Entdecke die Welt der Piper Fantasy:
Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Jürgen Langowski
ISBN 978-3-492-96876-8
Juli 2015
© 2015 Dan Wells
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Next of Kin«.
Deutschsprachige Ausgabe:
© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2015
Covergestaltung: Guter Punkt, München
Covermotiv: © Kim Hoang, Guter Punkt unter Verwendung von Motiven von Thinkstock
Datenkonvertierung: abavo, Buchloe
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Gestern Abend bin ich wieder gestorben.
Er hieß Billy Chapman und wurde im Schatten hinter einem Parkhaus in einer Schneewehe gefunden. Als ich seine Erinnerungen trank, wurde sein Tod zu meinem Tod. Ich erinnerte mich, wie ich stolpernd die Bar verlassen hatte und unter der alkoholisierten Dunstglocke in die schneidende Kälte hinausgetreten war. Ich erinnerte mich, wie ich auf dem Eis ausgerutscht war, an den jähen, stechenden Schmerz. Ich erinnerte mich an alle fünfunddreißig Jahre in Billys Leben. An den Job, den Boss, das Auto, das nicht mehr ansprang, und an seine Frau Rosie.
Oh, Rosie. Er hatte sie mehr als alles andere auf der Welt geliebt, und dank seiner Erinnerungen liebte ich sie nun auch. Keiner von uns würde sie jemals wiedersehen.
Laut Polizeibericht sind wir an Unterkühlung gestorben. Das kommt heutzutage recht häufig vor. In einem schönen kalten Winter wie diesem beziehe ich die meisten Erinnerungen von Betrunkenen, die es nicht bis nach Hause geschafft haben, oder von Stadtstreichern, die nirgends hingehören. Ich lebe von einem Tod bis zum nächsten, manchmal überdauere ich zwei oder gar drei Wochen und halte fest, was ich habe, solange ich es nur kann, während mein Verstand versickert wie der Sand im Stundenglas, Bröckchen um Bröckchen. Alles löst sich auf und zerkrümelt, bis ich sogar meinen Namen vergesse und mir einen neuen suchen muss. Ich trinke ihr Bewusstsein wie ein zitternder Drogenabhängiger, verzweifelt und voller Scham.
Früher habe ich sie selbst getötet und meine Erinnerungen aufgefüllt, wann immer und wie immer es mir gefiel. Diese Zeit war schnell vorbei. Die anderen haben mich einen Narren gescholten, weil ich sie liebte, diese winzigen Sterblichen mit ihrem kleinen Leben. Die anderen konnten nicht verstehen, dass ich mittlerweile ein Mensch geworden war, nachdem sich in meinem Bewusstsein hunderttausend Menschenleben vereinigt hatten. Das Bruchstück, das mich selbst ausgemacht hatte, mein wahres Ich, ging in dieser überwältigenden Zahl einfach unter. Ich hatte als Bankier in Nebraska und als Soldat der Konföderierten gelebt, als portugiesischer Matrose im Zeitalter der Entdeckungen. Während der alten Dynastien webte ich Seide, ich kämpfte und starb am Ufer des Nil. Die Erinnerungen versinken und tauchen auf wie Treibgut und sind mit jedem Mal schmerzlicher als zuvor. Wie könnte ich mein eigenes Herz töten? Wie kann ich den Menschen Schmerzen zufügen, deren Freude zu meiner eigenen wird? Deshalb warte ich, bis sie sterben, und trinke sie in Frieden.
Mein Bewusstsein ist vom Tod erfüllt.
Manchmal sterbe ich friedlich und schlafe einfach ein. Besonders dann, wenn ich sie kommen sehe, sind diese Todesfälle die einfachsten. Die ganze Familie hat sich um mich versammelt, wir reden, lachen und denken an alte Zeiten, und dann schließe ich die Augen, lächle und träume. Das sind die leichtesten Fälle. Sie ereignen sich aber viel zu selten, und häufig verläuft es ganz anders. Die meisten Tode sind voller Qual und Furcht. Fünf endlose, verzweifelte Sekunden in einem nicht mehr aufzuhaltenden Auto, fünf unerträgliche Monate in der Chemotherapie, von Schmerzmitteln benebelt. Ich wurde viel öfter ermordet, als ich es zählen kann. Aber jedes Mal, wenn es geschieht, ist der Tod selbst nicht das Schlimmste. Das Weggehen ist nie so schlimm wie der Gedanke an die Menschen, die zurückgelassen werden.
Oh, Rosie.
Sie können sich sicher vorstellen, dass ich nicht viele Freunde habe. Die Menschen, die ich kenne – oder diejenigen, die ich zu kennen glaube –, wissen nichts über mich. Aus schmerzlicher Erfahrung habe ich gelernt, dass ich mich nicht auf solche künstlichen Verbindungen einlassen sollte. Was die anderen angeht, die Begabten, die so sind wie ich und das Gleiche vermögen wie ich, so habe ich für sie keine Zeit. Ich bin weder ein Mensch noch ein Begabter, und selbst jene, die meinen Abscheu gegenüber dem Blutdurst der anderen teilen – die Verfluchten, die Verwelkten oder die Verlorenen –, finden letztendlich keinen Platz in meinem lückenhaften Bewusstsein. Ich meide sie genau wie alle anderen. Eine einzige Verbindung halte ich zu einem Mann namens Merrill Evans. Am nächsten Tag, nachdem ich Billy Chapmans Erinnerungen getrunken hatte, suchte ich Merrill auf. Ich besuche ihn oft nach einem Tod. Der alte Mann versteht mich, ob es ihm nun bewusst ist oder nicht. Wie auch immer, ich bin ihm etwas schuldig, und dies ist das Mindeste, was ich für ihn tun kann.
Das Auto stellte ich auf dem kleinen Parkplatz hinter dem Whiteflower-Pflegeheim ab, dann ging ich hinein. Es roch nach Desinfektionsmitteln und Krankenhaus, und allzu vorwitziges Gelächter aufgeregter Kinder durchbrach die beklemmende Stille. Besucher redeten mit den geliebten Angehörigen und ahmten übertrieben lebhaft den Tonfall der Unterhaltungen nach, die sie vor zwanzig Jahren geführt hatten.
»Wie geht es dir, Dad? Ich bin's, dein Sohn Brian. Nein, Gordon ist nicht da. Gordon war dein Bruder, er ist schon vor dreißig Jahren gestorben.«
»Hallo, Mom. Nein, ich sagte: HALLO, MOM! WIE GEHT ES DIR? Sag Hallo, Maddy, aber sag es laut, damit sie es hört. MOM, DAS IST MADISON. Sag Hallo, Liebes.«
»Erinnerst du dich an unser altes Haus in der Third Street? Es war das größte Haus im ganzen Viertel, und meine Mutter hielt es makellos sauber. Ob du mal in dem Haus warst? O ja, es war wunderschön. Es hatte einen schmiedeeisernen Zaun und wundervolle Rosen an einem weiß lackierten Spalier an der Wand. Weißt du noch, wie du dich in den Finger gestochen hast?«
Ich stand am Empfang, die Schwester lächelte mich an. »Hallo, Mister Sexton. Wie geht es Ihnen heute?«
»Sehr gut, danke. Wie macht sich Merrill?«
»Er freut sich bestimmt, dass Sie ihn besuchen.« Es klang unbeschwert, aber ihr war anzumerken, dass sie leicht aufgebracht war. »Wenn seine Angehörigen ihn nur so oft besuchen würden wie Sie! Wussten Sie, dass er drei Enkelkinder hat? Aber seine Verwandten kommen fast nie. Es sind wirklich ganz süße Enkelkinder. Sie waren im Sommer mal da.«
»Ich bin sicher, dass sie so oft wie möglich vorbeischauen«, antwortete ich.
»Von mir aus könnten sie sich ruhig etwas öfter blicken lassen.« Die Schwester schüttelte den Kopf und ging ans Telefon. Ich streckte die Hand aus und hielt sie auf. »Bitte rufen Sie ihn nicht an! Mit dem Telefon kommt er nicht so gut zurecht. Ich finde schon hinauf.«
»In Ordnung«, antwortete sie. »Sie kennen sich ja aus.« Sie lächelte, und ich lächelte zurück. Kaum hatte ich mich einen Schritt entfernt, rief sie mir etwas hinterher.
»Mister Sexton? Wie haben Sie Mister Evans noch gleich kennengelernt?«
»Wir sind uns früher mal begegnet«, antwortete ich. »Kurz bevor er Alzheimer bekam. Er war ein guter Mensch.«
»Da bin ich ganz sicher«, bekräftigte sie. Da sie erst einige Jahre hier arbeitete, kannte sie uns nicht sehr gut.