Inhalt
IM LAUF DER ZEIT
Gerhard Polt geht auf die Bühne
Begeisterung für enorme Ratlosigkeit
Ein Phänomen · Lebensmaximen
Die Welt ist alles, was der Fall ist
Die Gunst des rechten Augenblicks · Zentralraum Metzgerei · Trauma: kein Thema · Wie’s der Teufel will – oder ob der Herrgott über sich selbst lachen kann
Die Kleine Freiheit der Hundskrüppel
Urdramaturgie Streich · Die Eltern Polt · Schutthaufen Amalienstraße
Ein Student als alter Schwede
Alter Schwede · Der Irrealis der Vergangenheit
Ob es ein richtiges Leben geben kann
Die Richtigen · Fast wia im richtigen Leben · Öha: Der Friedl Brehm Verlag · Noch mehr Richtige · Kein Wenn und Aber · Spielraum
Einer, der nichts sagt, auf dem Weg zum Erfolg
Von der Kunst, nichts zu sagen · Jeder Unsinn braucht seine Zeit · Kehraus · Nastrovje! Atomkraft? Nein danke · Die Kammerspiele · München leuchtet · Sinnliche Aufklärung · Fast ein Miesbacher: Helmut Qualtinger · Die Exoten wandern ins Residenztheater · Diridari · Pronto! Der Teilzeit-Italiener · Man spricht deutsh
Eine vitale Minderheit gegen die Mehrheit
Ein Mann verlässt den Ort seines einmaligen Daseins · Herr Ober! – ein Liebesfilm im Grunde · Tschurangrati · Tschurangrati im wirklichen Leben ·
Im dritten Jahrtausend ein Jubiläum
Der Glachl: ein übler Fremdkörper · Germanikus: Kaiser Polt in Rom · Länger als bis zur silbernen Hochzeit: Gerhard Polt und die Biermösl Blosn
KOSMOS POLT
Es zirpt, klingt und rockt: Die musikalischen Partner
Die Biermösl Blosn · Das wär doch was: Der Pianist Wolfgang Leibnitz · Die Toten Hosen
Gott und die Welt: Themen
Ham Sie überhaupt Abitur? · Ohne uns gäb’s dich gar nicht: Gerhard Polt und die CSU · Schöner Wohnen als Herumschildkröteln · Leberkäs Hawaii oder das Maß aller Dinge: ein Obatzda · Con tutto cuore: Papst Polt versus Fritteuse
Zwischen Auffischiassn und Dada: Ausdrucksformen
Die Anwesenheit von Abwesenheit: Ein Monster an Bühnenpräsenz · Auffischiassn · Undogmatische Denkerei – kein Kabarett · Mousikae – vom Wesen und Klang des Bairischen · Sacklzement: Ein Lob den Schimpfwörtern · Wega der Grammatik · Copacabana oder Harakiri – dadaistische Formen der Textproduktion
In der Vorhölle der Interpretation
Eine Probedeutung als Propädeutik · Knapp daneben ist auch daneben, oder: Ganz nah an der Wirklichkeit · Meint der uns? Die Nähe zum Publikum · Von der Vortäuschung echter Tatsachen
BILDTEIL
ANHANG
Editorische Notiz
Anmerkungen
Werkverzeichnis (Auswahl)
Dank
Gerhard Polt geht auf die Bühne – und spielt. In seinem ihm eigenen, eigentümlich schlendernden Gang betritt er die Bühne, beinah etwas zögerlich, als stapfte er einen Abhang hinauf. Und dann, dann spielt er Polt. Er geht auf die Bühne und macht nichts und sagt nichts. Und alle lachen. Doch, er macht schon etwas: Er macht – ein Nichts. Das geht eigentlich nicht. Auf der Bühne schon gar nicht. Im Fernsehen überhaupt nicht. Und dann sagt er doch etwas. Er sagt: »I sag nix!« Mit diesem Auftritt wird er unverzüglich zur Legende, 1980, bei der Verleihung des Kleinkunstpreises in Mainz, ausgestrahlt im ZDF. Polt hat als Preisträger zehn Minuten Sendezeit für seine Dankrede – und sagt nichts und tut nichts. Außer dass er sich über das Medium Fernsehen lustig macht, und darüber, was das kostet, diese zehn Minuten Sendezeit.
Dieter Hildebrandt erzählt, wie er zum ersten Mal Gerhard Polt gesehen hat, damals im Schwabinger Bräu. Wie er von Anfang an dieses Gefühl hatte: »Jetzt kommt einer, das ist er! Der hat’s!« Dabei hat auch bei diesem Auftritt dieser Mann nichts gesagt, erst nach einer Zeit, die Hildebrandt schon »unverschämt lang« vorgekommen ist, sagt er etwas, etwas ganz und gar Unartikuliertes, so etwas Ähnliches wie »Wooau!«. Und was macht er? Nichts macht er, das heißt, doch, er geht von der rechten Seite auf die linke Seite der Bühne, ganz langsam, und schaut sich die Menschen im Zuschauerraum an. Irgendetwas scheint ihm nicht zu passen. Schon will er offenbar die Bühne verlassen, überlegt es sich im letzten Moment doch noch einmal anders, lächelt – und sagt: »Mei.« Das ist alles. Jetzt explodiert die Stille, auf einen Schlag brüllt das Publikum, brüllt vor Lachen. »Es gibt so Erlebnisse im Leben«, setzt Hildebrandt dieser Erinnerung noch einmal hinzu, »da weiß man: Er ist es!«
Dieter Hildebrandt, Verkörperung der Lach- und Schießgesellschaft und der Sendung Scheibenwischer, ist selbst ein Meister der Ellipse, des verkürzten Satzes, in dessen nicht ausgesprochenem Satzteil die eigentliche Aussage steckt, das Gemeinte. Teils belustigt, teils scherzhaft bedauernd, aber natürlich voller Anerkennung klagt er, dass er, um das auszudrücken, was Polt ohne Worte transportiert, eine ganze DIN-A4-Seite bräuchte, eine ganze DIN-A4-Seite halber Sätze.
Gerhard Polt spielt auch die Menschen, die in der ersten Reihe sitzen, und nimmt sie aufs Korn, und auch sie, die Menschen in der ersten Reihe, klatschen sich auf die Schenkel vor Vergnügen. Er hat es geschafft, in Volkes Mund einzugehen, wird zitiert ohne Ende. Er selbst brummt dazu, dass ihm das so nicht bewusst sei. Aber sein »Leberkäs Hawaii« ist sprichwörtlich geworden, keine Adventszeit vergeht ohne »Nikolausi« und »Osterhasi«. Und er ist noch weitaus mehr. In vielen seiner Texte testet er spielerisch die Sprachränder menschlicher Unsäglichkeiten und Unsagbarkeiten aus, in Darstellungsformen, die dadaistisch reinsten Wassers sind. Ohne Zweifel schafft Polt einen Mythos, einen Mythos der absurden modernen Gegenwart und Alltäglichkeit. Polt ist Kult. In seinen Sketchen, Fernsehstücken, Filmen, Theaterabenden und Auftritten wirkt er als eine Art Homer der Neuzeit, einer, der die Katastrophen des Alltags mikroskopisch aufnimmt und dann aufführt – dazu bedarf es keines Trojanischen Krieges. Es ist der Trojanische Krieg in uns allen. Polt bringt ihn ans Tageslicht, als ein Homer des Humors. Die eigentliche Aufgabe eines Dichters bestünde darin, lobt Aristoteles den Homer, »darzustellen, in welchem Zustand sich jemand befindet, statt diesen Zustand in allgemeinen Reflexionen zu erklären«. Nichts anderes stellt Polt mit seinem Personal dar.
Auf die Frage, ob er so spielt, wie er fühlt, antwortet er: »Hm.« Der Polt, der auf der Bühne steht, ist ein Polt, der sich selbst spielt, ein gespielter Polt. Polt auf der Bühne ist Polt, der sich eine Polt-Maske aufsetzt. Die Maske erlaubt alles, was sonst nicht erlaubt ist – wie im Karneval, im Fasching, gegen alle Konventionen. Und zugleich erlaubt die Maske ihrem Besitzer Polt im richtigen Leben, ganz einfach Polt zu sein.
Polt sitzt im Freien vor einem Café und möchte gern ein Bier trinken. Die Bedienung kommt, Polt bestellt ein Bier, die Bedienung kommt aus dem Fernen Osten, eindeutig erkennbar. Komischer Zufall, denkt man und erinnert sich unwillkürlich an Mai Ling, die berühmte Mai-Ling-Nummer, in der Polt als Herr Grundwirmer dem Publikum seine neueste Errungenschaft vorstellt, eine Thailänderin, die er sich aus dem Katalog bestellt hat. Die Bedienung kommt, stellt die Biere auf den Tisch und sagt zu Gerhard Polt: »Sie sind doch der Herr Polt, oder?!« »Ja«, sagt Polt. »Wer prominent ist, ist selbst schuld«, so reflektiert er immer wieder einmal seinen Status, aber er versteht das. Ihm selbst würde es nicht anders ergehen, wenn er in einer Wirtschaft an einem Tisch zu sitzen käme, und da isst zum Beispiel Claudia Cardinale Schweinswürstl. Es ist zwar nicht ganz einfach, sich Claudia Cardinale beim Schweinswürstl-Essen vorzustellen, auch ist das vielleicht nicht das Erste, was jedermann bei ihr einfiele, aber man versteht, dass ein Gerhard Polt gern mit ihr ins Gespräch käme.
Ob sie ein Autogramm haben könne, fragt die Bedienung; ohne den geringsten Akzent spricht sie. Sie zieht ihr Kassenblöckchen aus der Schürze. »Für wen?«, will Gerhard Polt wissen und lächelt schon ein klein wenig ahnungsvoll. Auch die Bedienung lächelt, ihre Augen verengen sich zu noch schmaleren Schlitzen. »Für die Mai Ling!«, sagt sie. Man möchte es nicht glauben, doch ist es so. »Für die mai-Ling«, schreibt Gerhard Polt auf den Kassenzettel. Ist das Leben ein Traum oder der Traum das Leben oder das Leben eine Vorstellung von Gerhard Polt? Mai Ling ist hochbeglückt: »Ich werde Sie in mein Abendgebet einschließen!« Das freut ihn. Kurze Zeit später klingelt sein Handy: »Was? Wie viel Uhr ist es bei euch? So viel Zeitverschiebung habt ihr? Ja, so ein Wahnsinn!« Offensichtlich handelt es sich um ein Gespräch in weite Ferne. »Mein Sohn«, sagt er nach dem Ende des kurzen Telefonats, »aus Bangkok.« Es gibt Augenblicke in der Wirklichkeit, die nicht mehr wirklich sind, also braucht man sie nicht zu glauben. Als bestünde in dem Fall doch irgendeine Art von Klärungsbedarf, vielleicht nur, weil man selber etwas blöd geschaut hat, wird man darüber in Kenntnis gesetzt, dass der Sohn seinen Freund nach Bangkok begleitet: »Und der ist mit einer aus Vietnam verheiratet.« Ja, wenn das so ist.
Kurz drauf klingelt wieder das Handy, diesmal ist es Tini, die Ehefrau, aus Málaga – ohne Zeitverschiebung. Ziemlich gut unterwegs, die Familie, für so einen Reiseverweigerer wie Gerhard Polt. Er selbst muss nirgends hin, er will vor allem gar nicht. Die Karibik drückt ihn nicht, Bangkok nicht, den Grand Canyon muss er nicht sehen, lieber fährt er nach Agatharied, ein Dorf in nächster Nachbarschaft seines heimatlichen Schliersee. Agatharied ist ein zentraler Ort in Gerhard Polts kosmologischer Topographie. Immer wieder kommt er darauf zu sprechen, selbst vor dem schwedischen König und seinem Publikum in Stockholm, dem er erzählt von Chroniken aus Schliersee, aus Agatharied, in denen Schweden so gut wie nicht vorkomme – außer mit einem Satz: »Bet, Kindlein, bet, morgen kommt der Schwed!« Er muss allerdings zugeben, dass umgekehrt auch in der schwedischen Geschichte Schliersee kaum vorkommt.
Polt kennt nicht dieses Heimweh nach dem »weg von hier«, allenfalls muss er den Stuhl im Café Woerner’s wechseln, auf die andere Seite des Tisches, um nicht ständig auf die Pralinen in der Auslage des Schaufensters schauen zu müssen. Die asiatische Bedienung des Kaffeehauses verstört es überhaupt nicht, in welcher Weise eine Exotin wie Mai Ling dargestellt wird. Sie kann darüber lachen. Das kann natürlich nicht jeder. Von den schwarzen Komparsen, die man in den Münchner Kammerspielen für die Aufführung von Tschurangrati brauchte, konnten das nicht alle und wollten infolgedessen nicht mitspielen. Auch hat Polt einmal von einer Thailänderin einen langen Brief bekommen, mit der inständigen Bitte, sich doch nicht über eine Frau mit anderer Hautfarbe lustig zu machen. Solche Missverständnisse können ihn sehr traurig machen, eigentlich kann er es gar nicht glauben, dass es zu so etwas kommt.
Man muss über sich selber lachen können, sagt die Mai Ling des Kaffeehauses – und lacht. Sie selbst findet es zwar unglaublich, dass man wegen seines anderen Aussehens angeschaut wird, aber so ist es nun mal. Ein Freund von ihr, mit dem sie gelegentlich voller Neugierde angeschaut wird, meinte nur: »So geht das eben mit den Katalogfrauen« – und wieder muss sie lachen, in ihrer eigenen Erzählung. Wie auch die Thaifrau auf der Bühne während einer Probe für diesen Sketch, bei dem sie selbst nur eine stumme Statistin spielt, unentwegt lachen muss; freilich von Polt in dem akkurat gleichen betulich-belehrenden Tonfall ermahnt wird, mit dem er die Szene selbst spielt: »Da darfst du aber nicht lachen, gell!« Zwischen Wirklichkeit, Probe und Aufführung scheint kein Unterschied zu bestehen. »Gell, das verstehst du schon«, fügt er gönnerhaft hinzu. Der Tonfall, wie gesagt, bleibt der gleiche, der das vermeintlich Wohlmeinende erst so richtig gemein macht. Wobei er leicht beschwichtigend hinzusetzt: »Na ja, jetzt schon«, also dass sie in Gottes Namen lachen darf, »aber in der Aufführung nicht!« Er spielt mit anderen, er spielt sich selbst, mit sich selbst – auf der Bühne gestaltet er sich zur Kunstfigur.
Die Mai Ling aus dem Café Woerner’s ist Koreanerin und heißt natürlich nicht Mai Ling. Weshalb sie sich dann so vorgestellt habe? »So halt«, und wieder muss sie lachen. Und was ihr an Gerhard Polt gefalle? »Polt ist gut, saugut!«, sagt Mai Ling, die keine Mai Ling ist. »Mit Zuversicht«, schreibt er ihr zusätzlich zu seinem Autogramm auf den Kassenzettel; gern benutzt er in solchen Fällen die Formulierung »mit Respekt« oder gar »mit exorbitantem Respekt«. Dazu malt er Kringel auf den Zettel, die im ersten Augenblick so ausschauen, dass man endgültig nicht mehr an die Wirklichkeit vom wirklichen Leben glaubt, sondern denkt: »Das gibt’s doch nicht! Jetzt kann der Polt auch noch Thai!«
Das Phänomenale am Phänomen ist, dass man es kaum erklären kann, zumindest nicht vollständig. Das Wort kommt aus dem Griechischen, leitet sich ab von dem Verbum »phainomai« – ich erscheine. Das passt: Polt erscheint auf der Bühne, und schon fangen die Menschen zu lachen an, obgleich er noch gar nichts sagt. Niemand kann das so wie er. Und auch wer ihn noch nie auf der Bühne erlebt hat, kennt ihn, kennt ihn aus dem Radio, aus dem Fernsehen, von CDs und DVDs, früher von Hörspielkassetten, aus Büchern. Mehr als eine Generation fährt mit dem Auto über den Brenner nach Italien, und die ganze Familie hört Polt, die Großeltern, die Eltern, die Kinder, alle verlangen nach ihm auf der Fahrt. Sie wollen hören, wie entsetzlich Urlaube sind, wie furchtbar sich deutsche Touristen in Italien aufführen, und lachen sich halb tot. Die Sketche werden nachgesprochen und nachgespielt, ganze Passagen sind im Gedächtnis der Zuhörer verankert. Oft fließt in Gespräche die Frage: »Kennst du das, wo der Polt …?«
Wie macht der Mann das? Was macht er überhaupt? Und warum? Nun hasst Polt »W-Fragen« wie die Pest. In dem wunderbaren Monolog Der Gedanke kommt ihm nicht nur der entscheidende Gedanke nicht, er lehnt es auch ab, »W-Fragen« zu beantworten. Sie sind für ihn das Deutscheste überhaupt, und wenn Polt »deutsch« sagt, klingt es nach »dojtsch« und gleich recht gefährlich. Also lassen wir das lieber, zumindest für den Moment. Nur so viel zunächst: Kabarettist ist Polt keiner, zumindest nicht im landesüblichen Sinne. Gelegentlich wird er auch als Philosoph bezeichnet, aber das trifft es bei aller eigenständigen Denkbewegung nicht, dafür fehlt ihm jede Art von Systematik. Er selbst sieht sich vor allem als »Erzähler«, als »Chronist«. Er schreibt und spielt uns ein Epos der Moderne, nicht als zusammenhängenden Text, sondern in lauter Einzelsequenzen. Er beobachtet uns, unsere Mitmenschen, schaut hin, hört zu, schreibt auf, stellt dar – fügt die Erzählung anderer in seine ein, formt um, gestaltet eine neue, aber wohlbekannte Erzählung daraus, die Erzählung unserer Zeit. »Oral poetry« nennt man so etwas in eingeweihten Kreisen, also eine Dichtung, die mündlich weitergegeben wird, bis sie dann halt doch irgendwann einmal einer aufschreibt. Bei Homers Odyssee war das der Fall, auch im Nibelungenlied. Polt sammelt ein, was landauf, landab geredet und getan wird. Dazu braucht er keine Helden, kein Troja muss untergehen und kein Reich der Burgunder oder Hunnen, Gott sei Dank bedarf es keines zehnjährigen Krieges. Polts Helden sind keine »Anti-Helden«, es sind Menschen, die mit allerlei zu kämpfen haben, mit dem Alltag und seinen Banalitäten und Widerwärtigkeiten.
Gerhard Polt ist eine einzigartige Erscheinung in der deutschsprachigen Landschaft der Bühne und der Literatur, ein Phänomen. »Phainomai« ist eine grammatikalische Form, die es im Deutschen nicht gibt, das Medium, eine Form der Mitte also – und zwar einer Mitte zwischen Aktiv und Passiv, früher hätte man gesagt zwischen »Tun-« und »Leide-Form«. Auch das passt gut zu ihm. Es scheint so, als spiele er gar nicht, sondern ließe sich so treiben, wie er eben ist, ließe mit sich geschehen, was sein Wesen ist, eine Erscheinung zwischen aktiv und passiv; ein genialer Vorgang, eine Naturbegabung aus sich selbst heraus sich als Kunstfigur anzuverwandeln.
Es gibt nicht viele Schriftsteller in Deutschland, die sich einfach dem Leben hingeben, es genießen, sich daran erfreuen. Dass es geht und wie es geht, lebt Polt, er lebt es nicht vor, er lebt es einfach. Er lebt es, weil er es nicht anders möchte und weil ihn etwas anderes nicht interessiert. Matthias Claudius war so einer. Man sagt von ihm, er wollte am liebsten nichts tun, außer spazieren gehen, den Vögeln beim Singen zuhören und vielleicht noch Klavier spielen.
Immer wieder einmal kommt Polt auf seinen eigentlichen Lieblingsberuf zu sprechen: den Bootsverleiher. In dem Text Rückblickserwartung erklärt der Erzähler sogar, dass er »von Beruf ein gelernter Bootsverleiher« sei, er habe »Bootsverleih studiert«. Am besten sei es, wenn nur ganz selten tatsächlich jemand ein Boot ausleihen wolle. Noch besser ist es in diesem Traumberuf eigentlich nur, wenn das Wetter so schlecht ist, dass überhaupt kein Kunde kommt. Dann kann sich der Inhaber, wie Gerd Dengler es in seiner Laudatio anlässlich der Verleihung des Oberbayerischen Kulturpreises 2007 so trefflich ausdrückt, ausruhen und sich »seiner zweiten Leidenschaft widmen: dem Wohnen. Dann liegt er gemütlich auf dem Kanapee und träumt von seinem Traumberuf als Bootsverleiher.« Vielleicht träumt dieser Mann, er wäre nicht der, der er ist. Er liegt in seinem Boot und träumt. Über einem Pfosten des Steges hängt seine Strickjoppe. Es ist noch früh am Morgen, sehr früh, ein unendlich ewiger Tag eines Frühsommers steht an seinem Anfang, bricht an, ganz sanft. Die Berge spiegeln sich im See, der grün ist, und trotzdem sind die Berge blau, auch im See. Der See liegt am Fuß jener Berge, die noch nicht so überlaufen sind, vielleicht in einer Gegend, in der man überlegt, ob man schon beginnt, erste Allgäuer Anklänge in den Dialekt aufzunehmen. Vielleicht liegt die Gegend auch im bayerischen Oberland, dann muss es allerdings ganz frühmorgens sein.
Vielleicht träumt er nichts, nur das reine Nichts. Vielleicht ist dieser Mann im Traum ein Buddhist? Er stiehlt dem lieben Gott die Zeit, aber Gott hat so viel davon, dass man sie ihm gar nicht stehlen muss, sie ist einfach da. Man muss sie sich nur nehmen. Wir wissen von diesem Mann, dass er seinen Traumberuf gefunden hat: Er vermietet Boote. Vielleicht träumt er, er wäre schon der, der er ist, aber niemand spricht ihn an. Er hat seine Ruhe, selbst im Traum stiehlt er dem lieben Gott die Zeit, aber auch im Traum ist dieser Gott ein freundlicher Mann, er lächelt und spendet reichlich. »Vergelt’s Gott!«, sagt der Träumer. Oder träumt ihm, weil Zeit keine Rolle spielt, schon vom Ende des Tages? Vom Biergarten? Die Bäume blühen, es sind Kastanien, ihre Blüten bestehen aus weißen Kerzen, es ist wie an Weihnachten, nur ohne Weihnachten. Kein Nikolausi, kein Osterhasi ziehen ihre verheerende Bahn. In der Mass schimmert pur das Gold, hin und wieder nimmt der Mann einen Schluck.
Rückblickserwartung – das ist so eine Art von Biographie, als ein Rückblick, von dem man sich noch etwas erwarten könnte, eine bisher noch nicht vorgesehene grammatikalische Form des Vergangenheits-Futurs. In diesem Text wird ein ganzes Geflecht poltscher Lieblingsthemen ineinander verwoben. Neben dem Lieblingsberuf des Bootsverleihers und dem Verlust des Führerscheins – was ihn »gezwungen« habe, »heuer, also dieses Jahr, vollkommen ohne Führerschein zu fahren« – geht es um aberwitzige Überlegungen, zu Geld zu kommen, schließlich um das »Wohnen«, ehe dann noch eine nachdenkliche Ergründung über das Wesen der Zeit folgt: »Jetzt sitze ich da und muss persönlich mit ansehen, wie die Zeit versickert und vergeht, aber wenn ich ehrlich bin, ich habe mir von der Zeit auch nie was anderes erwartet, als dass sie vergeht. Sonst wird ja überall Zeit eingespart und sogar gewonnen.« So räsoniert er, welch ganz anderer Umgang mit der Zeit auch möglich ist: »Ich kann Ihnen sagen, ich gehe sehr großzügig damit um, und das provoziert die Zeitsparer, aber ich haue ja nur meine eigene Zeit zum Fenster hinaus, und die Leute fragen sich, woher ich sie nehme. Das verrate ich aber nicht.« Wie er damit umgehe, mit der Zeit, komme vielen Leuten merkwürdig vor, ja, sie seien ratlos. »Aber genau das ist es ja, was mich so begeistert: diese enorme Ratlosigkeit.«
Darauf läuft im Grunde alle Erkenntnis hinaus, die man über Gott, die Welt und die Menschen haben kann: diese enorme Ratlosigkeit, und die spielt Polt in endlosen Variationen, voller Lust, in aller Sprachlosigkeit auch, die sich in ungeheuren Redeschwällen in Form langer Monologe niederschlägt.
»Ich veröffentliche mich dadurch, dass ich auf die Bühne gehe. Aber mein Bedarf an Öffentlichkeit ist gleich null«, sagt Gerhard Polt, alles entwickle sich aus seinem Privatleben, fügt er hinzu, und da will er seine Ruhe haben, er braucht sie, sonst geht das alles nicht. Er glaubt von sich, wirklich nicht wichtig genug zu sein, um sich auch noch privat zu äußern – schon gar nicht zu Privatem. Mehr gebe es dazu nicht zu sagen, sagt er.
Für Ludwig Wittgenstein gilt die Sprache als untaugliches Medium der menschlichen Kommunikation. Er schlägt vor, dass man sich zunächst auf das verlassen soll, was ist: »Die Welt ist alles, was der Fall ist.« Daraus folgt, dass man im Wesentlichen den Mund halten sollte: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.« Im Grunde ist das die dichteste Formel, auf die sich Gerhard Polts Verständnis vom Vermögen der Sprache bringen ließe, genauer gesagt, deren Nicht-Vermögen. Wittgenstein ist hochinteressant, aber natürlich ist Polt viel lustiger – dem Vergleich hält niemand stand, kein Wittgenstein, kein Heidegger, kein Beckett. Natürlich gehört Polt da nirgends dazu, passt in keine Schublade, will nicht, sperrt sich.
Man könnte vielleicht die beiden Sätze von Wittgenstein als Rahmen für ein dickes Buch nehmen, den einen an den Anfang stellen, den anderen an den Schluss – und in die Mitte Polts Gesamtwerk.
»Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit«, lautet der berühmte Spruch von Karl Valentin. Dahinter steckt beharrliche und lebenslange Arbeit. Das Leichte ist in der Kunst bekanntlich das Schwierigste. Diese Form, die einer entwickelt, will also hart erarbeitet sein, aber man sieht es ihr nicht an. Die Ruhe, die Polt in seinem Leben bewahren will, opfert er nicht einem Ziel, das diese Ruhe zutiefst gefährden könnte. Eine solide Grundkonstitution, wie er sie in listigem Doppelsinn auch von Politikern fordert (»a good constitution« als das, was wir in Bayern »eine gute Verfassung« nennen), ein ausgeglichenes Naturell und sein Ur-Talent an darstellender Kunst sind dabei verlässliche Konstituenten seiner Existenz.
Natürlich kamen ihm dabei glückliche Umstände entgegen, zum Beispiel dass zum rechten Augenblick die richtigen Personen in sein Leben getreten sind, ihm die Möglichkeiten eröffnet haben, die er selbst in diesem Moment vielleicht noch gar nicht erkennen konnte. Aber es gehört der Mensch dazu, der diesen »kairos«, wie ihn die Griechen nennen, annimmt und nutzt, den glücklichen Augenblick, die Gunst der Stunde, in der sich ein Schicksal fügen kann. Das reicht natürlich noch nicht aus, damit ein Mensch ist, wie er ist. Bei Gerhard Polt kommt etwas hinzu, was im ersten Moment vielleicht widersprüchlich wirken mag, wenn man in dieses zutiefst skeptische, wenn nicht grantig zerworfene Gesicht schaut: Dieser Mann liebt das Leben, man merkt es, man spürt es. Um dieses Pathos der Formulierung kommt man dabei nicht herum. Er liebt es nicht abstrakt, nicht theoretisch, sondern ganz praktisch. Und er liebt den Menschen, den Menschen als Einzelnen, als Individuum, nicht alle, nicht jeden und nicht jeden gleich, aber zunächst einmal schon. Und auch nicht so wie etwa der österreichische Reformkaiser der Aufklärung Joseph II., von dem es hieß: »Er liebt die Menschen, aber er mag d’Leit ned!« Dazu ist es notwendig, dass man diesen urchristlichen Satz, der meist nach der Hälfte schon abgebrochen wird, womit man ihm das Entscheidende raubt, zu Ende sagt: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!« Nur wer sich selbst annimmt, ist imstande, andere zu lieben. Das ist einer der Gründe, weshalb Polt von seinem Publikum so geliebt wird: nicht nur, weil er gut ist, sondern weil er selber ein Liebender ist.
Wenn man ein Buch über einen Menschen schreibt oder liest, dann möchte man natürlich etwas erfahren über diesen Menschen. Gerhard Polt ist vor allem einer, der sich partout nicht einordnen, kategorisieren lassen möchte.
Fragen darf man natürlich schon, zum Beispiel, in welcher Tradition ein künstlerischer Mensch steht. Und fragen: Wie gestaltet sich ein Mensch als Künstler – als exemplarische Gestalt in seiner Zeit?
Als fünf- oder sechsjähriger Bub mit einem Bolzenschuss ein Schwein zu töten und dann dessen Blut zu rühren, damit es nicht gerinnt, ist gewiss nicht jedermanns Sache, aber Polt erzählt die Geschichte mit Begeisterung. Verallgemeinern und zum Maßstab nehmen sollte man solche Sozialisationsvorgänge besser nicht. Mit Vorsicht ist der in Bayern gängige Spruch zu genießen: »Ein Guter hält’s aus.« Er hat eine herbe Kehrseite: »Für einen Schlechten ist es nicht schad!« Den sogenannten Schlechten, für den es nicht schade ist, den lernt man halt naturgemäß meist nicht mehr kennen. Allerdings relativiert Polt selbst solche Sozialisationsvorgänge. In dem langen Gespräch mit dem Journalisten André Müller kommentiert er die Erfahrungen seiner Kindheit und Jugend mit dem schlichten Satz: »Ich hab’s halt überstanden!«11› Hinweis
Es gehört schon Glück dazu, das gesteht Polt gern ein, sich diese Art von Robustheit aneignen zu können.
Wie kommt man zu solchem Glück? An erster Stelle steht eine Mutter, die ihr Leben entschlossen in die eigene Hand nimmt und damit das ihres Buben. Mutter Polt, wenn man sie so nennen darf, eine geborene Rheinboldt, Dorothea Rheinboldt, stammt aus dem Schwarzwald, geboren 1915 in Freiburg im Breisgau. 1927 zieht es sie nach München, seit 1929 lebt sie in der Amalienstraße 79/1.
1940 wird aus der Frau Rheinboldt eine Frau Polt, doch ist Richard Polt Major, es ist Krieg. Kurz nach der Eheschließung meldet sich Richard Polt in Wien an, im Dezember 1940. Den Bomben auf München entkam der kleine Gerhard, weil seine Mutter ihn genommen hat und mit ihm nach Altötting gegangen ist. »Es dürfte im Herbst gewesen sein, im September 1942, weil sie schon einen Mantel angehabt hat, eine Frau Major mit Kind«, so erinnert sich Marianne Enghofer, geborene Steffel, Tochter im Hause Steffel, Metzgerei Steffel in der Alzgerner Straße. Einen Anruf hatten sie zuvor bekommen, von der Behörde, dass jemand bei ihnen einquartiert werden soll, aus der Stadt, aus München. Und da steht sie in der Tür, Dorothea Maruschka Polt mit ihrem kleinen Buben im Arm. Die Mutter, »ganz eine Frische«, wie sich Marianne Enghofer freudig erinnert, »unheimlich lustig, sehr unkompliziert«. Auch hat sie viel mitgeholfen in der Metzgerei. Ein-, vielleicht auch zweimal kommt der »Herr Major«, fällt Frau Enghofer ein, zu Besuch nach Altötting, »ein ausnehmend vornehmer, sympathischer Mensch, sehr zurückhaltend«.
Und der Bub, »so ein liebenswürdiger Kerl, einfach ein sonniges Kind!«, schwärmt Marianne Enghofer, selbst Jahrgang 1922, noch fast siebzig Jahre später. Zum Spielen gab es für ihn zunächst nichts als drei Holzklötze und einen Löffel, das hat ihm völlig gereicht. Und sie selbst hat auch mit ihm gespielt, wie »eine große Schwester oder vielleicht schon Tante«. »Und mein Vater«, erzählt sie, »der hat ihn auch furchtbar gern mögen.« Die Steffels waren eine Familie, in der es sehr humorvoll zugegangen ist, das hat natürlich gepasst. Gastfreundlich waren sie ohnehin, insofern wurde die Einquartierung der Polts gar nicht so als Belastung empfunden. »Er war ja fast nur bei uns herunten«, erzählt Marianne Enghofer und meint damit den kleinen Gerhard in der elterlichen Wohnung oder gleich in der Metzgerei.
Spontane Sketche, die hätten ihr Vater und der Bub schon von Anfang an über alles geliebt und auch gespielt. Gerhard Polt hatte eine zweite Familie gefunden, die eine erste, die es im Grunde nicht gab, gar nicht erst vermissen ließ – besonders in Situationen, in denen man es schon mit der Angst zu tun bekommt. Das früheste Ereignis, an das sich Polt erinnern kann, ist das Beben, das die Ketten amerikanischer Panzer auslösten, die durch Altötting fuhren, das Zittern der Scheiben, während alle im Keller saßen.
Hört man den Erzählungen von Marianne Enghofer zu, glaubt man schnell zu spüren, wie dieser kleine Gerhard ein sonniges Gemüt bekam. »Der konnte mit jedem«, erzählt sie, »Liebkind für jeden.« Umgänglich, wie er war, hätte er mit jedem »geschmatzt«, also das Gespräch gesucht. Sie sieht ihn noch wie heute vor der Metzgerei auf dem »Trottoir« sitzen, wie ältere bayerische Menschen französisierend für »Gehsteig« oder »Bürgersteig« sagen, und Vorübergehende fragen: »Hast eine Brezn für mich?«
Wer damals beim Steffel-Metzger aus der Ladentüre trat, schaute direkt auf die Friedhofsmauer. Wie die Metzgerei in Altötting war der nahe Friedhof für den kleinen Polt etwas tief Vertrautes, das Leichenschauhaus eingeschlossen. Man habe die Kinder in dieser Zeit nicht mit dem Auto in der Gegend herumgefahren, wie Polt immer wieder betont, sie seien vielmehr frei herumgelaufen, nicht behütet, nicht abgeschottet gegen eine Wirklichkeit, die man einem Kind vielleicht nicht hätte zumuten wollen. Das bedeutet eine frühe Konfrontation mit allem, was dazugehört zu einem Menschenleben, also auch mit dem Tod. Zumal in Altötting, wo in der Stiftspfarrkirche Sankt Philipp und Jakob der »Tod von Eding«, ein »Tödlein«, wie man in Bayern sagt, also ein künstliches Skelett, unablässig auf der hohen Standuhr die Sense schwingt. Bei jeder Drehung, sagt man, sterbe ein Mensch. Der Mutmaßung von André Müller, die schlimmste Unfreiheit sei die Vergänglichkeit, hält Polt seine Lebenserfahrung entgegen: »Nein, wieso? Wenn’s mich vom Stangerl haut, ist es aus. Dann gibt es hoffentlich einen gescheiten Leichenschmaus. Das ist alles, was ich mir wünsche. Ich hab, als ich klein war, einen Freund gehabt, den Hinterschwepfinger Pauli, der lebt noch, dem sein Vater war Totengräber. Also hab ich das Sterben früh mitbekommen. Gebeinhäuser haben mich sehr interessiert. Ich erinnere mich noch, in der Stiftskirche von Altötting stand eine Uhr, wo der Sensenmann jede volle Stunde gemäht hat. Aus dieser Zeit stammt meine fatalistische Lebensauffassung. Wer neben einem Friedhof aufwächst, braucht sich später die Seinsfrage nicht mehr zu stellen.«
Gleichwohl wird diese Frage immer wieder aufgeworfen: »Wenn ich heute rausgehe, weiß ich ja nicht, ob mir eine Dachlatte auf den Kopf fällt. Aber ich gehe trotzdem aufrecht hinaus. Für mich beginnt Glauben schon damit, dass ich ungeprüft, einfach optimistisch hoffend – ›es wird schon nichts passieren‹ – das Haus verlasse. Ich gebe ein Prä von mir, obwohl ich gar keinen Grund dafür habe. Wie die Römer sagen: »do ut des.« Ich gebe, damit mir etwas gegeben wird. Aber es ist ein Wunsch, eine Vorstellung, eine Strategie vielleicht. Ich gebe etwas ab, und ich hoffe oder erwarte: Ich krieg dann auch was. Garantiert ist es nicht.«
Dem Tod wird ins Auge geschaut, so ist es in diesem Land seit dem Barock Tradition. In einer Gruft der Stiftspfarrkirche von Altötting liegt Graf Tilly, Feldherr der katholischen Liga im Dreißigjährigen Krieg. Durch ein Fenster im Sarg kann man ihm, wie es der Stadtarchivar Alfred Zeller formuliert, »in das ehemalige Auge schauen«. Für einen Buben, der in der Metzgerei mit Ochsenaugen spielt und sie herumkullern lässt, war das kein Problem. Lebenslust und Lebensflucht sind bei solcher Lebensführung Pole, die scheinbar Unvereinbares vereinen: Zugewandtheit zum Weltlichen bei gleichzeitigem Bewusstsein, dass dieses Weltliche endlich ist. Das meint Barock im innersten Kern und das meint in seinem eigentlichen Wesen auch das Katholische, das Sinnenfreude und Spiritualität als hohe menschliche Ausdrucksfreudigkeit empfindet.
Wolfgang Steinke ist mit Gerhard Polt bis zur dritten Klasse in die Schule gegangen, beide lutherisch, das war, erinnert er sich heute lachend, in Altötting gleichbedeutend mit »Heidentum«. 1951 wurde in Bayern die Bekenntnisschule eingeführt, mit Folgen, die zu so abenteuerlichen Konstrukten geführt haben, wie dass es ein katholisches und ein evangelisches Turnen gab. Da versuchten die Katholischen sich vorzustellen, wie wohl evangelisches Turnen ausschauen mochte, und die Protestanten, was unter katholischem Turnen zu verstehen war. Wie immer gab es allerdings auch in diesem harschen System Grauzonen. »Zum Beispiel durften wir«, erzählt Wolfgang Steinke, »bei den Katholen sitzen bleiben, wenn die Katholen Religionsunterricht hatten, wir haben in dieser Zeit Hausaufgaben gemacht.« »Ausgegrenzt« habe er sich damals schon manchmal gefühlt, umgekehrt hätten ihm »die Katholen leidgetan«, weil die um sieben Uhr morgens schon in der Kirche sein mussten und beichten. Auf dem Klassenphoto sieht man den Kooperator Strohhammer, der als »Prügelpriester« bekannt war.
»Katholischer« als Altötting kann kaum ein Ort sein in Bayern. Polt hat aus damaliger Sicht den falschen Glauben, ist, wie katholische Kinder andersgläubigen Kindern nachriefen, »ein lutherischer Zipfel«. Doch ihn ficht das nicht an. Der Kleine mischt gleich gehörig mit in dem Wallfahrtsort: »Wir Kinder haben die Pilger angebettelt, schnell einen Rosenkranz aufgesagt oder ein Heiligenbildchen verkauft. Wir wollten nur Bargeld. Wenn die uns Lebensmittel geben wollten, waren wir stinkbeleidigt.«
Erste Klasse der Volksschule: Gerhard Polt in der unteren Reihe der Fünfte von links; sein Freund Wolfgang Steinke in der obersten Reihe der Fünfte von rechts.
Hermann Unterstöger, Journalist der Süddeutschen Zeitung, war Zögling des Altöttinger St. Franziskushauses, »praktisch für schwer erziehbare Kinder«, wie er erzählt, allerdings nur, um seinem älteren Bruder, der dort gelandet war, Gesellschaft zu leisten. Der Journalist Hans Riehl erzählt augenzwinkernd, wie Gerhard Polt Mitwirkender eines seinerzeit beliebten Singspiels, Gockel, Hinkel und Gackeleia von Clemens Brentano war, das in der »Spielzeit 1945/46« im St. Franziskushaus in einer kindgerechten Form aufgeführt wurde. Da hätte die deutsche Bühne, so Riehl, den ersten öffentlichen Auftritt des Gerhard Polt erleben dürfen: »im Hühnerstall des Schlosses als drittes Gackerle von rechts neben dem Hahn Alektryo«.22› Hinweis
Für Polt gehört es mit zum größten Glück, in keinem Kindergarten gewesen sein zu müssen. Seine Kindheit ist voller Selbstbestimmung, von Anfang an, auch nicht eingeschränkt durch väterliche Autorität. Immer wieder erzählt er von einem Freund, der die Heimkehr seines Vaters aus der Kriegsgefangenschaft mit den Worten kommentiert habe, dass »jetzt wieder ein Fresser mehr im Haus« sei.
Frühe Selbstbestätigung erfuhr der kleine Gerhard durch die hohe Ehre, die ihm zuteilwurde, weil er der Erste in der Metzgerei war, der die jeweils frische Weißwurst vorkosten und beurteilen durfte. Eine Wertschätzung über das »Medium« Weißwurst zu erfahren, etwas Besseres hätte dem jungen Polt gar nicht passieren können, noch dazu in dieser unglaublichen Inszenierung, wie sie Polt selbst in dem 2004 erschienenen Buch Hundskrüppel schildert: »Jeden Dienstag ganz in der Früh wurde nach mir gerufen, und gnädigst ging ich zu den Rufern. Ich hatte damals viel Zeit, weil ich nicht in den Kindergarten musste.« Gut möglich, dass diese Auftritte prägend für ihn geblieben sind: vor Publikum etwas in Szene zu setzen, eben die Weißwurstprobe. Die Beteiligten versammelten sich damals voller Erwartung auf den Gerhard, so wie sie das heute auch tun: »Alle standen sie da, Spalier! Der Metzger, seine Frau, seine drei Gesellen und die zwei Lehrbuben. Feierlich überreichte man mir die Weißwurscht. Ich roch, prüfte noch einmal, dann schob ich sie in den Mund und zuzelte, zuzelte – dann hielt ich die Haut triumphierend in die Luft. ›Und?‹ Erwartungsvolle Augen blickten mich an. ›Und?!‹ ›Sehr guat!‹, sagte ich, ›Sehr guat! – narrisch guat!‹ Überall ein erleichtertes Aufatmen. ›Guat‹, sagte der Metzger, ›wenn’s aso is, dann vakauf ma’s!‹«
Bei diesem Ritual ist es nicht geblieben, der Gerhard sei schon ein ganz Wilder gewesen, sei in die Metzgerei Steffel hineingestoben, so sein Jugendfreund Wolfgang Steinke, habe die aufklappbare Ladentheke hochgerissen, sei durchgestürmt, der Wolfgang hinterdrein, und dann durch die Tür in den Schlachtraum, den Wurstkessel umgeschmissen und hinten auf die Straße wieder hinaus, ehe die Gesellen seiner habhaft werden konnten. »Der Gerhard is do, passt’s auf!«, riefen sie, aber da war er schon wieder weg. Der junge Wolfgang war da gefährdeter, weil kleiner und im Gefolge: »Da war der Gerhard schon wieder draußen und droben auf der Friedhofsmauer!« Die Metzgerei, der Friedhof, die Kirchtürme vom Kapellplatz in Sichtweite: der Kindheitsraum des Gerhard Polt, in dem seine existenziellen Erfahrungen sich prägten.
Ob er gläubig sei, wollte André Müller von ihm wissen. »Meine Mutter«, so Polt, »ist evangelisch. Also bin ich evangelisch getauft und katholisch gefirmt. Aber in die Kirche geh ich schon lang nicht mehr, weil ich sie als Institution, schlicht gesagt, für niveaulos halte. Die Kirche leidet wie auch die Demokratie unter einem Mangel an potenten Persönlichkeiten. ›Personare‹ heißt auf Italienisch durchklingen. Sowohl in der Kirche als auch in der Politik sehe ich heute kaum einen, bei dem etwas durchklingt.« Entscheidender war für ihn die Metzgerei, die poltsche Urzelle, in der es alles gab. In einem Interview mit Alex Rühle fasst er diese Wesenheit noch einmal sehr prägnant zusammen: »Ochsenhälften, Därme, Schweineköpfe, Ratten, herrlich. Da gibt’s Ängste, Blut, Schweine, die grunzen.«33› Hinweis
Ängste und Schweine, die grunzen, stehen auch grammatikalisch gleichberechtigt nebeneinander, ebenso Därme, Ratten und das Adjektiv »herrlich«: eine Art von Lustgrausen tut sich da auf, in dem ein eigenes Universum geborgen ist, mit allen Strategien des Lebens und Überlebens.
Er kennt auch die »Schwierigkeiten mit dem anderen Geschlecht« nicht, nach denen André Müller fragt. »Nie«, antwortet Polt, und dabei bleibt es. Seine ersten Freundinnen in Altötting, wie er zu denen gekommen sei? Da müsse er erst nachdenken. Das sei lange her. Da war er acht Jahre alt. Dann kommt ihm die Erkenntnis: Einfach die, die in der Nähe gewohnt haben, die waren die ersten Freundinnen, eigentlich ganz natürlich. André Müller findet, dass der Umstand, keine Schwierigkeiten mit dem anderen Geschlecht zu haben, doch mindestens so wichtig sei wie die Metzgerei, aber dazu äußert sich Polt nicht. Ihm sei »nichts Traumatisches« widerfahren, nirgendwo. Die zuversichtliche Grunderfahrung seines Lebens sei in seiner Kindheit verankert und bleibe unerschütterlich: »Dass ich heute manchmal noch optimistisch bin, verdanke ich meiner Kindheit und denen, die sie mir ermöglicht haben, sonst wäre ich zu meinem Leidwesen schon allzu früh erwachsen geworden, wie die anderen auch, und dann könnte ich mir alle meine Worte sparen.«44› Hinweis
Gerhard Polt scheint ein Mensch zu sein, dem die frühen Erfahrungen mit dem Tod nicht geschadet haben, im Gegenteil, sie erscheinen ihm als ganz »natürlich«. Fremdheit empfindet er nicht als solche, er nutzt die verschiedensten Milieus, um zu erfahren, was Leben ist, wie die Menschen sind. Eine Kindheit inmitten von Handwerkern, Bauern und Künstlern, im Wechsel der Wohnorte zwischen Stadt und Land. Es gab keinen Vater, der ihm »den Schneid abgekauft« hätte, wie man in Bayern sagt; in der Familie erlebte er ein Gefühl von Freiheit, das sich während seines Studiums erweiterte und fortsetzte. Polt ist bei aller ihm anhaftenden Zurückhaltung, die bis zu Schüchternheit reichen kann, ein Mensch, der sich seiner selbst sehr bewusst ist, obwohl oder gerade weil er Auskünfte über sein Innenleben verweigert.
Die Metzgerei bleibt ein elementares Erlebnis, gastronomisch wie existenziell, das sich literarisch in einer Metaphorik niederschlägt, in der Essen und Trinken zum Maßstab eines guten Lebens gehören. Die Streiche, die man der Welt der Erwachsenen, der geordneten Welt, der Welt der Vernunft spielt, sind die Würze dieses Lebens.
Wenn man in Bayern von einem »gestandenen Mannsbild« spricht, meint man damit den Prototyp eines Mannes, den so leicht nichts umhaut. Gerhard Polt könnte man durchaus für ein solches halten; oft wird der Ausdruck »bayerisches Urgestein« in Verbindung mit ihm gebraucht. Mit anderen Worten: Ein Mehr an Verwurzeltheit, Selbstbehauptung und Eigensinn als eigentliche Charakterzüge von Heimatzugehörigkeit scheint gar nicht möglich. Aber das heißt noch lange nichts für den Werdegang eines solchen Menschen, für sein Innenleben schon gar nichts.
Dieser Mann hat eine Reihe von Fremdheitserfahrungen in seinem Leben gemacht, die man nicht ohne Weiteres vermuten würde. Er ist Sohn eines Anwalts, mithin gutbürgerlicher Herkunft, in einer neuen Umgebung aus Handwerkern und Bauern. Der junge Polt vereinte in Altötting als »Städterer«, Protestant und Sohn eines »Großkopferten« etliche unübersehbare Merkmale eines »Zuagroasten« (Zugezogenen), einer Gattung von Menschen, die in Bayern vor allem in früheren Zeiten einen schweren Stand hatten. Doch erweist sich das für ihn nicht als Problem, es eröffnet ihm erst so richtig neue Möglichkeiten.
Einer, der nicht aus dem Milieu stammt, in dem er aufwächst, ist, wenn er als Kind im Spiel bleiben will, genötigt, zum einen sehr genau zu beobachten, wie die anderen sind, um sich diese Eigenheiten einverleiben zu können; zum anderen muss er die Fähigkeit besitzen, diese Verinnerlichung in jene Sprache und jenes Verhalten umzusetzen, die an dem neuen Ort üblich sind.
Abriss der alten Knabenschule in Altötting, 1959