen. Trotzdem wartete er lieber, bis keine Ärzte und Schwestern im Gang waren, ehe er aus dem Krankenhaus schlich. Er nahm den Weg zum Museum, der seltener benutzt wurde, und begegnete nur einer Gruppe Schulkinder.
Im Museum fiel ihm als Erstes eine braune Pappschachtel auf, die mit Abdeckband zugeklebt war. Obendrauf war mit rotem Filzstift fein säuberlich »Für Gregor« geschrieben. Er erkannte die Schrift, sie stammte von Mrs Cormaci. Wann war das Päckchen gekommen? Heute? Gestern? Oder während der Woche, die er in den Feuerländern verbracht hatte? Gregor öffnete es und fand obenauf einen Zettel. Beim Lesen hatte er Mrs Cormacis Stimme im Ohr.
Lieber Gregor,
na, das ist ja eine schöne Bescherung. Alle sind außer sich, weil Du angeblich auf einem Picknick verschwunden bist, aber ich bin mir sicher, dass Du da unten in irgendeine Geschichte hineingeraten bist. Ich weiß, es ist merkwürdig, doch ich mache mir keine Sorgen. Nicht um Dich oder Boots. Deine Eltern allerdings … Na ja, das ist eine andere Geschichte. Kannst Du Dir überhaupt vorstellen, wie es für Deine Familie ist, wenn Du verschwindest?
Gregor hatte das Gefühl, als hätte ihm jemand in den Magen geboxt. Und ob er sich das vorstellen konnte! Hatte er nicht selbst zweieinhalb Jahre lang auf seinen Vater gewartet? Und machte die Situation seiner Familie ihm nicht jedes Mal, wenn er unterwegs war, zu schaffen?
Nun bist Du in Regalia, sonst würdest Du diese Zeilen ja nicht lesen. Das ist ein guter Moment, um einen Schritt zurückzutreten und sich alles noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Ich weiß, dass Du auf das meiste, was Dir da unten passiert, keinen Einfluss hast. Ich weiß, dass Du nur das tust, was Du für richtig hältst. Aber Deine Familie leidet. Ich will nur sagen: Pass auf, dass Du nicht umkommst, sonst hast Du hinterher eine Menge zu erklären.
Alles Liebe,
Mrs Cormaci
Warum hatte sie geschrieben, er solle aufpassen, dass er nicht umkam? Das klang ja fast so, als hätte sie die Prophezeiung gelesen. Aber wenn es so wäre, dann wüsste sie, dass er auch darauf keinen Einfluss hatte. Und der letzte Satz … der war ja völlig unsinnig. Warum schrieb sie so was? Vielleicht sollte es ein Witz sein. Aber das sah Mrs Cormaci gar nicht ähnlich. Moment, unten auf dem Zettel stand noch etwas …
PS: Lizzie hat mir geholfen, die Kekse zu backen. Sie sagt, Du sollst sie mit der Ratte teilen.
Dann war Lizzie also aus dem Ferienlager zurück. Er konnte sich denken, dass sie völlig fertig war. Schon unter normalen Umständen war sie ein ängstlicher Mensch. Er sah sie vor sich, mit sorgenvoll gerunzelter Stirn – so durfte eine Achtjährige einfach nicht aussehen. Die kleine, dürre, hibbelige Lizzie, die viel zu schlau für ihr Alter war. Wie sie sich Sorgen machte um ihn und Boots. Und um die Mutter und den Vater. Und sogar um den grantigen alten Ripred.
Wenn ich Lizzie das nächste Mal sehe …, dachte Gregor. Und da wurde ihm klar, dass er sie nie wiedersehen würde. Und auch nicht die anderen zu Hause. Weil er das Unterland nicht mehr verlassen würde. Er würde hier sterben …
Gregor sah, wie der Zettel aus seiner Hand glitt und zu Boden schwebte. Und in diesem Moment trafen ihn Sandwichs Worte mit voller Wucht.
Ist der Krieger endlich tot
Das Zimmer drehte sich, Gregor musste sich an einem Regal festhalten, um nicht umzukippen. Er hatte einen gewaltigen Druck in der Brust, als drohe er in tausend Stücke zu zerspringen, und er bekam keine Luft. Nein! Ich will nicht! Ich will nicht sterben!, dachte er. Er begann am ganzen Körper zu zittern; er versuchte die Bedrohung wegzuschieben, aber sie war zu stark. Ich kann nicht, es geht nicht. Ich muss nach Hause. Luxa hatte recht. Es war zu viel, was da von ihm verlangt wurde. Alles, was er besaß, den Unterländern zu opfern, sein Leben, seine Zukunft. Ich muss hier raus. Ich schnappe mir Boots und meine Mutter und kehre zurück nach Hause und … schaue … nie … zurück!
Einen Augenblick lang dachte er wirklich, das wäre möglich. Aber was dann? Was? Was war dann mit allen hier unten, die er gernhatte? Sie würden alle sterben, so stand es in der Prophezeiung. Das konnte er nicht zulassen. Unmöglich. Also dann …
Gregor sank keuchend zu Boden, er bebte am ganzen Körper. Er versuchte sich zusammenzureißen. Das musste aufhören! Er konnte nicht jedes Mal ausflippen, wenn er daran dachte, was ihm bevorstand. An alle, die er nie wiedersehen würde, an alles, was er nie tun würde. Dann wäre er zu nichts zu gebrauchen. Er musste an irgendetwas denken, woran er sich festhalten konnte. Das ihm Kraft gab. Bilder von seiner Familie schwirrten durch seinen Kopf, von seinen Freunden, von Orten und Dingen, die er liebte. Nichts half.
Dann fiel ihm der steinerne Ritter in dem Museum ein. Kalt, hart, unbeugsam, nichts konnte ihm noch etwas anhaben. Vor langer Zeit hatte der Ritter gekämpft … war vielleicht auch in einer schrecklichen Schlacht gefallen … jeder musste irgendwann einmal sterben … aber jetzt war er unverwundbar. Schlief auf seinem Marmorbett. Wohlbehalten. Friedlich sogar. Der Gedanke an den Soldaten aus einer anderen Zeit tröstete Gregor auf eine Weise, wie nichts Lebendes es vermochte. Der Ritter hatte Schlimmes durchgemacht, aber jetzt war es vorbei und er war an einem Ort, wo ihm niemand mehr etwas anhaben konnte. Allmählich wurde das Zittern schwächer. Gregor atmete ein und der Schmerz in seiner Brust ließ nach. Das bin ich. Von jetzt an muss ich immer daran denken, dass ich das bin, dachte er. Ich bin der Ritter, ich bin aus Stein und am Ende kann mich nichts mehr berühren. Okay. Also gut. So ist es.
Als er sich beruhigte, fiel ihm ein, dass Ares auf ihn wartete. Er hatte eine Aufgabe. Es gab Menschen, denen er helfen musste. Und die Zeit war knapp.
Gregor nahm den Brief und rappelte sich auf. Er sah etwas in Folie Eingewickeltes, das mussten die Kekse sein. Aber die Schachtel war zu tief für Kekse allein. Er nahm sie heraus und sein Herz machte einen Hüpfer. Zwei Taschenlampen. Eine große Packung Batterien. Und nagelneue Turnschuhe, richtig gute. Mrs Cormaci. Woher wusste sie das? Wie kam es, dass sie immer genau wusste, was er brauchte? Die wasserdichte Taschenlampe, die sie ihm geschenkt hatte, bevor er den Wasserweg überquerte. Die Arbeitsstiefel, ohne die seine Zehen im Dschungel von Säure verätzt worden wären. Konnte sie die Gefahren, die ihm bevorstanden, womöglich in ihren Tarotkarten sehen, obwohl Gregor sich noch nie die Karten von ihr hatte legen lassen? Oder war es einfach Zufall?
Gregor packte noch eine Rolle Klebeband und zwei Wasserflaschen ein. Es waren solche Flaschen, wie die Jogger im Central Park sie immer dabeihatten. Sie waren leer, aber er konnte sie auf dem Weg in die Feuerländer an einem Fluss füllen. Er schaute sich nach einem neuen Rucksack um, aber er fand nur einen kleinen rosafarbenen mit dünnen Bändern als Riemen. Er nahm eine Damengeldbörse, ein Schminkset, ein Buch mit Stadtplänen von Manhattan und eine Bürste heraus und steckte den Rucksack in das Päckchen. Er passte nicht so ganz zu einem Krieger, aber er erfüllte seinen Zweck und nur darauf kam es an. Gregor packte die Kekse wieder oben auf das Päckchen. Er wollte sich erst reisefertig machen, wenn er in dem Geheimgang war, der zum Woog führte. Jetzt fiel ihm wieder ein, was er der Krankenschwester erzählt hatte, und er legte das magnetische Schachspiel auf die Kekse. Wahrscheinlich würde er ihr nicht mehr über den Weg laufen, aber er wollte lieber auf Nummer sicher gehen. Jetzt musste er zum alten Spielzimmer und dann in den Geheimgang.
Gregor nahm das Päckchen, verließ das Museum und ging den Flur entlang. Langsam. Ganz locker, sagte er sich. Ich schaff das schon.
Dann bog er um die Ecke und blieb wie angewurzelt stehen.
Vor ihm stand Solovet. Und hinter ihr standen zwei Männer.
Es war Monate her, dass Gregor Solovet zuletzt gesehen hatte. Da war er gerade aus dem Dschungel zurückgekehrt. Sie war bei der Ratsversammlung dabei gewesen, auf der Dr. Neveeve festgenommen wurde. Dann wurde Gregor verarztet, und als er aus der Narkose erwachte, war Dr. Neveeve bereits hingerichtet worden; Solovet stand unter Arrest. Gregor war damals froh, dass er sie nicht zu sehen brauchte. So musste er nicht darüber nachdenken, was sie seiner Mutter angetan hatte und Ares und Howard und zahllosen anderen. Aber jetzt war sie hier. Die Frau, die seine Mutter, ohne mit der Wimper zu zucken, sterben lassen würde, nur um ihn festzuhalten. Auf einmal wurde ihm bewusst, wie sehr er sie verabscheute. Gleichzeitig begriff er, dass er sehr vorsichtig sein musste. Sie hatte jetzt das Kommando.
»Gregor«, sagte sie mit einem freundlichen Lächeln.
Er erwiderte das Lächeln. »Solovet. Wie geht’s?«
»Sehr gut. Und dir?«, fragte sie.
»Ganz gut«, sagte er.
»Was hast du da?«, fragte sie mit einer Kopfbewegung zu dem Päckchen.
»Mrs Cormaci hat mir ein paar Kekse geschickt. Ich dachte mir, ich nehm sie mit ins Krankenhaus. Dann haben die anderen auch was davon«, sagte Gregor. »Möchten Sie auch einen?« Er nahm die Folie ab und der köstliche Duft von Hafermehl und Rosinen breitete sich im Flur aus.
»Warum nicht?« Solovet nahm einen Keks und biss hinein. Sie kaute nachdenklich und nickte dann anerkennend. »Ausgezeichnet.«
»Dann müssen wir wohl bald mal miteinander reden, oder?«, sagte Gregor und schob das Päckchen auf seine Hüfte. »Sie müssen mir sagen, was ich machen soll. Mareth sagt, Sie haben in dem Krieg das Kommando.«
»Ja. Ja. Und du bist für mich natürlich von unschätzbarem Wert. Kennst du Horatio und Marcus?« Solovet wies beiläufig auf die beiden Männer hinter sich.
»Hi.« Gregor winkte ihnen zu und sie antworteten mit einem Kopfnicken. Erst jetzt bemerkte er, wie sie gekleidet waren. Beide hatten eine Rüstung aus Leder und Metall vor der Brust, an den Armen und Beinen. Auf dem Kopf trugen sie einen Helm. In ihrem Gürtel steckten gefährliche Schwerter und Dolche. »Sind sie Generäle oder so was?«
»Nein, Gregor. Das sind deine persönlichen Wachen«, sagte Solovet. »Wir sind sehr auf deine Sicherheit bedacht.«
»Meine persönlichen Wachen? Super.« Obwohl ihm langsam dämmerte, was das hieß, lachte er. »Vor ein paar Tagen hätte ich sie gut gebrauchen können. Aber hier drin werde ich sie wohl kaum benötigen. Hier gibt’s ja keine einzige Ratte.«
»Die Wachen passen nicht auf, dass die Ratten draußen bleiben«, sagte Solovet freundlich. »Sie passen auf, dass du drinbleibst.«