Sabrina Qunaj wurde im November 1986 geboren und wuchs in einer Kleinstadt der Steiermark auf. Nach der Matura an der Handelsakademie arbeitete sie als Studentenbetreuerin in einem internationalen College für Tourismus, ehe sie eine Familie gründete und das Schreiben zum Beruf machte. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in der Steiermark.
Im Aufbau Taschenbuch liegen ihre Romane »Elfenmagie« und »Elfenkrieg« vor. Der Abschlussband der Fantasy-Trilogie »Elfenmeer« erscheint im Frühjahr 2014.
Mehr zur Autorin unter: www.sabrina-qunaj.at
Die Entführung der Elfenkönigin
Während der Zeremonie zur Einsetzung der neuen Silberritter wird die Königin Liadan entführt und findet sich an Bord eines Piratenschiffes wieder. Die Seeräuber rund um den Korallenfürsten sind mächtige Magier und wollen die von der Königin geplante Vernichtung der Magie verhindern. Um die Königin zu retten, machen sich der Ritter Valuar und Marinel in den Süden auf. Dort wollen sie eine Flotte zusammenstellen. Dabei erhalten sie Hilfe von Arn, der die Piraten verrät und sich den Rittern anschließt. Währenddessen bringen die Piraten eines der königlichen Schiffe auf und retten die versklavten Menschen. Königin Liadan erkennt die noblen Hintergründe dieser Tat, kann den Forderungen der Piraten aber nicht nachgeben. Sie fürchtet weitere magische Kriege und will die Magie zum Schutze ihres Volkes vollständig vernichten. Auch sieht sie, in welchem Ausmaß die Piratenführer von ihrer Magie beeinflusst werden und welche Auswirkungen sie auf ihre geistige Gesundheit hat. Um zu fliehen, schürt sie Zwietracht unter den Piraten und versucht, ihnen ihre Magie zu rauben.
Das Finale einer packenden, poetischen Fantasy-Saga
»Eine neue Stimme in der deutschsprachigen Fantasy – einfach zauberhaft.« Michael Peinkofer
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Elfenmeer
Roman
Inhaltsübersicht
Über Sabrina Qunaj
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Prolog
Valuar
Marinel
Ardemir
Liadan
Nayla
Valuar
Marinel
Ardemir
Nayla
Liadan
Marinel
Valuar
Liadan
Avree
Liadan
Nayla
Marinel
Avree
Valuar
Ardemir
Nayla
Avree
Liadan
Marinel
Epilog
Danksagung
Impressum
Für Binak, meinen Fels im Sturm
Welche Gründe rechtfertigen einen Krieg? Das Streben nach Macht oder die Aussicht auf Frieden?
Das Paradies zum Greifen nah, umgeben vom Strahlen der Unschuld, so verlockend und rein. Wie leicht wäre es, sich dem hinzugeben und die Vergangenheit ruhen zu lassen. Doch die Vergangenheit bestimmt die Zukunft, und die Zukunft bestimmt die Gegenwart.
Welche Gründe rechtfertigen einen Krieg? Ist der Kampf um Frieden denn nicht auch nur ein Kampf? Der Weg führt durch einen Strom von Blut. Das Feuer immer heller lodernd, versengend und schmerzvoll, der Fall endlos. Die Opfer sinken tiefer.
Das Paradies zum Greifen nah.
Der stark ansteigende Wind schnitt wie frostige Klingen in seine Haut. Die Fellstiefel versanken beinahe bis zu den Knien im Schnee, und die umherfliegenden Eissplitter prasselten wie pfeilschnelle Geschosse gegen seinen Körper. Über Mund und Nase trug Valuar ein Wolltuch, was das Atmen in der dünnen Luft noch zusätzlich erschwerte. Seine Beine fühlten sich so schwer an, als hielte ihn der Berg bei jedem Schritt fest. Marinel an seiner Seite schien es nicht besser zu ergehen. Sie schlug sich jedoch tapfer und hatte noch kein einziges Mal geklagt, obgleich die Beschwerlichkeiten des Valdoreener Schneegebirges neu für sie waren.
Aus verengten Augen blickte er zwischen Wolltuch und Kapuze zu ihr hinüber. Auf Grund des beständigen Krachens und Pfeifens von Eis und Wind war jedes Wort überflüssig, und so sah er sie lediglich an. Marinel hielt die Augen niedergeschlagen, setzte einen Schritt vor den anderen und schien dabei, genau wie er, stetig langsamer zu werden. Der Gipfel lag bereits hinter ihnen, doch noch waren sie zu hoch in den Gefilden des Himmelläufers, als dass sie bereits eine Veränderung zu den Unannehmlichkeiten des Aufstiegs spüren konnten.
Valuar blickte gen Himmel, wo bereits die ersten Sterne aufgingen. Bald würde Finsternis aufziehen, und davor mussten sie noch ihr Lager für die Nacht bereiten. Gegen Wind und Schmerzen ankämpfend, sah er sich zwischen zerklüfteten Felsen und dem steil abfallenden Schneehang um. Ein Stück weiter unten erkannte er eine waagrecht anmutende Senke, die zu zwei Seiten von einer Steilwand umschlossen wurde. Dort wären sie vor dem Wind geschützt und könnten ihren Beinen etwas Ruhe gönnen.
Valuar griff Marinels Arm und wies mit einer Kopfbewegung dorthin. Marinel nickte, und einen Moment lang schienen ihn ihre Augen über dem Tuch anzulächeln.
Der letzte Abschnitt war schnell bewältigt, der Gedanke an Wärme und Rast lockte die letzten Reserven aus ihren erschöpften Körpern. Valuar hielt Marinels Hand – soweit dies mit den dicken Fellhandschuhen möglich war – und führte sie zur Senke hinab. Dort hieß er sie zu warten, bis er das Gelände auf Stabilität geprüft hatte, doch Marinel ignorierte seine stumme Anweisung natürlich. Hocherhobenen Hauptes und mit vor Spott glimmenden Augen schritt sie an ihm vorbei und testete die Festigkeit des Schnees. Schließlich wies sie ihn mit einer Verbeugung an, näher zu treten, was er lediglich mit einem Kopfschütteln beantwortete.
Schweigend machte er sich daran, den Schulterbeutel abzuladen, Decken auszubreiten und sie im Kampf gegen den Wind über ihr kleines Nest zu spannen. So entstand ein geschützter Raum, der gerade groß genug war, um sie beide in sitzender Haltung aufzunehmen. Sie hatten nichts, womit sie ein Feuer hätten entzünden können, und so saßen sie einfach eng beieinander und genossen die unbewegte Luft. Ihre Körperwärme erfüllte bald den Innenraum ihres provisorischen Zeltes, und als die Schmerzen langsam aus Valuars Gliedern wichen, zog er die Handschuhe aus und kramte in seinem Beutel nach etwas Essbarem. Mittlerweile war es vollkommen dunkel, und Valuar konnte sich lediglich durch den spärlichen Rest seiner Habe tasten. Schließlich erfühlte er das eingewickelte Trockenobst und atmete erleichtert auf. Er zog das Wolltuch von seinem Mund und sog die kühle Luft ein. Er hatte stets das Gefühl, zu wenig Sauerstoff zu bekommen.
»Hier.« Er reichte Marinel ein Stück Obst, und auch sie nahm ihren Gesichtsschutz ab. Sie bedankte sich, und eine Weile saßen sie einfach nur schweigend da und aßen.
Sie hatten bereits die letzten Wochen auf engstem Raum miteinander verbracht, doch anfangs hatten sie nicht gewusst, worüber sie reden sollten, und später war der Aufstieg so anstrengend geworden, dass sie keine Kraft mehr zum Sprechen gehabt hatten. Es war eine sonderbare Art des Zusammenseins, denn schließlich waren sie ja auch Konkurrenten. Ihre anfängliche Befangenheit hatte sich aber während der aufgezwungenen Gemeinschaft gelegt. Nur siebzehn von über dreihundert Anwärtern würden den Rittereid leisten. Dies war ihre Abschlussprüfung, und Valuar wünschte Marinel von Herzen, dass sie eine der Auserwählten sein und die Prüfung bestehen würde. Niemand hatte härter dafür gearbeitet als sie, denn Marinel war von niederer Geburt. Von Rechts wegen durfte jeder Elf an der Ausbildung zum Ritter teilnehmen, sofern er die Prüfungen bestand. Es spielte keine Rolle, woher er kam, wer seine Eltern waren oder welchen Beruf er ausübte. Diejenigen von hoher Geburt, so wie Valuar selbst, hatten es aber deutlich leichter, schließlich konnten sie sich voll und ganz auf die Ausbildung konzentrieren, während die von niederer Geburt oft noch einen Beruf nebenher ausüben mussten. Marinel war ein einfaches Stallmädchen aus der Hauptstadt Lurness, das seine zeitaufwendige und kräftezehrende Arbeit erledigte und dann auch noch die Übungsstunden und Lehreinheiten meisterte. Valuar hatte sie vom ersten Tag an dafür bewundert, dass sie so weit gekommen war. Schmutzig und nach Pferdestall riechend war sie zu ihren Waffenübungen erschienen und hatte all die Großmäuler mit Leichtigkeit besiegt. Dabei hatte sie eine Leidenschaft an den Tag gelegt, für die er sie fast schon beneidete. Er selbst spürte solch eine Leidenschaft lediglich, wenn er ganz allein auf seiner Flöte spielte und mit der Musik eins wurde. Er wünschte, er hätte jetzt seine Flöte dabei, doch alle Anwärter hatten zu Beginn der Prüfung ihre persönliche Habe abgeben müssen. In dieser Kälte und der dünnen Luft wäre es ihm ohnehin unmöglich gewesen zu spielen.
Valuar ließ sich gegen die Felswand in seinem Rücken sinken und starrte in die Dunkelheit, um Marinels Umrisse auszumachen. Zu seinem Verdruss konnte er sie nicht erkennen, doch er spürte ihre Gegenwart so warm und deutlich wie seinen eigenen Herzschlag.
»Ist dir sehr kalt?«, fragte er sie mit rauer Stimme, er hatte in den letzten Tagen viel zu selten gesprochen. Das Rascheln von Stoff sagte ihm, dass sie entweder nickte oder den Kopf schüttelte. Er entschied sich für die ihm angenehmere Antwort und streckte seinen Arm zur Seite. Wie beiläufig, aber mit angehaltenem Atem und rasendem Herzen, ertastete er ihren Rücken, dann ihre Schulter und zog sie schließlich zu sich heran. Er spürte, wie sie sich einen Moment lang anspannte, und fürchtete sogleich die Vergeltung für seine ungewohnte Kühnheit, doch dann wurde ihr Körper nachgiebiger und sie ließ sich tatsächlich gegen seine Brust sinken und von seinen Armen umfangen. »So ist es wärmer«, flüsterte er und schloss die Augen, um die Intensität ihrer Nähe vollkommen auszukosten.
Als die Paare für die Abschlussprüfung bekanntgegeben wurden, hatte er zunächst nicht zu glauben gewagt, dass ihm wirklich Marinel zugeteilt worden war. Damit war ihm sein sehnlichster Wunsch erfüllt worden, und er war sich sicher gewesen, dass er ihr während der gemeinsamen Zeit endlich näherkommen würde. Nur leider hatte er bei seinen Träumereien nicht bedacht, wie schwer es ihm fiel, die richtigen Worte zu finden, und wie tollpatschig er sich in ihrer Gegenwart verhielt. Die beschwerliche Überquerung des Himmelläufers hatte seine ganze Konzentration erfordert, so dass die romantischen Gefühle nur selten den Schmerz und das Unbehagen aufgrund der Kälte überwogen hatten. Und nun lief ihm die Zeit davon. So lange hatte er sie nur schüchtern beobachtet, anstatt einen Schritt nach vorn zu wagen, und nun befanden sie sich bereits wieder beim Abstieg. Wenn er nicht bald handelte, wären sie zurück in Lurness, ohne dass er seinem Ziel näher gekommen wäre. Sie würden einander weiterhin aus der Ferne beobachten und lediglich belanglose Floskeln austauschen. Das könnte er nicht länger ertragen, und er war sich sicher, dass es Marinel nicht anders ging. Er mochte zwar zurückhaltend sein, aber blind war er nicht. Ihm war keineswegs entgangen, mit welcher Bewunderung sie seine Kämpfe verfolgt und ihm immer wieder verstohlene Blicke zugeworfen hatte. Auch hatte sie ihm im letzten Jahr, nachdem er sich bei einem Übungskampf eine Kopfverletzung zugezogen hatte, angeboten, sein Schwert einzufetten und es aufzubewahren, bis ihn die herrische Koboldfrau und Heilerin Finola wieder freigab. Und das, obwohl sie selbst doch schon genug zu tun hatte. Fast hundert Jahre verzehrte er sich nun schon nach ihr, und jetzt hatte ihm das Schicksal endlich den Weg bereitet, um seine Schüchternheit zu überwinden. Er musste diese Gelegenheit nur nutzen. Irgendwie.
Seufzend öffnete er die Augen, auch wenn dies in der Dunkelheit keinen Unterschied machte, und dachte darüber nach, wie er ihr seine Gefühle offenbaren konnte. Sollte er frei heraus sprechen oder sich langsam vorantasten, um ihre Reaktion abzuschätzen? Wenn er sie nur ein einziges Mal küssen dürfte …
»Was meinst du«, brach er das Schweigen, und er musste sich räuspern, um seiner Stimme überhaupt Kraft zu geben, »wieso hat der Befehlshaber ausgerechnet uns beide als Gefährten auserwählt?«
Marinel bewegte sich in seinen Armen, und es schien ihm, dass sie nun zu ihm aufblickte. »Vielleicht, weil wir beide die Besten in der Gruppe sind«, sagte sie mit schwacher Stimme, in der aber immer noch ihre charakteristische Fröhlichkeit mitschwang.
Valuar unterdrückte ein Lachen. Wie direkt sie stets war! »Nun …« Er atmete ein paarmal tief ein, um Kraft zum Sprechen zu finden. »Der Befehlshaber muss seine Gründe gehabt haben.«
»Vielleicht wollte er unsere Kameradschaftlichkeit testen. Wir beide haben bisher alle Wettbewerbe gewonnen, und so wollte er vermutlich herausfinden, ob wir zur Zusammenarbeit fähig sind oder uns aus Konkurrenzgründen …«
»… gegenseitig umbringen?«, fragte er belustigt, was Marinels Körper in seinen Armen vor Lachen beben ließ.
»Ich wollte sagen – Steine in den Weg legen, aber ja, du hast recht.« Sie holte keuchend Atem und brauchte eine Weile, ehe sie weitersprechen konnte. »Für die Silberritter ist es äußerst wichtig, dass sie sich auf ihre Kameraden verlassen können. Der Befehlshaber wollte wohl herausfinden, ob wir lediglich gut mit dem Schwert umzugehen vermögen.«
Valuar nickte. »Da magst du recht haben.« Ihre Theorie war einleuchtend, auch wenn er innerlich nur den Kopf darüber schütteln konnte. Jeder, der seine Gefühle zu deuten vermochte, würde sehen, dass er seinen Platz als Ritter jederzeit an Marinel weitergeben würde. Und bevor er ihr Schaden zufügte, würde er sich lieber seine eigenen Hände abschlagen lassen. Marinel war das reinste und ehrlichste Wesen, das ihm je begegnet war. Für sie bedeutete der Rittereid alles, für Valuar war die Ausbildung lediglich eine Pflichterfüllung. Viel lieber würde er durch ganz Elvion reisen, von Hof zu Hof, von Palast zu Palast, um zu musizieren, Geschichten zu erzählen und neue zu erfahren. Er beherrschte die Schwertkunst, doch es waren für ihn lediglich mechanische Bewegungsabläufe, die er abzuspulen vermochte. Er hatte wohl ein natürliches Talent dafür, doch anders als Marinel verspürte er keinen Funken Leidenschaft dabei. Doch leider konnte er das Rittertum nicht aufgeben, denn seine Familie erwartete von ihm, dass er der größte Silberritter aller Zeiten wurde. Ja, sein Land erwartete es von ihm, und seit Marinel in sein Leben getreten war, konnte er dem Ganzen immerhin etwas Gutes abgewinnen.
»Was meinst du, welche Prüfung die anderen wohl absolvieren mussten?«, riss Marinel ihn aus seinen Gedanken. »Ob sie wohl auch am Fuße eines Berges ausgesetzt wurden, mit der Aufgabe, ohne Waffen und magische Hilfe wieder zurückzukehren?«
Valuar zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht, aber mir hat der Befehlshaber mit diesem Ort durchaus einen Vorteil verschafft.«
Ein atemloses Kichern war die Antwort, und Valuar spürte unmittelbar eine innere Wärme in sich aufsteigen. Sie war einfach bezaubernd.
»Valuar von Valdoreen«, flüsterte sie in seinen Umhang, und es schien ihm, als bekäme sein Name, wenn sie ihn aussprach, eine besondere Bedeutung. Sie tat es, als wäre er etwas sehr Wertvolles. »Zurückgekehrt in die Heimat, in das Land des Schnees.« Sie richtete sich ein wenig auf, und jetzt war er sich sicher, dass sie ihn ansah. Sie war ganz nah bei ihm, er konnte ihren heißen Atem auf seinem Gesicht spüren. Er war süß, wie das Obst, das sie soeben gegessen hatten.
»Ich weiß nicht, was ich ohne dich getan hätte«, flüsterte sie. »Allein diese Stiefel und Handschuhe hätte ich völlig falsch hergestellt.«
Valuars Ohren rauschten, und in seiner Brust raste es wie wild. So konnte er keinen klaren Gedanken fassen. Doch er musste sich konzentrieren! »Das Fell nach innen«, brachte er krächzend hervor. »Das ist das Wichtigste.«
Marinel kicherte erneut und ließ ihren Kopf an seine Schulter sinken. Nun hatte er seine Gelegenheit verpasst! Der Atem entwich ihm mit einem lautlosen Stöhnen. Er war solch ein Feigling! Sag etwas, befahl er sich stumm. Sag irgendetwas, bring sie dazu, sich noch einmal aufzurichten, dir noch einmal so nahe zu kommen. Marinel, ich liebe dich.
Er kniff die Augen zusammen. Sprich es aus!, dachte er immer wieder wütend auf sich selbst. Sprich es endlich aus!
»Der Vetter meines Vaters musste eine ähnliche Aufgabe bewältigen«, hörte er sich plötzlich sagen. Vielleicht könnte er Marinel mit einer Geschichte über seinen berühmten Verwandten unterhalten, auch wenn er sonst nicht gerne über ihn sprach. »Zusammen mit einem Ritter namens Cerelmin aus Riniel«, erzählte er ihr leise und darum bemüht, sich seine Atemlosigkeit in der dünnen Luft nicht anmerken zu lassen. Gerne hätte er diese Geschichte aufgebauscht, sie mit verstellter Stimme und gewichtigen Kunstpausen vorgetragen, aber dazu fehlte ihm die Kraft. »Die beiden wurden auf der Sonnentaler Seite des Gebirges ausgesetzt. Ihre Aufgabe bestand darin, je ein Drachenei unversehrt nach Valdoreen zu bringen. Kannst du dir das vorstellen? Diesen Berg zu überqueren ist schon schwer genug, aber dann noch mit einem großen, schweren und zerbrechlichen Ei …« Er schüttelte den Kopf und lächelte schließlich. »Warum müssen wir beide wohl keine Eier behüten?«, fragte er sich laut, obwohl er die Frage gar nicht hatte aussprechen wollen. Marinel rührte sich und blickte nun, dem Klang ihrer Stimme nach zu urteilen, wieder zu ihm hoch. Er müsste sich nur hinabbeugen, seine Hand an ihre Wange legen, ihre Lippen berühren …
»Wir sollen lediglich Kameradschaftlichkeit beweisen«, antwortete sie ihm, was ihn kaum merklich zusammenzucken ließ – er fühlte sich ertappt. So konnte es nicht weitergehen. Er würde noch verrückt werden.
»Und der Vetter meines Vaters?«, hüstelte er und strich sich das Haar unter die Kapuze zurück. »Wie erklärst du dir seine Aufgabe?«
»Ich glaube, er und sein Gefährte sollten lernen, unabhängig voneinander zu handeln, sich auf sich selbst zu konzentrieren, auf ihren eigenen Verantwortungsbereich. Womöglich waren sie gute Freunde und verließen sich zu sehr aufeinander. Sie sollten eigenständig handeln, obwohl sie zu zweit waren.«
Valuar hob die Augenbrauen. »Erstaunlich«, murmelte er bewundernd. »Du würdest eine phantastische Ausbilderin abgeben.«
Sie schnaubte. »Ich will keine Ausbilderin werden«, bemerkte sie hart. »Ich möchte ein Ritter werden, davon habe ich schon immer geträumt. Ich bin zweihundertacht Jahre alt, es wird Zeit, dass ich endlich meinen Eid leiste.«
Valuar widerstand dem Drang, ihr über den Kopf zu streicheln. Nicht zum ersten Mal sprach sie davon, dass sie ihren Eid gerne schon früher abgelegt hätte, und er wusste immer noch nicht, weshalb. Er hatte auch keine Ahnung, wie alt er war. Für ihn hatten Geburtstage nie eine große Rolle gespielt. Er wusste lediglich, dass er jünger als Marinel war. Vielleicht zählte er hundertdreißig Jahre. Seine Familie hatte großen Wert darauf gelegt, dass er seine Ausbildung so früh wie möglich begann, um in die Fußstapfen seines bedeutenden Verwandten zu treten. Einzig seine Mutter nannte ihn auch jetzt noch ein Kind und hatte seinen Fortgang als verfrüht empfunden.
»Ich habe ihn einmal getroffen«, brach Marinel mit sanfter Stimme das Schweigen. »Den Vetter deines Vaters, meine ich. Nevliin von Valdoreen.«
Valuar verkniff sich ein Seufzen. Wie sehr er diesen Namen verabscheute. »Ach ja?«, murmelte er und hörte Marinel nur noch mit halbem Ohr zu. Er hatte ja selbst von ihm angefangen, das hatte er nun davon. Er hasste es, ständig mit Nevliin verglichen zu werden, ihm nacheifern zu müssen und dabei immer als ungenügende Nachbildung beurteilt zu werden. Valdoreen braucht einen neuen Helden, pflegte sein Großvater zu sagen, ich habe aus Nevliin einen Ritter gemacht, ich werde dich auch noch zurechtschleifen.
Der Tod des einstigen Fürsten hatte ganz Valdoreen in tiefe Trauer gestürzt, und die Romantiker unter ihnen hatten wehmütig geseufzt, denn nun war der Weiße Ritter wieder mit seiner Prinzessin vereint. Alle Bewohner des schneeverhangenen Landes hatten ihren Fürsten geliebt und bewundert. Alle bis auf Valuar.
»Es war im Wiedervereinigungskrieg«, erzählte Marinel voller Stolz, als wäre eine Begegnung mit diesem Elfen etwas ganz Besonderes, »vor dem Massaker von Tantollon, bei dem der Fürst – also Nevliin – beinahe umgekommen wäre. Ich bereitete sein Pferd vor, und dann sprach er mit mir!«
Valuar verdrehte die Augen. »Ach.«
»Ja! Und nicht nur das! Er schenkte mir seinen Talisman! Kannst du dir das vorstellen?« Sie löste sich aus seiner Umarmung und saß ihm nun gegenüber. In der Enge ihres Lagers war sie ihm immer noch verstörend nah. In diesem Moment war er darüber aber gar nicht glücklich. Wenn er etwas noch weniger mochte als den ihm aufgezwungenen Ritterstand, dann waren das Elfen, die Nevliin von Valdoreen verehrten. Er hatte genug davon. All die verliebten Nevliin-Bewunderinnen hatten es sich zur Aufgabe gemacht, ihm nachzustellen und ihn über den Weißen Ritter auszufragen. Sie wollten sein Schwert berühren oder, was am schlimmsten war: sein Haar! Aus diesem Grund war er fast froh gewesen, Valdoreen zu verlassen, denn außerhalb des Fürstentums war die Verherrlichung Nevliins nicht ganz so ausgeprägt. Doch in Lurness war er von seinen Kameraden häufig auf diesen berühmten Ritter aus seiner Familie angesprochen worden, und sogar der Befehlshaber hatte ihn hin und wieder mit ihm verglichen. »Wie Nevliin!«, hatte er während einer Schwertübung gerufen. »Du bewegst dich wie er!« Es war grauenvoll.
»Willst du ihn sehen?«
Valuar atmete tief durch. »Wen sehen?«, fragte er, bemüht, sich seinen Unmut nicht anhören zu lassen. Sie konnte ja schließlich nichts für seine Abneigung gegen diesen Ritter. Sie wusste nicht, was es hieß, als Nachfolger eines Mannes wie Nevliin von Valdoreen aufzuwachsen.
»Na, den Talisman!«, rief sie aus und kam noch näher. Ihre Atemzüge gingen schnell und keuchend. Das Sprechen in diesen Höhen war der reinste Kraftakt, aber für sie gab es kein Halten mehr. Ihre Hand berührte seine Brust, und obwohl er über der einfachen Anwärterkleidung auch noch den Umhang um sich geschnürt hatte, meinte er, ihre Berührung bis auf die Haut spüren zu können. Doch dann strich ihre Hand auch schon zur Seite, berührte seinen Arm, fuhr weiter hinab und fand schließlich seine Finger. »Hier.« Sie führte seine Hand hoch zu ihrem Hals. Erneut spürte er ihren Atem im Gesicht, während er ein flaches Etwas an einer Schnur in der Hand hielt.
Valuar schloss seine Finger darum. Er spürte, wie sie ihm ihren Hals entgegenreckte, damit er den Talisman besser begutachten konnte. Er vermochte sie sich genau vorzustellen, auch wenn er in Wahrheit nichts als Schwärze sah. Ihr Anhänger interessierte ihn nicht im Geringsten, doch er hatte dadurch eine neue Möglichkeit erhalten. Langsam lehnte er sich weiter vor, hielt den Atem an und versuchte, sich voll und ganz auf sie zu konzentrieren, seine Sinne zu schärfen, da er ja nichts sehen konnte. Jeden Moment müsste er ihre Haut berühren, ihre Lippen …
»Ist er nicht zauberhaft?« Marinel wich zurück, und Valuar entfuhr die angehaltene Luft. Sie schien davon jedoch nichts zu bemerken.
»Nevliin meinte, es wäre sein Glücksbringer«, fuhr sie fort, »und er hat ihn mir einfach so geschenkt! Er sagte – und das werde ich nie vergessen –, er hätte sein Glück schon gefunden.«
Valuar ließ sich zurück gegen die Wand sinken und versuchte, seinen rasenden Herzschlag wieder zu beruhigen, während Marinel weiterredete und für jedes Wort tief Atem holen musste.
»Ist das nicht romantisch?«, schwärmte sie mit jener ihm nur zu bekannten Verliebtheit, die er stets in Verbindung mit Nevliins Namen erleben musste. »Und er hatte tatsächlich Glück! Er gab mir den Talisman und überlebte in Tantollon. Das war ein Wunder! Dann wurde er auch noch von Meerjungfrauen gerettet und …«
»Ja, ich kenne die Geschichte.«
»Natürlich.« Einen Moment lang war es still, dann rutschte sie wieder näher an ihn heran. »Wie war er denn so?«, fragte sie ihn plötzlich flüsternd, als erwartete sie, ein Geheimnis von ihm zu hören. »Also ganz privat, im Kreise der Familie.«
»Das ist mir nicht bekannt. Ich bin ihm niemals begegnet.«
»Wie bitte?« Marinels Hand fiel auf seine Schulter, doch am liebsten hätte er sie weggewischt. »Wieso nicht?«, fragte sie ihn verwundert. »Er war doch der Vetter deines Vaters. Du bist von seinem Blut!«
Oh ja, das war sein Fluch. Er war vom Blute des Weißen Ritters. Was für ein Unsinn!
»Er starb noch vor meiner Geburt«, winkte er ab, obwohl dies nicht der Wahrheit entsprach. Marinel war aber, wie erwartet, viel zu aufgeregt, um nachzurechnen. Der Grund, weshalb Valuar den Weißen Ritter niemals kennengelernt hatte, war simpel – Nevliin war zwar der Fürst von Valdoreen gewesen, hatte sich dort aber niemals blicken lassen. Viel lieber hatte er ja den Helden gespielt und sich von seinen Leuten feiern lassen, während Valuars Vater Vlidarin das Land für ihn geführt hatte, ohne jemals Ruhm dafür zu ernten. Niemanden schien zu kümmern, dass Nevliin kein wahrer Fürst gewesen war. Noch nicht einmal Valuars Vater hegte deswegen einen Groll gegen seinen Vetter. Das Land braucht einen Helden, pflegte er zu sagen, die Leute müssen zu jemandem aufsehen, um auch die Widrigkeiten des Lebens zu überstehen, sie müssen an Wunder, Ehre und Ritterlichkeit glauben. Daher erwarteten sein Vater und Großvater auch, dass Valuar die nächste schillernde Gestalt Valdoreens wurde.
Wie sollte Valuar sich einem Mann widersetzen, der selbst auf alles verzichtet hatte, um seinen Vetter zu unterstützen? Wie sollte er all die Bewohner Valdoreens enttäuschen, die ihn seit Nevliins Tod als Ritter sahen? Sie brauchten jemanden, an den sie glauben konnten, und Valuar war der Einzige, der übrig war, um in die Fußstapfen des Weißen Ritters zu treten. Sein Vater hatte ein Fürstentum zu regieren, und Nevliin hatte bewiesen, dass ein Fürst nicht gleichzeitig auch ein Ritter der Königin sein konnte.
Marinels Stimme begleitete seine Gedanken. Sie sprach von einer weiteren Begegnung mit dem großartigen Nevliin, doch Valuar hörte ihr nicht mehr zu. Er zweifelte an seiner Beobachtungsgabe. Bisher hatte er stets geglaubt, andere gut einschätzen zu können, und er hatte Marinel nie für eine dieser dummen, verliebten Nevliin-Verehrerinnen gehalten. Sie war doch eine so kühne Kämpferin, mit einem Durchhaltevermögen, das seinesgleichen suchte. Wie konnte sie also plötzlich so von einem verstorbenen Mann schwärmen, als sei er ihr Geliebter? Sie sprach von Romantik und wusste doch nichts darüber! Mit ihm, Valuar, könnte sie romantische Stunden verleben, jetzt, in dieser Situation. Er könnte sie küssen, könnte sie an sich ziehen und sie vergessen lassen, dass es je einen anderen Valdoreener Ritter gegeben hatte als ihn. Doch er verharrte reglos und ließ das Summen ihrer Stimme über sich ergehen – bis er es nicht mehr länger ertragen konnte.
»Wusstest du, dass es in meiner Familie auch sehr erfolgreiche Musiker gab?«, fragte er mitten in eine Schilderung von Nevliins und Prinzessin Vanoras Rückkehr aus Tantollon.
Marinel verstummte. Er konnte ihren Blick auf sich spüren und wartete angespannt auf eine Antwort. »Musik?«, fragte sie schließlich mit unverhohlenem Spott. »Valuar, ich bitte dich! Wen kümmert die Musik, wenn er nach dem Lied der Klinge tanzen kann? Oh, wie sehr ich dich darum beneide, Nevliins Schwert führen zu dürfen. Hast du jemals eine wunderbarere Arbeit …«
Valuar schloss die Augen und wünschte, er könne auch seine Ohren verschließen. Etwas in ihm gefror zu Eis, seine Brust zog sich zusammen und wurde kälter und kälter.
Sein Schwert. Deshalb also hatte sie es für ihn aufbewahren wollen. Natürlich! Wie dumm er doch gewesen war. Aus diesem Grunde hatte sie ihn ständig angestarrt und jeden seiner Kämpfe beobachtet. Deshalb war sie bei ihren Gesprächen genauso befangen gewesen wie er! Und hatte sich so gefreut, mit ihm gemeinsam diese Prüfung anzutreten. Es ging gar nicht um ihn, es war nie um ihn gegangen. Was war er doch für ein Narr gewesen. Sie sah in ihm einen Elfen mit dem weißgoldenen Haar Nevliins, den scharf geschnittenen Gesichtszügen Nevliins, der eleganten Klinge Nevliins, der tänzerischen Wendigkeit Nevliins. Sie sah nicht, dass er sich lieber der Musik hingab als dem Tanz mit dem Schwert. Wie sehr er sich doch wünschte, dass er mehr von seiner Mutter und nicht jene charakteristischen Merkmale der Fürstenfamilie geerbt hätte. Wie viel leichter wäre sein Leben mit dunklem Haar und weicheren Gesichtszügen, die seine Liebe zur Poesie anstatt zum Schwert zum Ausdruck bringen würden. Wie gerne würde er ihre Augen mit seinem Flötenspiel zum Strahlen bringen anstatt beim Einschlagen auf Kameraden. Und wie gerne würde er die Zeit zurückdrehen, um in ihr wieder jene Marinel zu sehen, die er hundert Jahre lang aus der Ferne beobachtet und zu kennen geglaubt hatte.
*
Sie brachen noch vor Sonnenaufgang auf. Mit dem ersten blassgelben Licht am Horizont packte Valuar die Decken und machte sich an den weiteren Abstieg. An Marinel richtete er kein einziges Wort, doch ihr schien seine Schweigsamkeit nicht weiter aufzufallen, schließlich hatte Valuar in den letzten Tagen nie besonders viel gesprochen. Ein Fehler, wie sich nun herausstellte. Hätte er schon früher ein Gespräch mit ihr gesucht, anstatt sich fruchtlosen Träumereien hinzugeben, wäre ihm schon vor langer Zeit aufgefallen, dass Marinel lediglich eines dieser verliebten Dummchen war, wie sie seit Jahrzehnten um ihn herumscharwenzelten. Erstaunlich, dass sie ihn nicht gefragt hatte, ob sie sein Haar berühren durfte. Aber immerhin war er nun schlauer. Er würde sich von nun an voll und ganz auf die Prüfung konzentrieren und die Valdoreener mit Stolz erfüllen, so, wie sie es verdienten. Und wenn Marinel nicht unter die Auserwählten käme und kein Ritter würde – so wäre ihm das völlig einerlei. Sie hatte es nicht verdient, ein Silberritter zu werden. Der einzige Grund für ihr Streben nach dem Schwert war doch lediglich ihre Liebe zu einem Toten. Solche Ritter konnte die Königin nicht gebrauchen.
Der Wind flaute an jenem Morgen ab, und die Sonne tauchte die Landschaft in gleißendes Weiß. Um keinen Sehschaden davonzutragen, band Valuar sich ein grob gewebtes und somit sichtdurchlässiges Tuch um die Augen und nach einiger Zeit tat Marinel es ihm gleich. Er spürte, wie sie ihm immer wieder Blicke zuwarf, also schien sie seine veränderte Haltung nun doch zu bemerken. Möglicherweise wunderte sie sich, weshalb er sie jetzt völlig ignorierte. Valuar beschleunigte seinen Schritt und ließ sie ein gutes Stück hinter sich. Marinel schwieg dazu. Sollte sie sich doch ihre eigenen Gedanken machen, so, wie er ebenfalls von unerfreulichen Stimmen heimgesucht wurde.
Hundert Jahre! Beinahe hundert Jahre hatte er sie wie ein verliebter Narr aus der Ferne angehimmelt und sich doch so sehr in ihr getäuscht. Was für eine Zeitverschwendung. Schnaubend schüttelte er den Kopf. Es reichte ihm.
Ein Krachen hinter ihm ließ ihn erstarren. Der folgende Schrei fuhr ihm bis in die Knochen. Valuar fuhr herum und sah durch seinen Sichtschutz gerade noch, wie Marinel von einem Moment zum anderen vom Boden verschluckt wurde. Ein Keuchen entfuhr ihm. Sofort riss er sich das Tuch von den Augen, ließ den Schulterbeutel zu Boden fallen und rannte los, das Eisfeld hinauf.
»Marinel!« Vor ihm klaffte ein Spalt im Boden. Valuar stürmte darauf zu und ließ sich auf den Bauch fallen. Mit beiden Händen zog er sich an die Kante heran und blickte in den Abgrund hinab.
»Gütige Seelen bei den Sternen«, entfuhr es ihm, als er Marinel nur knapp unter sich hängen sah. Er hatte das Schlimmste erwartet, doch noch war die Gefahr nicht gebannt. Ihr Handschuh und ein Teil des Umhangs hatten sich im Eis verfangen und sie so vor dem Absturz bewahrt. Ihre Beine aber strampelten haltlos in der Luft. Unter ihr gähnte schwarze Leere. Der Gletscherspalt war nicht breit, Valuar hätte ihn mit Leichtigkeit überspringen können, aber er war tief, sehr, sehr tief. Der Schnee musste ihn verdeckt haben und dann eingebrochen sein.
»Halte durch«, keuchte er und riss sich mit den Zähnen die Handschuhe von den Händen. Die Kälte schnitt sofort in seine ungeschützte Haut, doch im Moment spürte er sie kaum. Wie hatte er nur so dumm sein können? Er kannte doch die Gefahren der Gletscher. Den ganzen Tag lang hatte die Sonne herabgebrannt und den Schnee aufgeweicht. Er hätte sie warnen müssen, hätte sie nicht allein gehen lassen dürfen, er hätte …
Valuar beugte sich über die Kante. Ihre großen, grünen Augen starrten ihn an. Sie schienen beinahe alles von ihrem Gesicht einzunehmen und flehten stumm um Hilfe. Grüne Seen der Verzweiflung.
»Ich bin gleich da.« Mit aller Kraft schlug er seine Stiefelspitzen in den Schnee und lehnte sich weiter vor. Er streckte seine Finger und bekam tatsächlich den Stoff ihres Umhangs zu fassen.
»Valuar«, flüsterte sie, doch er konnte sie jetzt nicht ansehen. Er musste sich konzentrieren. Noch ein kleines Stück …
Seine eine Hand umklammerte ihr Handgelenk, mit der anderen hielt er sich an der scharfen Kante fest. Erleichtert atmete er auf. Ihm war, als hätte er den Berg von neuem bestiegen, und er japste nach Luft.
»Versuch deine Füße gegen die Wand zu drücken«, keuchte er. »Stütz dich ab.« Er musste auch ihren anderen Arm zu fassen bekommen. »Marinel, deine Hand. Gib mir deine Hand.«
Sie sah zu ihm hoch. Die Kapuze war während des Sturzes von ihrem Kopf gerutscht, und goldene Haarsträhnen hingen ihr ins Gesicht. Den Schulterbeutel hatte sie wohl bereits verloren. Er musste sie hochziehen. Irgendwie.
Sein Blick fiel auf sein Handgelenk. Das straffe Armband mit dem Schattenkristall erlaubte ihm keine Magie, und er konnte es auch nicht abnehmen, ohne Marinel loszulassen. Verfluchte Ritterprüfung!
Marinel wandte den Blick von ihm ab und starrte in die Tiefe, ihr Atem raste.
»Nicht hinuntersehen«, keuchte er. Sie wurde ihm zu schwer, und er hatte das Gefühl, bald selbst ins Rutschen zu geraten. Lange könnte er sie nicht mehr halten.
»Los, Marinel! Stemm die Füße gegen die Wand!«
Marinel versuchte es, doch ihre Stiefel glitten immer wieder von der Eiswand ab. Ihr Körper schlingerte hin und her, und Valuars Griff um ihr Handgelenk wurde schwächer.
»Hör auf.« Mit aller Kraft schloss er seine Finger um sie. »Ich ziehe dich hoch.« Es musste funktionieren, sie hatten keine andere Möglichkeit. Er würde es schaffen.
Marinel blickte wieder zu ihm auf, und Valuar fragte sich plötzlich, weshalb er vorige Nacht so lange gezögert hatte. Weshalb hatte er sie nicht einfach geküsst? Er hätte es tun müssen!
Doch dann fiel sein Blick auf die abgewetzte Lederschnur an ihrem Hals. Ein Stück Metall baumelte daran, ohne genaue Form oder Farbe. Es war einfach nur ein Stück … Müll. Abfall. Und Valuar begriff, dass sie ihn zurückgewiesen hätte. Egal, was er getan hätte, sie würde immer nur jenen Valdoreener lieben, der längst gestorben war.
Valuar starrte auf den Anhänger. Er konnte nicht fassen, dass sie solch ein nutzloses Ding wertschätzte. Einen Talisman nannte sie es. Nun, besonders viel Glück hatte er ihr nicht gebracht.
Das Eis in seiner Brust kehrte zurück, bohrte sich wie ein frostiger Splitter in sein Herz.
Marinel starrte ihn an, doch Valuar sah sie kaum noch, ein Schleier legte sich über seine Augen, ein Krampf fuhr in seine Hand. Sie hätte alles von ihm haben können, hätte sein Herz haben können, aber sie hatte darauf gespuckt. Sie hatte den Tod gewählt statt des Lebens. Den Tod.
Seine Finger öffneten sich. Marinels Mund klappte auf, doch kein Schrei erscholl. Der Umhang rutschte durch seine Hand. Valuar zuckte zusammen, das Entsetzen fuhr ihm wie Eiswasser durch die Adern. Er versuchte noch zuzugreifen, doch er ertastete lediglich Luft. Marinel fiel … lautlos, stumm.
Mit einem erstickten Laut fuhr er zurück und rang um Atem. Seine Hände fuhren an seine Kehle, er bekam keine Luft, sein Hals war wie zugeschnürt, ein Pochen dröhnte durch seinen Kopf. Röchelnd und um Luft kämpfend rollte er sich auf den Rücken und lag dahingestreckt auf dem Eis. Der weißblaue Himmel wie eine Decke über ihm. Er konnte nicht glauben, was soeben geschehen war. Er konnte nicht atmen, hier oben gab es keinen Sauerstoff, er würde ersticken. Er hatte sie losgelassen. Seine Hand. Er hatte einfach losgelassen!
Valuar presste die Augen zusammen und konzentrierte sich auf seine Atmung. Er brauchte Luft, musste seine Lungen nähren, die kurz vor dem Explodieren standen. Sein Brustkorb hob und senkte sich rasend schnell, sein Hals schmerzte. Ruhig, mahnte er sich selbst. Ganz ruhig, atme, konzentriere dich, denk nach.
Es war still, das Pfeifen seines abgehackten Luftholens war das einzige Geräusch in dieser unendlichen Weite des Himmels. Nur schleichend wurde es gleichmäßiger und ruhiger.
Valuar öffnete die Augen. Er zitterte am ganzen Leib. Langsam hob er die rechte Hand und hielt sie vor sein Gesicht. Die Hand war leer, hielt nichts mehr fest. Dann hob er die andere Hand. Diese war rot, blutverschmiert. Das scharfkantige Eis hatte sich hineingeschnitten, als er sich daran festgehalten hatte.
Ungläubig blickte er zwischen den beiden Händen hin und her, als wären es nicht die seinen. Eine von ihnen hatte getötet, doch es klebte kein Blut an ihr. Sie war rein.
Und wenn sie noch lebte?
Mit einem Ruck setzte er sich auf und hielt den Atem an. Er lauschte. Rief sie um Hilfe? Konnte sie noch am Leben sein? Stille. Da war nichts.
Wie tief war der Spalt gewesen? Er hatte es nicht erkennen können, es war zu dunkel gewesen, auch hatte er sich nicht wirklich darauf konzentriert. Alles war so schnell gegangen. Er hatte losgelassen.
»Marinel«, flüsterte er und versuchte krampfhaft, seine rasenden Gedanken zu ordnen. Er musste nachsehen, musste wissen, ob sie noch lebte. Wenn sie noch am Leben war, musste er ihr doch helfen. Doch was würde sie dann machen? Was, wenn sie ihn verriet? Er würde niemals ein Ritter werden und mit Schande zurück nach Valdoreen gejagt werden. Konnte er das seiner Familie antun? Und wenn sie ihn einsperrten oder gar hinrichteten? Aber wenn sie tot war … Er könnte sagen, sie wäre gefallen, er hätte sie nicht erreicht, ihn träfe keine Schuld. Aber vielleicht war sie ja doch noch am Leben. Vielleicht konnte sie sich später auch gar nicht mehr erinnern …
Valuar schlang die Arme um seine Knie und hielt sie fest umklammert. Wirr strömten die Gedanken durch seinen Kopf. Du hast sie losgelassen, hast sie umgebracht! Sie lebt noch, du musst ihr helfen! Geh einfach weiter, sieh nicht zurück! Diese Tat wird dich deinen Kopf kosten!
Mit einem Stöhnen presste er die Hände an die Schläfen und versuchte, sich zu konzentrieren. Die Kälte kroch in seine Glieder, doch er spürte den Schmerz nicht. Er fühlte gar nichts mehr. Ihm war, als hätte er sich in die dünne Höhenluft aufgelöst, unzureichend, kalt.
Der Himmel über ihm verschwamm zu einem verwaschenen Bleigrau, die Schatten wurden länger, und Valuar stellte mit Schrecken fest, dass die Sonne bald untergehen würde. Da traf es ihn wie ein Schlag auf den Kopf und der Wahnsinn fiel von ihm ab.
»Marinel!«
Er sprang auf die Beine, doch sie knickten nach der langen Zeit der Regungslosigkeit sofort wieder ein. Gerade noch rechtzeitig konnte er sich abstützen, um nicht mit dem Gesicht aufs Eis zu fallen. Doch er ließ sich keine Zeit zum Verschnaufen. Mit zusammengebissenen Zähnen rappelte er sich wieder hoch und stolperte die paar Schritte zur Abgrundkante. Bitte sei noch am Leben, flehte er dabei stumm, wie eine Beschwörungsformel, sei noch am Leben, sei noch am Leben, sei noch am Leben.
Er kniete nieder und beugte sich vor, um in die Tiefe zu blicken. Mitternachtsblaue Leere tat sich vor ihm auf. Zerfurchte und gesplitterte Eisformationen, die aus den glatten Wänden ragten und … Valuar kniff die Augen etwas zusammen und schnappte nach Luft. Ein kleiner Vorsprung! Und darauf war etwas Helles zu erkennen. Es könnte grau sein, grau wie ihr Umhang. Sofort kam er wieder auf die Beine, wenn auch etwas schwankend, und sah sich um. Er hatte kein Seil, kein Messer, hatte noch nicht einmal etwas, woran er ein Seil hätte befestigen können. Er hatte gar nichts. Wie sollte er da hinuntergelangen?
Sein Blick fiel erneut auf sein Armband mit dem magieunterdrückenden Kristall. Wenn er es abnahm, das Siegel brach, mit dem es geschlossen war … dann würde er die Ritterprüfung nicht bestehen. Mit der Anwendung von Magie verstieße er zweifelsohne gegen die Regeln, aber wenn er es nicht tat … Mit einem kräftigen Ruck riss er das Armband ab und ließ es zu Boden fallen. Dann stellte er sich nahe an die Kante und öffnete sich, um den Kräften der Natur Einlass zu gewähren. Sein Atem wurde ruhiger, er wurde eins mit der Umgebung, hörte das Wasser gluckern und rauschen … Wasser!
Valuar ballte die Hände zu Fäusten und kniff die Augen zusammen. Er war dem Element der Erde zugehörig, daraus schöpfte er seine Energie. Zwar besaß jeder Elf eine eigene, ihm innewohnende Magie, eine Art fünftes Element, doch war diese Kraft nichts ohne die Verbindung zu einem anderen Element, insbesondere jenem, dem er zugehörig war.
Aber hier war überall nur Wasser, er befand sich auf einem Gletscher, um ihn herum gab es nur Eis und Schnee. Die Erde war unendlich weit weg. Ja, der Berg selbst, das Felsgestein, stand in Verbindung mit ihm, aber es war zu wenig, einfach zu wenig. Er musste das Eis formen, für ihn zugänglich machen, er musste zu Marinel!
Welch grausames Spiel des Schicksals! Ihn mit all den Ähnlichkeiten mit Nevliin von Valdoreen zu bestrafen, ihm aber die Macht der Magie und das Element des Wassers zu verwehren. Allerdings war Nevliin auch erst mit der Zeit zu einem großen Magier geworden. Er hatte die Kraft erlernen müssen, in Tausenden und Abertausenden von Jahren. Wenn Valuar sich also genug anstrengte …
Noch einmal versuchte er, durch den Berg hindurch die Erde zu erreichen, konzentrierte sich mit aller Kraft darauf, bohrte die Finger in die Handflächen, biss die Zähne zusammen, doch er spürte lediglich einen schwachen Hauch der sonst so starken Macht. Voller unbändiger Wut stieß er einen Schrei aus und japste nach Atem. Die Magie war anstrengend, und die Luft hier oben machte es ihm nicht leichter.
»Marinel«, flüsterte er verzweifelt. Er hatte so viel Zeit vergeudet, vielleicht hatte sie noch gelebt und war nun erfroren oder ihren Verletzungen erlegen. Vielleicht kam er zu spät. Er musste es schaffen. Und wenn er die Kraft aus dem Wasser zog? Es gab Elfen, die sich andere Elemente gefügig machten. Nevliin war es niemals gelungen, aber Valuar wusste auch nicht, ob der Ritter es jemals versucht hatte. Es musste doch möglich sein. Es gab Magier, die alle vier Elemente beherrschten und so zu einem wahrhaftigen fünften Element aufstiegen. Er wollte doch nur das Wasser, nur das Wasser …
Noch einmal konzentrierte er sich, öffnete sein Innerstes, erweckte die Magie in sich und griff hinaus, um die Kraft der Natur zu finden. Dieses Mal aber lag sein Hauptaugenmerk auf dem Eis, und er stellte sich vor, Teil davon zu werden, hinabzufließen an jene Stelle, wo Marinel lag. Er sah die Steilwand deutlich vor sich, doch er blickte durch einen goldenen Schein, der seine Augen bedeckte – die Magie der Erde. Ein weiterer Schrei entfuhr ihm und wurde von den Felswänden zurückgeschleudert. »Komm schon!«, brüllte er und atmete tief ein, um weitere Kraft zu sammeln. Wasser, eisig kalt, fließend, plätschernd, eins werden mit dem Wasser, zu Eis erstarren, die glatte Wand, eine Stufe … Doch die Eiswand blieb, wie sie war, veränderte sich nicht, fügte sich nicht seinem Willen. Valuar trat schreiend gegen den Schnee und keuchte. »Na los!«, rief er wieder und wieder und versetzte seinen Körper in Anspannung. Er musste es schaffen, musste da hinunter, zu Marinel!
Finsternis zog auf, die schwarze Decke der Nacht umhüllte den Berg, doch Valuar gab nicht auf.
Zu Wasser werden, eins werden mit dem Element, davonfließen, sich auflösen … Da war eine Mauer, sie versperrte ihm den Zugang zu der elementaren Macht. Er stemmte sich dagegen, musste sie einreißen und eintauchen in die Kraft. Keuchend und stöhnend drückte er dagegen, holte alles aus sich heraus und sank schließlich in die Knie. In seinem Kopf drehte sich alles, der Berg schien sich im Kreis zu bewegen, und so schloss Valuar die Augen und lauschte einige Augenblicke lang nur seinem zischenden Atem. Er schwebte in der Dunkelheit, war nur noch die aufgelöste Form seiner selbst.
Es war alles verloren. Er konnte nicht zu ihr. Er hatte sie fallen lassen. Nein, er konnte es noch schaffen. Vielleicht war sie noch am Leben.
Allmählich löste sich seine Anspannung wieder, seine Glieder wurden schlaff, und Valuar ließ sich nach vorn sinken, sodass sein Gesicht in den Schnee fiel. Die Kälte fühlte sich angenehm auf seiner erhitzten Haut an. Am liebsten hätte er sich im Schnee eingegraben und wäre … eins damit geworden.
Valuar fuhr hoch. Darin lag der Schlüssel! Er war mit Gewalt gegen das Element vorgegangen, doch er musste sich ihm sanft nähern.
Kniend legte er seine Hände auf die kalte Oberfläche und konzentrierte sich auf einen ruhigen Atem, dann auf einen beständigen Herzschlag. Er lauschte dem Pochen, bis er ganz und gar davon erfüllt wurde. Anschließend stellte er sich noch einmal die Eiswand in der Gletscherspalte vor und auch, wie sich Stufe um Stufe bildete. Zuerst eine, dann die nächste. Sie wuchsen heraus, formten sich. Es waren kaum mehr als handbreite Vorsprünge und Vertiefungen, aber sie waren begehbar. Er sah sie deutlich vor sich, durch einen silbernen Schleier – der Magie des Wassers!
Valuar nahm die Hände vom Schnee und atmete auf. Das Knistern in der Luft flaute ab, und einen Moment verharrte er reglos. Er fürchtete, sich all das nur eingebildet zu haben, doch als er wieder an den Abgrund trat und hinabblickte, entdeckte er tatsächlich Stufen im Licht der Sterne. Sie waren Wirklichkeit.
Nun gab es für ihn kein Halten mehr. Valuar machte einen vorsichtigen Schritt die erste Stufe hinab und hielt sich dann mit den Händen an der Abbruchkante fest. So kletterte er langsam immer weiter hinab, Stufe für Stufe, die Finger in die kleinen Vertiefungen vergraben, um Halt zu finden. Ein falscher Schritt, und er fiele in die Tiefe, aber er würde nicht ausrutschen. Er würde Marinel da herausholen. Es war ihm unmöglich, etwas zu sehen, doch er tastete sich vorwärts, einen Schritt nach dem anderen.
Die Enge im Gletscherspalt war beängstigend. Wenn er sich zur anderen Seite streckte, könnte er dort sogar die Wand berühren. Es wurde immer schwieriger, sich festzuhalten, und auf halber Strecke musste er eine Pause einlegen, um die Hände