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Elisabeth Reichart

Die Voest-Kinder

eISBN 978-3-7013-6187-8

© 2011 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG–WIEN

Alle Rechte vorbehalten

Satz: Media Design: Rizner.at

Coverfoto: Sibylle Bergemann/OSTKREUZ

Druck und Bindung: CPI Moravia, Korneuburg

Elisabeth Reichart

Die Voest-Kinder

Roman

O T T O   M Ü L L E R   V E R L A G

Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

I.

Sonntags verwandelte sich der Ort: Bereits am Vormittag waren die Gasthäuser offen, gingen die Voestler hinein und kamen heraus, vor der Kirche, nach der Kirche, konnten die Kinder es kaum fassen, dass es sie jeden Sonntag wieder gab, ihre Väter – die Kinder umkreisten sie aufgeregt, staunend, zwickten sie, um glauben zu können, was sie sahen.

Nur die Väter hatten einen Namen: Voestler, Eisenbahner, Wirt, Arzt, Pfarrer, Trafikant, Bürgermeister, Briefträger, Fleischhauer, Schuster, Schneider, Polizist und Pensionist. Früher gab es eine Hebamme, aber die hat der Friedhof verschluckt, erzählte die Großmutter ihrer Enkelin.

In der Kirche war der Pfarrer der Besitzer der Worte. Er redete allein in einer Sprache, die niemand außer ihm und Gott verstand: Latein. Nicht einmal die Großmutter des Kindes verstand jedes Wort, obwohl sie täglich in die Kirche ging. Nur die Sonntagspredigt, für die der Pfarrer den Altar verließ und auf die Kanzel hinaufstieg, hielt er auf deutsch. Alle schwiegen, obwohl er bei jeder Predigt mehrmals schrie, was verboten war, wie das Kind wusste. Die Predigten mochte das Kind nicht: Es herrschte eine gedrückte Stimmung in der Kirche, solange der Pfarrer auf der Kanzel Deutsch redete. Manche Worte hüpften gegen die Säulen und taten ihr in den Ohren weh, von anderen bekam sie eine Gänsehaut, die sie zappeln ließ. Halt still, wurde sie von der Mutter ermahnt, aber manchmal hielt sie die Worte des Pfarrers nicht aus und rannte ins Freie, sah die Grabkreuze tanzen, die Blumen in die Luft fliegen oder die Gräber und Blumen unter sich, eingehüllt in den Voest-Rauch, bis die Großmutter sie umarmte und mit ihr nach Hause ging.

Latein werde in all den unzähligen Kirchen auf der ganzen Welt gesprochen, erzählte die Großmutter ihrer Enkelin, die nur darauf wartete, dass der Pfarrer endlich die Kanzel verließ. Sobald er wieder vor dem Altar stand, forderte er seine Schäfchen auf, sich zu erheben und zu singen. Das waren die schönsten Momente während der Messe: Das Kind sang und sang, sang auch, wenn nur der Kirchenchor singen sollte, kümmerte sich nicht um die Blicke, das Zupfen an ihrem Ärmel. Selbst wenn sie auf die Kirchenbank gezogen wurde, sang sie weiter. Auch beten fand sie schön, sie kniete gerne vor Gott, faltete die Hände wie die Erwachsenen. Aber gesungene Gebete waren schöner als schön, sie ließen sie jubilieren. Am liebsten sang sie ,Großer Gott, wir loben dich‘ und das ,Ave Maria‘. Bei diesen Liedern lächelte die Jungfrau Maria, und manchmal nickte sie sanft mit dem Kopf, so sanft, dass nur die erwartungsvollen Augen des Kindes es bemerkten.

Einmal sprach der Pfarrer die Mutter nach der Messe an: Warum sie nicht mehr im Kirchenchor singe, fragte er und fügte streng hinzu: Jeder muss etwas zu Gottes Werk beitragen! Seit der Geburt der Kleinen habe sie keine Zeit mehr, antwortete die Mutter leise, mit gesenktem Kopf. Da bekam die Tochter Angst, wollte keine Zeitdiebin sein. Diebstahl ist eine Sünde, sagte sie so laut, dass die Umstehenden es hören konnten. Einige verließen die Gruppe vor dem Kirchenportal, manche Frauen kicherten, Männer schüttelten den Kopf, husteten laut oder zischten etwas. Die Tochter kümmerte sich nicht darum. Du musst wieder singen, sagte sie zu ihrer Mutter. Und fügte schnell hinzu: Ich will auch singen. Sie konnte das Wort Kirchenchor nicht aussprechen, ihre Zunge verknotete sich, stieß das Wort in den Hals zurück. Das Wort würgte sie, sie hätte es gerne ausgespuckt, aber ein Mädchen spuckt nicht, außer Kirschkerne in die Wiese, wo aus dem Kern ein neuer Baum wachsen kann, flüsterte ihr eine innere Stimme zu. Ohne Kirschkern im Mund, inmitten der Kirchenbesucher, musste sie das Wort hinunterschlucken. Sie rätselte, ob auch die erwachsenen Frauen die langen Worte verschluckten oder heimlich in ihre Taschentücher spuckten, die sie sich ständig vor den Mund hielten. Zu Hause wollte sie ihre Großmutter um ein Riesentaschentuch bitten, in dem sie alle Worte aufheben konnte, die noch zu lang waren für ihre kleine Zunge. Die Tochter spürte, dass es ihrer Mutter peinlich war, durch sie im Mittelpunkt zu stehen. Das Kind drückte sich eng an die Mutter und flüsterte: bitte, bitte! Die Mutter beugte sich zu ihr hinunter, hob ihr Kinn hoch und flüsterte ebenfalls: versprochen. Da flog das Kind an der Hand der Mutter geradewegs in den Himmel, lachte und tanzte mit den Engeln, die sie umkreisten, bis sie ihren Vater entdeckte, der mit gesenktem Kopf abseits stand. Papi, flüsterte sie, lief zu ihm und umklammerte seine Beine. Er befreite sich wortlos aus ihrer Umarmung.

Von diesem Sonntag an gingen Mutter und Tochter jede Woche einmal zur Chorprobe und sangen am Sonntag und an den Feiertagen im Kirchenchor. Das Kind war zufrieden und sang am lautesten. Alle fanden, sie hätte eine viel zu tiefe Stimme für ein Mädchen. Die Mutter schwieg dazu. Das Kind hörte bei solchen Worten weg. Sie mochte die Piepsstimme mancher Chorsängerin nicht, aber da die Stimme von Gott und für Gott war, verschwand sie lieber zu den Engeln, als etwas Böses zu sagen. Ohnedies stand sie immer neben ihrer Mutter, die eine klare Altstimme hatte, mit der ihre mitschwang, als hätte das Kind jedes Kirchenlied stundenlang geübt.

Am Sonntag hörte sie ihren Vater manchmal Geige spielen. Meist spielte er traurige Melodien, spielte sie so schön, dass die Luft zitterte und Regenbögen hervorzauberte. Sie presste ihr Ohr an die Tür, ihre Puppe an sich und eine Hand auf den Mund. Hin und wieder hörte sie die Musik immer noch, obwohl ihr Vater bereits zu spielen aufgehört hatte. Wenn der Vater sie vor der Tür fand, schickte er sie weg. Kaum spielte er wieder, zog es sie unwiderstehlich zurück zu den Geigenklängen. An den Feiertagen, nach dem Mittagessen, nahm ihre Mutter die Ziehharmonika aus dem Koffer und spielte mit dem Vater. Es erklangen andere Melodien, und alle durften mit den Eltern in der Wohnküche sein. Sie kauerte sich mit ihrer Puppe in die Ecke der Couch oder setzte sich mit ihr auf den Schoß des Großvaters und lauschte diesen so anderen Klängen, die sie zum Lachen brachten oder fremde Landschaften auftauchen ließen, in denen sie sich wie ein Schatten bewegte und ihr alles grau vorkam oder grell schillernd. Manchmal sang die Mutter dazu Frühlingslieder, Weihnachtslieder, fremde Lieder von Polen und Russland. Am liebsten sangen sie alle: ,Lustig ist das Zigeunerleben, varia‘! Einmal legte der Vater seine Geige weg und tanzte mit ihr dazu. Der Tanz hörte nie wieder auf, sie flog durch die Wolken mitten hinein in ihren Glücksstern, der in den Augen des Vaters leuchtete. Als er sie wieder auf den Boden gleiten ließ, flimmerte der Stern durch das Zimmer, erhellte es mit seinem Licht. Auch in den Augen der Mutter und Großeltern leuchtete er, bis der Vater das Zimmer verließ.

Sie wusste bereits, dass es sinnlos war, ihren Vater um etwas zu bitten. Nicht einmal um das Geigenspiel durfte sie ihn bitten. Er hatte ihr diese Bitte nie erfüllt.

Am Sonntagabend trafen sich die Voestler in den Vereinen mit anderen Männern. Der Vater des Kindes war bei der Freiwilligen Feuerwehr und der Musikkapelle, aber vor allem war er Voestler.

Alle Sehnsüchte für den Sonntag aufgespart, alle Sehnsüchte in den Sonntag hineingepresst, bis sie von der Freiwilligen Feuerwehr gelöscht wurden.

Hin und wieder reiste ihre Mutter mit ihr in die große Stadt. Die große Stadt war nicht so schön wie der Himmel, aber fast so aufregend. Die Mutter zog sich dafür eines ihrer Sonntagskleider an, und statt in die bequemen Schuhe schlüpfte sie in Pumps, die sie spätestens im Eissalon erleichtert abstreifte. Meist waren ihre Füße so angeschwollen, dass sie kaum mehr in die wunderschönen Schuhe passten. Auch sie durfte ihr Sonntagskleid anziehen, aber Stöckelschuhe besaß sie keine. Die Mutter steckte ihr zwei Spangerl ins Haar, damit sie ordentlich aussah. Auch die Haare der Mutter waren frisch gewaschen und zu Locken gedreht für die Reise in die große Stadt.

Der Zug fuhr lange über die Eisenbahnbrücke, die ihr Vater von einem Donauufer zum anderen gezaubert hatte. Viele Erwachsene im Zug hatten Angst vor der Donauüberquerung, aber nicht das Kind. Ihr Vater war der beste Zauberer. All die Brücken, die ihr Vater zauberte, hielten tausend Jahre lang. Sie hält, sie hält, flüsterte sie vor sich hin, während der Zug in der Luft schwebte. Sobald alle aufatmeten, nahm sie nur noch die Voest wahr: Dampfende Schlote, riesige Hallen und Hochöfen, ein Funkenmeer, das ihr Vater aufleuchten ließ in seiner Voest, durch die er mit dem Fahrrad fuhr, denn zu Fuß würde er verloren gehen, so groß war seine Voest. Die Stickstoffwerke interessierten sie nicht, nur der gelbe Qualm, der sich manchmal in alle Regenbogenfarben verwandelte, lenkte sie für Momente von der zwischen schwarzen Rauchschwaden hervorglitzernden Voest ab.

Der Großvater arbeitete nicht in der Voest, fand das Kind heraus. Der Großvater war vor unendlich langer Zeit bei der Bahn und seit vielen Jahren in Pension. Die Bahn und der Garten gehörten zusammen. Der Garten, in den sie mit ihrer Großmutter ging – die Hasen füttern, die sich in Ziegen verwandeln konnten oder in Hühner und an den Regenbogentagen in Prinzessinnen –, lag neben den Bahngleisen. Der Großvater hatte dem Kind eine Schaukel in den Zwetschkenbaum gehängt, und das Kind schwang sich hoch in den Baum, die Blätter, Blüten, Früchte, mitten hinein in seine Freude, die mit ihrer verschmolz, und im Winter direkt in seinen langen Schatten, der ihren verschluckte, und in den Himmel, der ganz nah war auf der Schaukel im Zwetschkenbaum. In dem Baum wohnten Schmetterlinge, Kobolde und Feen, Spatzen und Amseln und einen Sommer lang ein Specht. Katzen liebten den Baum, und Baldo, der große, schwarze Hund der Großmutter, lag in seinem Schatten und beobachtete mit gefalteter Stirn ihre Baumabenteuer. Manchmal erhob er sich, knurrte eindringlich, bis das Kind die Schaukel verließ und sich an seinen Bauch schmiegte. Der Hund war viel größer als sie, und es war wunderbar, an seinem Bauch zu liegen. Es war ihr Geheimnis, dass er eigentlich kein Hund, sondern ihr Sternenfreund war. Warum er sich als Hund tarnte, wusste sie nicht. Aber er war auch schon als Clown mit ihr gewesen, und einmal waren sie gemeinsam über das Meer gefahren, jetzt war er eben ein Wolfshund. Solange sie in dieser weichen, warmen Mulde schlief, ließ Baldo niemanden in ihre Nähe, nicht einmal die Großmutter, der er sonst aufs Wort folgte.

Wenn sie aufwachte und einen Regenwurm im Gras entdeckte, schlängelte sie sich mit ihm unter die Erde. Anfangs hatte sie ein wenig Angst davor gehabt, in der dunklen Erde zu verschwinden, doch ihr Lieblingskobold, dessen Nasenspitze grün leuchtete, lachte so fröhlich und war so schnell verschwunden, dass sie vor Eile, ihm nachzukommen, alle Angst vergaß. Das grüne Licht seiner Nase beleuchtete das Treiben unter der Erde: Wurzeln versperrten ihr den Weg, Maulwürfe beschnupperten sie, Käfer krochen eilig durch winzige Gänge, kehrten um und streckten ihre zarten Fühler nach ihr aus; die Mäuse quietschten aufgeregt und versteckten ihre kleinen Köpfe zwischen den noch kleineren Vorderpfoten. Die Erde schmeckte würzig und warm. Wieder zurück an der Sonne, schüttelte ihr der Kobold die Hand, Baldo knurrte, und die Feen verließen den Baum, um ihr die Erde aus dem Haar zu blasen. Das kitzelte und war zugleich so angenehm, dass sie still hielt, obwohl nichts schwieriger war für sie, als bewegungslos auszuharren.

Die Großmutter nahm ihr Strickzeug in den Garten mit, um nicht untätig herumzusitzen, während die Enkelin mit den Feen und Kobolden spielte. Sie strickte warme Wintersocken und sogar Handschuhe, da klapperten die Nadeln lauter als die Störche, die sich hin und wieder in den Garten verirrten. Manchmal fielen dem Kind Zwetschken ins Gesicht, sie lernte, sie mit offenem Mund aufzufangen, wie sie es den Kobolden abgeschaut hatte. Außer der Großmutter erzählte sie niemandem von den Baumbewohnern. Sie wollte nicht, dass der Spott die Kobolde und Feen vertrieb, und verstand nicht, warum die Erwachsenen sie nicht sehen konnten. Vor allem die Kobolde hatten riesige Ohren und hörten unendlich weit. Immer fing das Gras, das die Großmutter den Hasen fütterte, zu blühen an: Das ist der schöpferische Geist Gottes, meinte ihre Omi lachend, während sie den Geschichten ihrer Enkelin lauschte.

Dass es vor tausend Jahren die Voest nicht gab, verstand das Kind nicht, denn ihr Vater hatte die Voest im Tausendjährigen Reich gezaubert, das hatte sich das Kind gemerkt und dass es keine Fragen stellen durfte. Nicht einmal ihrer Großmutter. Das Tausendjährige Reich brachte sie stets zum Weinen. Es war schrecklich für das Kind, die Großmutter zum Weinen zu bringen.

Baldo glaubte nicht an den Hokuspokus von einem tausendjährigen Reich. So etwas hat es auf der Erde noch nie gegeben, flüsterte er ihr zu. Aber sie reden manchmal davon, meinte die Kleine, und Omi weint dann.

Schwachsinn, knurrte Baldo, und wenn sie ehrlich war, konnte sie sich tausend Jahre mit ihren drei Jahren ebenso wenig vorstellen wie er.

In der großen Stadt ging sie an der Hand der Mutter durch eine Märchenwelt, in der es eine Straßenbahn gab und Autos, unzählige Autos, die stanken und einen Lärm machten, der sie oft erschreckte, während es zu Hause still war und es nur drei Autos gab: Der Fleischhauer besaß einen klapprigen Kleinlaster, den er immer wieder zusammenflicken musste, der Arzt fuhr mit einem kleinen Rettungsauto zu den Hoffnungslosen, die sich vor lauter Angst vor dem Sterben an ihre Schmerzen klammerten, als wären sie die Erlösung und nicht der Tod, wie ihr Großvater kopfschüttelnd wiederholte, sobald der Signalton in die Wohnküche drang. Manchmal hämmerte er dabei mit den Fäusten gegen das Fenster, als wollte er den Arzt aufhalten. Die Großmutter schüttelte den Kopf und meinte, lass ihn, er muss doch fahren, wenn er gerufen wird! Das dritte Auto war das schönste und gehörte allen: das Feuerwehrauto, in dem sie bei der Einweihung neben ihrem Vater sitzen durfte. Dafür gab es daheim Pferdefuhrwerke, die wunderbar rochen. Kaum hörte die Großmutter ein Fuhrwerk kommen, holte sie den Kübel und die Schaufel aus dem Hinterhof und sammelte die Pferdeäpfel für den Garten ein. All das Gemüse gedeihe so gut wegen des Pferdemists, erklärte sie ihrer Enkelin, während sie die Karotten und Gurken mit einer Bürste im Brunnenwasser sauber schrubbte. In der Stadt roch es anders, sahen die Straßen anders aus, waren die Häuser höher, und es gab viel mehr Menschen, die sie alle nicht kannte. Zwischen manchen Häusern befanden sich freie Plätze, auf denen Kinder im Schutt spielten. Es machte sie traurig, dass die Kinder keinen Baum zum Schaukeln hatten.

Verwirrend waren die Auslagen für sie, in denen erstarrte Frauen standen, die sich nie bewegten, so eifrig sie ihnen auch zuwinkte. Ein böser Zauber hielt sie fest, und während die Mutter ihre Besorgungen machte, rätselte das Kind, welcher Zauberspruch die Frauen aus ihrer Erstarrung erlösen könnte. Sie versuchte es zuerst mit ,fi, fu, fa, kli, klu, kla, wacht auf geschwind mit dem großen Wind‘, der schon oft geholfen hatte, und den ihr die Donaunixen beigebracht hatten. Dieses Mal half er nicht, die Frauen standen weiterhin starr und gelähmt in den Schaufenstern. Zu Hause legte sie sich neben Baldo unter den Zwetschkenbaum, redete laut vor sich hin: ,rupf, zuck, hupf, blau in grau, saus weg graus, heraus, heraus!‘, und spürte Baldos Bauch vor Lachen beben. Dieses Lachen war unwiderstehlich, sicherlich würden auch die Schaufensterfrauen über diesen Zauberspruch lachen, doch wieder hatten ihr alle Zaubergeister umsonst geholfen. Zuletzt blieb nur noch der einfachste: ,Abrakadabra, simsalabim, nicht länger starr, nicht länger stumm, mein Zauberwort verbannt den Fluch!‘ – doch nichts geschah! Sie wiederholte ihn, lauter werdend, und beobachtete immer verwirrter, dass nicht einmal dieser uralte Zauberspruch die armen Frauen von dem bösen Fluch erlöste.

Einmal zog eine Verkäuferin einer der Frauen im Schaufenster ein Kleid aus, dabei verlor die erstarrte Frau beide Arme. Das Kind hielt die Luft an, überzeugt, auch ihre Arme würden gleich abfallen, doch ihre Mutter behauptete, es seien Kleiderpuppen. Als kein Blut floss, begriff sie, dass die Mutter recht hatte – es waren Riesenpuppen, nichts sonst. Sie faltete alle Zaubersprüche wieder zusammen, hatte auch keine Angst mehr, dass ihr die Arme abfallen könnten. Sie winkte den Riesenpuppen weiterhin zu, spürte ihre Langeweile bis auf die Straße tropfen und fand es sehr merkwürdig, dass die Puppen der erwachsenen Frauen so groß waren wie die Frauen. Immer wieder fragte sie sich, wozu sie Puppen hatten, wenn sie nicht mit ihnen spielten. Ihre Puppe wäre sehr unzufrieden mit ihr, müsste sie immerzu erstarrt am Fenster der Wohnküche stehen.

Ihre Mutter liebte das Eis vom Eissalon auf der Landstraße. Die Stöckelschuhe landeten unter dem kleinen runden Tisch, während Mutter und Tochter ihr Eis schleckten. Sobald die Eissaison begann, fuhr ihre Mutter öfter mit ihr nach Linz, und immer führte der Weg zum Eissalon. Dem Kind gefielen die Farben der vielen Eissorten, doch das Erdbeereis vom Nachbargasthaus schmeckte ihr besser, es war cremiger, und sie bekam eine größere Portion, während sie im Eissalon nur eine kleine Kugel erhielt, denn das Eis im Eissalon war teuer. Ihre Mutter schwankte jedes Mal zwischen Vanille- und Kaffeeeis, warf schließlich einen Hilfe suchenden Blick zur Tochter, die jedes Mal Vanilleeis sagte. Die Farbe vom Kaffeeeis war zu hässlich, und so eindringlich sie es auch fixierte, es war nie bereit, sein hässliches Braun in eine schönere Farbe zu verwandeln.

Manchmal gönnte sich die Mutter einen kleinen Luxus und kaufte sich Seidenstrümpfe, deren hauchzartes Gewebe so empfindlich war, dass sich oft bereits beim ersten Tragen eine Laufmasche bildete. Dann wurde das Kind losgeschickt, um die Seidenstrümpfe zum Repassieren zu bringen. Nie durfte sie zusehen, wie die Laufmasche in ein unauffälliges Gewebe zurückverwandelt wurde. Sicher mit einem Zaubertrick, entschied das Kind, und kramte die weggeworfenen Strümpfe aus dem Mistkübel, um sich im Repassieren zu versuchen. Sie zauberte sich in die winzige Wohnung, in die sie die Strümpfe brachte, wurde die feine Dame darin, deren zartes, rotes Gesicht sofort hinter dicken Brillengläsern verschwand, sobald sie einen Strumpf besah. Die Gläser lagen schwer auf ihrer Nasenwurzel, aber ohne Gläser würde sie die Strümpfe nicht repassieren können. Sie murmelte ach und oh, welch eine schöne Laufmasche, nur einen Faden breit, wunderbar, das ist kein Problem, nur gut, dass du kleine Ausreißerin gleich entdeckt wurdest, und starrte den mehrfach repassierten Strumpf mit der jetzt viele Fäden breiten Laufmasche an, um diese wieder in ein unauffälliges Gewebe zu verwandeln. Das Ergebnis war jedes Mal gleich enttäuschend. Während sie diese breiten Laufmaschen anstarrte, geriet sie außer sich vor Wut – du dumme Kuh!, du bist böse!, schrie sie die Laufmasche an, böse und nutzlos!, weg mit dir, weg, weg, weg! Während sie schrie und zitterte, stopfte sie die Strümpfe in den Mistkübel, stopfte sie ganz nach unten, um sie nicht mehr sehen zu müssen, zerschnitt sich die Arme dabei, verletzte sich die Finger, merkte es nicht.

In einem Geschäft auf der Landstraße in Linz probierte ihre Mutter manchmal Kleider an – es gab feine Sommerkleider, in denen sich ihre Mutter in eine Blume oder Fee verwandelte, sobald sie sich drehte und ihrem Spiegelbild zulächelte. Das Kind klatschte und lachte – für sie war ihre Mutter in jedem Kleid wunderschön. Doch nie kaufte die Mutter eines der Kleider, nicht einmal jenes, das ihr am besten gefallen hatte. Einmal weinte eine Verkäuferin, während sie das erste von all den herumliegenden Kleidern wieder zurückhängte. Die Mutter schüttelte nur den Kopf, auf der Straße lachte sie laut: Hast du gesehen, wie alt ihr Pulli ist? Sie kann sich genauso wenig wie ich ein teures Kleid leisten, aber wenigstens kann sie diese schönen Sachen den ganzen Tag ansehen. Stell dir vor, eine Frau würde alle Kleider auf einmal kaufen – was täte sie in einem leeren Geschäft, diese dumme Kuh!

Das Kind wiederholte fröhlich ,dumme Kuh!‘ Die Mutter ließ ihre Hand los und ging viel zu schnell weg. Sie lief ihr nach, vergaß die dumme Kuh, rief stattdessen Mami! Mami! Fußgeher blieben stehen, beobachteten sie, manche riefen der Mutter etwas zu. Als die Mutter endlich auf sie wartete, die Tochter keuchend und weinend bei ihr ankam, hob die Mutter sie hoch und lachte: Du hast doch nicht wirklich geglaubt, dass ich dir davon laufe?

Das Kind spürte, dass ihre Mutter sie anschwindelte, sie vor ihr davon laufen wollte, nur auf sie gewartet hatte wegen all der Blicke, aber vor Erleichterung lachte sie mit ihr und schwieg. Sie nahm sich fest vor, nie wieder ,dumme Kuh‘ zu sagen, nicht einmal zu einer Laufmasche, obwohl sie nicht verstand, warum sie etwas, das die Mutter sagte, nicht sagen durfte.

Manchmal gingen sie nach dem Besuch des Kleidergeschäfts zum ,Kastner‘, dem großen Stoffgeschäft, und die Mutter suchte nach einem billigen Stoff, der dem des Kleides ähnlich sah, das ihr am besten gefallen hatte. Mond und Sterne verwandelten sich in Kugeln, Blumenwiesen in Rosen, Himmelblau in Himmelsgrau, doch die Mutter lächelte, meinte, mehr ist nicht drin, kaufte den Stoff für ein Kleid, das sie sich selber nähen würde, kaufte ein wenig mehr davon und verwandelte dieses Wenig in zwei Träume: ein Kleid für die Tochter und eines für die Puppe, die am glücklichsten war, wenn sie die gleichen Kleider trug wie sie. Die Sommerkleider waren hell, die Winterkleider dunkel. Das Kind trug die Sommerkleider über den Winterkleidern, sie wollte nicht in den dunkelgrünen, dunkelblauen, braunen Sachen herumlaufen. Auch ihrer Puppe zog sie immer die Sommerkleidchen über die dunklen an. Meinetwegen, gab die Mutter nach einigen Kämpfen nach, im Sommer sind sie dir ohnedies zu klein.

Baldo wusste immer, wann es Zeit war für eine Sternenreise. Sein Bellen klang hell, bis es in ein Heulen überging, vor dem sich ihre Puppe immer noch fürchtete. Die geliebte Puppe wurde getröstet und beschworen, endlich fliegen zu lernen! Ich möchte dir die Sternenwelt zeigen, mit dir wäre sie sicher noch schöner. Bist du denn gar nicht neugierig? Du brauchst keine Angst zu haben, Puppen dürfen neugierig sein, nur kleine Mädchen nicht! Es ist sehr böse, neugierig zu sein. Nicht weinen, du bist ja eine Puppe! Ohne Sterne kennst du nur die Maussicht, und die ist am allerlangweiligsten von allen, wenn du keine Maus bist, frag Baldo! Sie hielt ihre Puppe vor Baldos Nase, der sie keines Blickes würdigte – ein Wesen, das nicht fliegen konnte, existierte für ihn in den Sternennächten nicht. Er stupste sie sanft, ging langsam voran, öffnete ihr alle Türen. Nachts an der Donau reisten sie bis ans Schwarze Meer und noch viel, viel weiter zu Sternen, für die sie keine Namen hatten, aber wo es warm und friedlich war und immerzu die Sonne in allen Regenbogenfarben schien. Am liebsten war ihr der Stern der Freude, wo alle fröhlich waren, die Worte sanft klangen und jeder Wunsch sofort erfüllt wurde. Einmal stellte sie sich einen Eisbecher, größer als sie selbst, voll mit Erdbeereis vor, da stand er vor ihr – sie schämte sich wegen ihres dummen Wunsches. So viel Eis würde sie nie essen können. Baldo schleckte tapfer davon, bis ihm schlecht wurde, trotzdem blieb viel zu viel Eis übrig. Niemand war böse auf sie, aber seither achtete sie auf ihre Wünsche, sobald sie auf dem Stern der Freude ankamen, wo immer noch ein riesiger Becher mit Erdbeereis auf sie wartete. Erst, wenn es auf der Erde hell wurde, stupste Baldo sie erneut, und sie kehrten schnell in das Haus zurück, schneller als schnell, so schnell, dass niemand ihre Abwesenheit bemerkte.

Montagworte waren Frauenworte, Alltagworte, Waschtagworte. Den Waschtag konnte nur der Voest-Wind verhindern.

Der Wind, der Wind, das launische Kind – sagten die Windexpertinnen und starrten Beschwörungen in den Himmel, während sie die Wäsche auf die Leinen im Hof hängten.

Dreh dich nicht, flehten sie den Voest-Wind an.

Manchmal drehte er sich doch, dann rannten sie zur nassen Wäsche und nahmen sie wortlos ab. Immer war der Wind schneller als sie, hatte er seine Rußpartikel bereits auf der Wäsche hinterlassen, die Wäsche ist ein feines Sieb für ihn.

Die stummen Frauen hüteten die Sprache. Sie schwemmten die Worte im Löschteich, bis die Wäsche in Lumpen zerfiel.

Das Kind mochte die Waschtage. Bereits in der Früh holte die Mutter wie die anderen Frauen vom Stadtbrunnen viele Kübel Wasser, die sie in den Waschkessel schüttete, bevor sie ihn heizte. Das Kind durfte mit der Mutter zum Brunnen gehen und ihren kleinen Eimer ebenfalls mit Wasser füllen. Langsam wurde es in der Waschküche heiß und feucht, roch es nach Kernseife. Es gab eine Waschrumpel, die Musik machte, wenn die eingeseifte Wäsche darauf hin und her fetzte; der Kessel summte, die Holzscheiter knisterten, und die Mutter sang und fluchte, aber die Flüche galten nie der Tochter, sondern den bösen Flecken, die sich einfach nicht auswaschen lassen wollten. Da war auch ein großer Holzstiel, mit dem die Mutter die Kochwäsche immer wieder umdrehte. Mutter und Tochter bekamen rote Gesichter und wurden zu Dampfgespenstern, die sich in der Wassersprache verständigten: Platsch, sagte die Mutter, und die Tochter antwortete mit platsch, platsch, und die Mutter ahmte das Meer nach und die stürmischen Wellen, und den Regen übernahm das Kind – obwohl sie sich kaum noch sehen konnten in all dem Dampf, hören konnten sie sich immer.

Die ausgekochte Wäsche legte die Mutter in einen Korb, um sie zum Löschteich zu tragen. Sein Wasser war dunkelgrün, doch die Wäsche blieb weiß. Ein Wunder, staunte das Kind, das Wunder liebte. Im Winter waren die Hände der Mutter fast steif gefroren, das Kind schimpfte mit dem Wasser, bis die Mutter ihr diesen Unsinn verbot. Das Kind durfte die Taschentücher und Geschirrtücher schwemmen, auswinden, wieder schwemmen. Sie sah ihre Hände im Wasser, sie war das Wasser, das die Hände umspülte. Ihre Hände fühlten sich immer warm an, aber sie versteckte sie schnell, damit die Mutter nicht böse wurde.

Die Stadt war umgeben von den Resten einer mittelalterlichen Stadtmauer, gleich hinter dem Haus der Großeltern. Das Kind liebte die zerbröckelnde Mauer, aus deren Ritzen riesige Farne wuchsen, größer als sie. Sie grub ihre Nase in die Erde und befand sich im Urwald, hörte die Löwen seufzen, die Papageien, die größer waren als ihre Puppe, rufen und die Brüllaffen schreien, während sie sich von Ast zu Ast schwangen. Ihr Pferd wieherte, als ein Krokodil vor ihnen über die feuchte Erde kroch, doch sie hielt die Zügel fest in der Hand, während es sich aufbäumte, ritt weiter, vorbei an Brunnen, aus denen Himbeersaft und heiße Schokolade flossen, an Menschen, die fliegen konnten, und rastete bei den Mädchen, die alle kluge Prinzessinnen waren und alles fragen durften, was sie wollten.

Auch dumme Fragen, wollte das Kind wissen?

Was ist eine dumme Frage, bekam sie zur Antwort.

Ihr fiel keine ein, da lachten die Prinzessinnen und fragten:

Woher kommt der Wind?

Warum fallen die Sterne nicht vom Himmel?

Wieso wachsen unsere Zähne nur einmal nach und die der Haifische immer wieder?

Und das Kind fragte:

Gab es das Tausendjährige Reich?

Warum tun manche Worte weh?

Warum darf der Pfarrer schreien?

Warum dürfen Erwachsene schwindeln?

Warum dürfen Kinder nicht lügen?

Die Prinzessinnen staunten über ihre Fragen und überredeten sie, bei ihnen zu bleiben, denn ihre Fragen wären ihnen nie eingefallen. Sie erzählten ihr, dass die Erwachsenen unruhig wurden, wenn sie bis abends keine neugierigen Fragen in den Urwald gerufen oder in die grün funkelnde Luft geworfen hatten. An diesen Abenden versammelten sich Eltern, Großeltern, Tanten und Onkel in den Baumwipfeln und grübelten, was sie falsch gemacht hatten an diesem Tag, denn die Neugier der Prinzessinnen war ihre Nahrung. Die Prinzessinnen verhielten sich still, während sie den Rufen der Erwachsenen lauschten: Sie riefen nach bunten Vögeln und leuchtenden Sternschnuppen, nach dem Regenbogen, der nächtlichen Sonne und dem taghellen Mond, beteten um den himmlischen Wind, der die Blätter singen und die Wipfel tanzen ließ, um die Neugier der Prinzessinnen zu wecken und erst, wenn die Fragen der Mädchen nicht mehr verstummten, jubelten die Erwachsenen, schwebten glücklich von den Bäumen und beantworteten eifrig alle Fragen.

Ein altes Stadttor war noch erhalten, durch das sie lieber rannte als ging. Dunkel und feucht war es in ihm, eigenartige Wesen wohnten in seinen Ecken und Nischen, die zu heulen begannen, nach ihr griffen, sobald sie sich näherte. Unheimlicher war nur das Eingangstor zum Schloss, durch das sie nicht gehen konnte, ihre Füße weigerten sich, kein Drängen und Schimpfen half. Sie hatte ihrer Mutter all die mit Pech überzogenen Gestalten, die sich wie riesige Schlangen auf der Erde wanden, gezeigt, doch ihre Mutter sah nichts und verbannte sie in das Reich ihrer Fantasie. Trotzdem konnte das Kind nicht auf sie steigen und begriff nicht, warum ihre Mutter ihr das zumutete. Entsetzt beobachtete sie, wie andere über verbrannte Gesichter gingen, Füße in pechgeschwärzten Bäuchen oder Gliedern versanken und wusste sich nicht anders zu helfen als zu schreien, sobald die Mutter sie hoch hob, so laut, dass es der Mutter peinlich war und sie lieber umkehrte.

In ihrem Zimmer erzählte sie ihrer Puppe von einem Feuergrafen, dem es den größten Spaß machte, seine Untertanen auf das Schloss zu befehlen, um sie beim Schlosstor mit Pech zu überschütten, von einer Maskengräfin, die alle ihre Verehrer verbrannte, und beobachtete das Zittern der Puppe und tröstete sie. Sie konnte ihrer Mutter nicht erklären, woher die fremden Worte kamen, ahnte nicht einmal, was ein Verehrer ist oder ein Untertan.

Mit deiner Fantasie bringst du uns alle ins Unglück, die ganze Stadt lacht schon über uns, schimpfte die Mutter und schlug die Tür hinter sich zu. Die Puppe schluchzte und war untröstlich.

Am Samstagabend wurde das Wasser für den Waschzuber im Kessel geheizt. Zuerst badete der Vater, dann gingen Mutter und Tochter in die Waschküche. Nie sonst war ihre Mutter so ausgelassen wie in dem heißen Wasser, das ihre Haut rot färbte. Sie seifte die Tochter und sich ein, schrubbte zuerst den kleinen, dann ihren Körper. Wir müssen frei vom Voest-Ruß sein, wenn wir die Delfine sehen wollen, sonst fürchten sie sich vor uns und schwimmen weit draußen im Meer an uns vorbei, sagte sie. Oder sie machte sich und ihre Tochter sauber, um die Farbenpracht der Blumen nicht zu gefährden. Wenn sie endlich alle Rußpartikel abgewaschen hatte, spannte sie das Handtuch zwischen ihren weit nach oben gestreckten Armen als Segel auf und los ging es! Die Inseln waren so fern, dass nur der Wind helfen konnte. Und der Wind half, sobald ihn die Mutter rief: Wind, komm und bringe uns in den Süden, rief sie mit einer plötzlich hellen Stimme, bringe uns nach Kuba, ich will tanzen! Ich rieche das Meer, oh, es riecht wunderbar! Ein anderes Mal bat die Mutter den Wind, sie um Afrika herum zu schiffen und in Madagaskar an Land zu bringen, bei den Lemuren, die es nur dort gab, nirgendwo sonst auf der Welt: Sie sind nicht größer als du, manche sind winzig, und sie stehen gerne aufrecht wie wir und tanzen, und einmal sollten wir wie die Lemuren tanzen, das wird wundervoll. Madagaskar, wiederholte die Kleine, und bekam den gleichen sehnsuchtsvollen Blick wie ihre Mutter, verliebt in den Namen und die Lemuren, die im Nebel auftauchten, aus dem Wasser sprangen und die Waschküche in Madagaskar verwandelten. Manchmal, wenn der Wind das Segel nicht und nicht straffen wollte, blieb ihnen immer noch die Wasserschlacht: Sie bespritzten sich so lange mit Wasser, bis nicht nur ihre Haut, sondern auch ihre Augen rot glühten.

Nach dem Bad zog die Mutter ihr Abendkleid an. Darin sah sie aus wie eine Märchenfee, und ihre braunen Augen leuchteten und wurden grün wie in der Sonne. Während das Kind in ein Badetuch gehüllt beim Küchenherd saß, tanzte die Mutter in ihrem langen, roten Kleid zu einer Musik, die nur sie hörte. Sie wirbelte herum, umarmte die Luft, hob ihre Tochter hoch und drehte sich mit ihr im Kreis. Manchmal, wenn der Vater noch nicht schlief, tanzte er mit der Mutter. Das Kind fand die immer gleichen Bewegungen der Eltern langweilig, sie schlief sogar ein, während sie ihnen zusah. Solange die Mutter allein tanzte, wurde sie immer wacher. Wie schön die Mutter tanzte, nie wusste sie, wie sie sich wirbeln, drehen, beugen, strecken würde. Immer hoffte sie, dass die riesige Voest den Vater schlafen ließ, wenn die Mutter sie nach dem Bad in die Wohnung trug.

Einmal im Jahr, für den Feuerwehrball, ging die Mutter in ihrem roten Kleid in den Ballsaal, und obwohl sie diese Nacht bei den Großeltern schlafen durfte, wurde sie jedes Mal böse auf ihren Vater, der ihr die Mutter wegnahm. Erst die heiße Schokolade der Großmutter versöhnte sie wieder mit ihrem allerliebsten Papi, der in seinem schwarzen Anzug wie ein Prinz aussah.

Die einzigen Fremden in der Stadt waren Kriegsgefangene aus Sibirien, die eigentlich keine Fremden waren, nur verlorene Söhne, die endlich heimkehrten. Das Kind erriet, dass es bei ihrer Geburt noch wirkliche Fremde in der Kleinstadt gegeben hatte: von russischen Soldaten wurde geflüstert, und die Wiener Tante pries den Tag, an dem die Russen endlich abgezogen waren. Das Kind stellte sich eine unendliche Völkerwanderung vor, doch die Bilder wollten nicht bunt werden. Sie blieben genauso grau wie die Gesichter der verlorenen Söhne. Sibirien ist ein kaltes Land, erzählte die Großmutter dem Kind, mehr wisse sie nicht. Über die Kriegsgefangenen erfuhr sie nur, dass alle einen Nervenschaden aus dem vereisten Sibirien mitgebracht hatten vom Hunger und Durst und der schweren Arbeit oder der Kälte oder der Einsamkeit, so genau wollte sich keiner, den sie fragte, festlegen. Seitdem sie vom ewigen Eis in Sibirien gehört hatte, fror sie leicht. Die verlorenen Söhne haben den Eiswind mitgebracht, erzählte sie ihrer Mutter, als diese sie zwingen wollte, die Weste auszuziehen an einem sonnigen Frühlingstag. Die Mutter starrte sie an, dann schlug sie ihr ins Gesicht, schreiend: Hör auf mit diesem Wahnsinn, deine Fantasie macht mich krank! Das Kind fröstelte noch mehr, behielt die Weste an und lief zu den Großeltern, schmiegte sich an Baldos warmen Bauch und weinte leise. Ich darf doch nicht lügen, schluchzte sie. Natürlich ist lügen dumm, seufzte Baldo. Aber du brauchst ihr ja nicht alles erzählen, erzähle es mir oder Oma und Opa, die sind alt und verstehen mehr von der Welt – etwas verschweigen ist noch keine Lüge. Sie sah Baldo in die Augen: Schwörst du? Ich schwöre! Baldo schleckte ihr mit seiner großen Zunge die Tränen ab. Hm, murmelte er, die schmecken gut, ich habe das Salz vermisst, du hast lange nicht geweint.

Als die Mutter in die Wohnküche der Großeltern kam, knurrte Baldo, bis sie die Küche verließ.

Der Großmutter taten die Ehefrauen der Heimkehrer leid, was alles noch geheimnisvoller machte. Sie rätselte lange, wo dieses eigenartige Land sein könnte, aus dem die Männer so verstört zurück kamen, dass sie sich, kaum in der Stadt eingetroffen, nie wieder sehen ließen. Sie hätte gerne jemanden nach Sibirien gefragt, aber Sibirien war fast so geheimnisvoll wie das Tausendjährige Reich. Nur wenn sie mit den Prinzessinnen im Urwald spielte, kannte sie die Antworten.

Über Afrika redeten alle gerne: von der Gluthitze dort, den wilden Tieren. Für das Kind lag Afrika irgendwo in der riesigen Voest ihres Vaters, und die Löwen schlichen sich um den Hochofen, wärmten sich an seiner Glut.

Kaum war das Kind drei Jahre alt, fragten die Verwandten und Nachbarinnen, was sie einmal werden wolle. Das Kind verstand die Frage nicht. Sie war überzeugt zu bleiben, was sie war: ein Engel. Aber das verriet sie niemandem, nicht einmal ihrer Großmutter, mit der sie jeden Tag in die Frühmesse ging, seitdem sie sich selbst die Schuhbänder binden konnte. Ihre Mutter hatte nichts davon hören wollen, doch sie hatte sich jeden Morgen fertig angezogen zur Wohnungstür gestellt, bis die Mutter nachgab. Die Kirche war der schönste Ort neben dem Garten. Die Engel dort hatten goldenes Haar wie sie, und wenn sie die Augen schloss, schwebte sie unter der Kirchendecke herum und war einer von ihnen. Am liebsten ließ sie sich neben der Jungfrau Maria nieder, um ihren Geschichten über Jesus zu lauschen, der bereits als Kind zahlreiche Wunder gewirkt hatte, wovon natürlich niemand etwas erfahren durfte, denn ein wundervolles Kind war noch unheimlicher als ein wundervoller Erwachsener. Ihre Stimme war die zärtlichste, die sie je gehört hatte, noch zärtlicher als die der Engel und Feen. Manchmal wurde sie traurig, wenn sie sich ihre tiefe Stimme vorstellte, die nie so zart klingen würde wie die der Jungfrau, aber Maria tröstete sie: Gottes schöpferischer Geist hat jedem Menschen eine einmalige Stimme geschenkt, an der die Menschen einander erkennen können. So getröstet hörte sie wieder den Geschichten über Jesus zu, wenn sie nicht abgelenkt war von Gottes schöpferischem Geist. Die Jungfrau, spürte sie, hatte viel schönere Worte für Gott als der Pfarrer, der noch nie vom schöpferischen Geist Gottes geredet hatte. Dabei hörten sich diese Worte an wie himmlische Musik.

Nur Jesus näherte sie sich nie, sah auch nicht auf zu ihm. Einmal hatte sie es versucht, doch im selben Moment fing sie so heftig zu weinen an, dass ihre Großmutter verstört mit ihr die Kirche verließ.

Diese Verstörung der Großmutter verwirrte das Kind noch mehr. Sie begann zu zittern, wie in den Tagen vor Weihnachten. Vor Weihnachten war es einfach für die Erwachsenen: die Aufregung, die Vorfreude auf die Geschenke, sagten sie zueinander. Niemand fragte das Kind, warum sie zitterte. Aber Weihnachten konnte an diesem warmen Sommermorgen, der in der Kirche angenehm kühl war, keine Bedeutung haben. Es ist das Jesuskind, sagte die Großmutter, und warf dabei einen Hilfe suchenden Blick zum Himmel. Sie glaubte wahrhaftig eine Stimme zu hören, die direkt aus dem Himmel kam: Du musst deine Enkelin beschützen, ob du sie verstehst oder nicht! Die Stimme hatte zart und mächtig zugleich geklungen und sogar heiter, als sie hinzufügte: Fürchte dich nicht!, erzählte die Großmutter ihrer Enkelin, wollte sie ablenken, wollte, dass dieses Zittern aufhörte, den kleinen Körper durcheinander zu wirbeln, flehte sie an, damit aufzuhören! Wie soll ich sie denn beschützen, so hilf mir, beschwor sie die Stimme, wieder mit dem Blick zum Himmel. Es kam keine Antwort mehr. Sie umarmte ihre Enkelin, und zum ersten Mal fragte jemand die Kleine, was sie so erschüttere. Das Kind beruhigte sich, doch antworten konnte sie nicht. Es ist zu groß, sagte sie nur.

Im Festsaal des Gasthauses, gleich neben dem Haus der Großeltern, sollte ein Weihnachtsstück aufgeführt werden. Engel begleiteten Maria und Josef auf ihrem Weg nach Bethlehem, um sie zu beschützen. Für das Kind war kein Platz in dem Stück – sie sei zu klein, zu jung, ihre Stimme zu tief für einen Engel, immer neue Ausreden erfand die Leiterin des Stücks. Das Kind ließ sich nicht beirren. Sie war sicher, sie würde einer der Engel sein, die Leiterin würde nachgeben, ihre innere Gewissheit war unumstößlich. Sie schlich sich in die Proben, konnte bald jede Engelsrolle auswendig. Als die Leiterin händeringend um mehr Stockerl bat, ihr kein Kind antwortete, nutzte sie den Augenblick: Sie hatte sogar zwei anzubieten, eines von den Eltern und eines von den Großeltern. Sie war der kleinste Engel mit der tiefsten Stimme. Auf ein Nachthemd nähte ihr die Mutter silberne und goldene Bänder, auf die Stirn bekam sie einen goldenen Stern und an ihrem Rücken befanden sich weiße Flügel, die nun für alle sichtbar waren. Sie spürte, es war nur ein Spiel. Sie brauchte keine selbst gebastelten Flügel, um fliegen zu können, und der kleine Jesus in der Krippe war nur eine Puppe. Diesen Jesus konnte sie ansehen, hochnehmen und herzen, wie es die Mutter und Großmutter mit ihr machten. Er war nicht der Jesus in der Kirche, der dem wirklichen Jesus so nahe war, dass sie es nicht ertrug, ihn anzusehen. Das Spiel wurde durch die vielen Proben sogar ein wenig langweilig, aber endlich konnte sie sagen: Ich bin ein Engel. Für einige Wochen konnte sie die Wahrheit sagen.

Nach der Vorstellung trug ihr Vater sie auf seinen Schultern die paar Meter nach Hause, ihre Großeltern klatschten dazu, und ihre Mutter umarmte sie in der Wohnküche und sagte: Heute ist es Zeit für den Lemurentanz. Eltern und Großeltern bildeten einen Kreis, und sie schwebte und schwebte in der Mitte, wurde hoch gewirbelt und sicher aufgefangen, und alle piepsten in den höchsten und brummten dann wieder in den tiefsten Tönen, bis sie nur noch lachten.

Die Märchenworte gehörten der Großmutter. Sie kochte für die Enkelin heiße Schokolade und für sich und den Großvater Kamillentee. Die Kamillenblüten holte die Großmutter von der Fensterbank, auf der sie die gelben Blüten zum Trocknen ausgelegt hatte. Die Schokolade wurde in einem dicken Gefäß geschmolzen und langsam mit Milch verrührt. Der Großvater saß Pfeife rauchend auf seinem Schaukelstuhl. Nie räusperte er sich oder sagte ein Wort, während die Großmutter erzählte. Hin und wieder warf das Kind einen kurzen Blick zu ihm und sah, dass er genauso gespannt zuhörte wie sie. Sogar sein Geheimnis, das ihn oft umhüllte und unansprechbar machte, vergaß er während der Märchenstunde. Wenn er in seinem Geheimnis wohnte, ging die Großmutter mit noch leiseren Schritten durch die Wohnküche als sonst. Wo ist er, wenn er nicht bei uns ist, fragte die Kleine sie einmal im Garten. Weit, weit weg, antwortete die Großmutter und streichelte ihr Haar. Während der Märchenstunde war der Großvater nicht weit, weit weg, sondern so nah, dass die Enkelin sogar seinen Geruch wahrnehmen konnte zwischen Kamillen- und Schokoladenduft.

Das Kind beobachtete ihre Großmutter und war überzeugt, dass die Großmutter die Märchenwelt liebte. Dort lebten all die Wesen, die für sie unsichtbar blieben: Feen, Zauberer und weise Frauen, sprechende Löwinnen, Drachen und das Einhorn. Dem Kind waren sie alle vertraut, und sie wartete gespannt auf die Engel, diese wunderbaren Engel, über die sie nie genug hören konnte. Auf alle Märchen hätte sie verzichtet, aber eine Märchenstunde ohne ein Märchen über ihren Schutzengel war ihr unvorstellbar.

Dein Schutzengel, fing die Großmutter zu erzählen an, gehört zu den weisen Schutzengeln. Er wird dich vor keiner Gefahr bewahren, die du selbst meistern kannst, aber vor jeder, der du nicht gewachsen bist. Natürlich weiß dein Schutzengel, dass du mit deinen dreieinhalb Jahren noch ertrinken würdest, wenn du in die Donau fallen tätest. Deshalb fliegt er, wenn wir an der Donau spazieren gehen, immer neben dem Strom und stupst dich sanft landeinwärts, wenn du ihm zu nahe kommst, so sanft, dass du es kaum bemerkst. Aber wenn du im kommenden Sommer schwimmen lernst oder im nächsten, dann wird er dich nicht mehr davon abhalten, in den riesigen Strom zu gehen, der bis ins Schwarze Meer fließt.

Wo ist er dann, fragte das Kind schnell, denn es sah, wie die Augen der Großmutter im Schwarzen Meer ertranken, an dessen Küste einst Medea wohnte, die schönste Königin, die je auf Erden lebte, die von Jason nach Griechenland gelockt wurde, eine Fremde inmitten der Fremde, wie ihr die Großmutter erzählte. Ihre Einsamkeit stellte sich die Großmutter grenzenlos vor, während sie Medea auf der Fahrt über das Schwarze Meer begleitete und ihr Blick immer trauriger wurde. Die Enkelin reiste mit der Großmutter zu Medea, und wenn sie rechtzeitig seufzte, bevor Medea einen Blick auf Jason werfen konnte, kehrte die Großmutter kopfschüttelnd in die Wohnküche zurück wie heute.

Entschuldige, Liebling. Nun, sobald du schwimmen kannst, wird er über dir fliegen.

Und wenn ich fliege?

Wird er neben dir fliegen. Dein Schutzengel kann alles, was du kannst, und noch viel mehr.

Was kann er, was ich nicht kann, fragte sie aufgeregt. Manchmal kam erst jetzt der Höhepunkt der Märchenstunde, manchmal schüttelte die Großmutter nur den Kopf und schickte sie schlafen. Trotzdem konnte sie nie widerstehen, diese Frage zu stellen. Sie wusste bereits, dass ihr Schutzengel zu Gott fliegen und ihm Gott keine Bitte abschlagen konnte. Sie wusste auch, dass ihr Schutzengel sie überallhin begleiten würde. Kein Pferd, keine Eisenbahn, kein Schiff waren ihm zu schnell. Auch hatte er keine Angst, ja, er kannte nicht einmal das Wort Angst. Und er konnte in der Dunkelheit genauso gut sehen wie im Licht, das beeindruckte das Kind besonders, denn nachts war sie sehr ungeschickt und hatte viel leichter vor Geräuschen Angst als am Tag, außer, wenn Baldo bei ihr war. Baldo vertrieb die Angst schneller, als sie entstehen konnte.

Die Augen der Großmutter schwammen wieder im Schwarzen Meer, heute würde sie wohl nichts mehr erzählen wollen. Doch sie hatte sich geirrt, die Großmutter sah sie zärtlich an und sagte: Er kann dich glücklich machen, wenn du glaubst, vor Unglück zu sterben.

Da räusperte sich der Großvater zum ersten Mal und sagte mit seiner tiefen Stimme: Frau, was redest du. Eine Dreijährige weiß nichts von Unglück und Sterben!

Ich bin schon dreieinhalb, Opi!

Wieso Kinder immer älter sein wollen, seufzte der Großvater und zog an seiner Pfeife.

Sie weiß mehr darüber als du und ich zusammen, beharrte die Großmutter.

Das Kind lachte. Alle Erwachsenen hatten Angst vorm Sterben, außer ihre Großeltern. Sie schmiegte sich an ihren Großvater und sagte: Sterben ist eine weite Reise. Es tut gar nicht weh.

Da bin ich ja beruhigt, meinte er. Und wollte wissen, wohin die Reise gehen würde.