Armin Öhri / Vanessa Tschirky
Sinfonie des Todes
Historischer Roman
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1. Auflage 2011
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung / Korrektur: Julia Franze / Katja Ernst
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung des Bildes »Dame im gelben Kleid«;
Quelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Max_Kurzweil_1899_Mujer_con_un_vestido_amarillo.jpg
ISBN 978-3-8392-3654-3
Für unsere Eltern
Quos deus perdere vult, prius dementat.
Die Gott verderben will, schlägt er zuvor mit Wahnsinn.
(Publilius Syrus, ›Sentenzen‹)
Meran stand ihm noch immer vor Augen. Das sonnige, angenehme Meran. Voller Schwermut dachte der Sektionsrat an das mediterrane Klima, an die hohen Bergketten, die den Talkessel, in dem die Stadt lag, schützend umgaben, und an die Parkanlagen, die so weitläufig und schön waren, dass man stundenlang in ihnen verweilen konnte. Er lehnte die Stirn an das beschlagene Fenster seines Zugwaggons und wurde melancholisch. Der Regen drückte feine, dünnfadige Striche an die Scheiben. Instinktiv wich der Passagier wieder zurück, knöpfte seinen Hemdkragen zu und zupfte an dem Plaid, das über seinen Schoß ausgebreitet war. Nässe war ihm mittlerweile ein Gräuel geworden, und so sah er mit Unbill den kommenden Tagen in Wien entgegen.
Die sechs Treibräder der Lok ratterten über die Gleise, während auf dem Metall des Langkessels die Regentropfen zischend verdampften. Wie ein stählerner Lindwurm wälzte sich die Eisenbahn durch die Vororte, vorüber an Landschaften, die sich schemenhaft und verschwommen ausnahmen. Tannen und Büsche flogen vorbei – im Dunkel der Nacht kaum mehr zu erkennen –, Hütten, Tennen, windschiefe Bauernhäuser, natürlich die unvermeidlichen Telegrafenstangen, schließlich die ersten größeren Wohnungen und Arbeitersiedlungen, welche die Vorstadt ankündigten. Als das grelle Pfeifen der Klotzbremsen einsetzte, richtete sich Fichtner in seinem Sitz auf. Er war froh, das stickige Coupé verlassen zu können, wenngleich ihn die Aussicht auf die klammen Straßen der Hauptstadt betrübt stimmte.
Fauchend und brüllend fuhr der Nachtzug in den Bahnhof ein. Der Reisende erhob sich, griff nach seinem Gepäck und entriegelte die Kabinentür. Wie jedes Mal, wenn er aus der Ferne kam, aus dem Wagen trat und seinen heimwehkranken Blick über das Areal des Südbahnhofs schweifen ließ, bemerkte er die unsägliche Enge der Seiten- und der Zungenbahnsteige. Die Perrons waren schmal, viel zu schmal nach seinem Geschmack, und er fragte sich, wie man diese nachteilige Konzeption gleichzeitig mit dem eigentlichen Hallenportal hatte bauen können, das um so vieles funktionaler und deutlich auf klarere Linien ausgerichtet war.
Fichtner hustete. Die Augen waren ihm auf der Reise schwer geworden, und nun drängelte er sich träge durch die Massen. Er war am nördlichen Seitenbahnsteig angekommen. Ein glücklicher Zufall, denn der Sektionsrat rief sich ins Gedächtnis, dass von hier aus eine Stiege direkt an die Seitenfront der Halle führte, von wo aus ein Glasdach den Vorplatz zwischen den Seitenpavillons überspannte. Er lief also nicht Gefahr, nass zu werden, und so lenkte er die Schritte diesem Ziel zu.
Zwischen steinernen Markuslöwen, die die Pavillons flankierten, warteten einige Fiaker und Einspänner auf die Neuangekommenen. Fichtner wollte eines der Gefährte heranpfeifen, besann sich aber eines Besseren und winkte einfach mit der Hand. Danach räusperte er sich, griff sich an den Hals und massierte mit festen rhythmischen Bewegungen seinen Adamsapfel. Sobald der Kutscher die Koffer verstaut hätte, so nahm sich Fichtner fest vor, würde er einen Schluck Milch trinken …
Der Führer eines alten, luxuriösen Janschky-Wagens hatte ihn erblickt. Zwei gutmütig glotzende Pferde trabten heran und blieben schnaubend neben dem Sektionsrat stehen. Behände sprang der Kutscher vom Bock, übernahm das Gepäck und meinte: »Kommen S’, steigen S’ ein, wir stehen der Tramway im Wege.«
Der Mann stieg ein, nachdem er seinen Bestimmungsort angegeben hatte, und ließ sich auf die Polster fallen. Die Kutsche war elegant, sogar viersitzig, und Fichtner öffnete sein Handgepäck, sowie er sicher war, von dem Kutscher nicht mehr beachtet zu werden. Er nahm eine Flasche, deren trüber weißer Inhalt ihn leicht zum Gespött machen könnte, und setzte zu einem Schluck an. Der Sektionsrat verzog das Gesicht: Wie er doch all diese diätetischen Mittel verabscheute! Als er sein kleines Geheimnis wieder in die Tasche verschwinden ließ, holperte das Gespann gerade bei den Kassenhallen über die ins Pflaster eingelassenen Umkehrschleifen der Straßenbahn. Der Regen prasselte auf das Kutschendach, sobald sie die schützende Glasüberdachung des Bahnhofs hinter sich gelassen hatten.
Soll ich noch ins Café Hochleitner gehen, überlegte er, eine Hasardpartie wagen oder Tarock spielen? Dann aber verwarf er den leichtsinnigen, jedoch so verlockenden Gedanken, der in ihm aufgekeimt war, und nahm sich fest vor, den Rat seiner Ärzte fortan ernsthaft zu befolgen.
Er war 36 Jahre alt, eigentlich von kräftiger Statur, aber die Schwindsucht hatte ihn ausgezehrt. Die eingefallenen bleichen Wangen vermochte er nur noch durch einen Backenbart zu verbergen. Das Tragen solcher Haarpracht entsprach glücklicherweise der gängigen Mode, da wuchernde Barthaare als Attribut der Männlichkeit angesehen wurden, und so wusste der Kranke diese Maskerade zu seinen Gunsten zu nutzen. Mühe bereitete schon eher der Gemeinplatz, dass ein Mann forsch, ritterlich und aggressiv aufzutreten habe – eine Haltung, die dem von Nachtschweiß und Kopfschmerzen Geplagten einiges abverlangte. Das Gefährt polterte indes durch die Gassen, hatte den Ghega-Platz und den zehnten Bezirk längst hinter sich gelassen und folgte nun der Bubenbergerstraße bis zum Opernring. Der Kutscher ließ die Peitsche knallen und die Pferde bogen bei der Albertina und dem höfischen Operntheater ab.
Robert Fichtner war müde. Es war spät geworden in dieser Novembernacht des Jahres 1901. Er schätzte die Uhrzeit auf einige Minuten nach Mitternacht. Seine Müdigkeit wäre mit der langen Zugfahrt zu erklären gewesen, doch irgendetwas in seinem Inneren sträubte sich dagegen, diese matte Abgeschlagenheit nur mit den Strapazen der Reise in Verbindung zu bringen. Für einen Augenblick lang pochte es in seinem Schädel, er machte ein altbekanntes Zerrbild aus, das in seinem Geist erschien: einen hässlichen schwarzen Skorpion, dessen kräftige Scheren nach ihm griffen, ihn packten und zermalmten. Die Beklemmung war wieder da, drohte, sich Bahn zu schlagen in seinem Körper, doch bevor es so weit war, verschwand sie sogleich wieder und verflüchtigte sich auf geisterhafte Weise. Robert atmete erleichtert auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Erneut öffnete er sein Handgepäck und sondierte den Inhalt, bis er das gewünschte Päckchen gefunden hatte, das den Abessinischen Tee enthielt. Der Sektionsrat wunderte sich über den irreführenden Namen, da er die Khatblätter ja nicht trank, sondern lediglich kaute, und er griff sich zwei der größeren Exemplare heraus. Er rollte sie zu kleinen Kügelchen, die er in den Mund nahm und mit der Zungenspitze in die rechte Wange schob. Als der Janschky-Wagen vor dem Haus mit Fichtners Mietwohnung hielt, hatte sich bei ihm bereits ein wohliges Gefühl eingestellt. Das Kopfweh war verschwunden, die Müdigkeit verflogen.
Der Kutscher trug ihm das Gepäck ins Gebäude und Fichtner spendierte ein großzügiges Trinkgeld.
Sowie er allein war, zwei Lampen angezündet hatte und den menschenleeren Salon betrachtete, der sich verstaubt und düster präsentierte, wurde ihm die Elendigkeit seiner Situation mit einem Schlag bewusst. Die roten Polstersessel waren abgenutzt, die Lehnen durchgescheuert. Die Bilder, die an der Wand hingen, waren mittlerweile vergilbt. Die sich spärlich einfindenden Besucher seiner Wohnung mokierten sich stets über die Nachdrucke von Gemälden der Secessionisten oder über die Fotografien einiger der erotisierenderen Werke Koloman Mosers. Fichtner schritt zum Fenster, um die schweren Kretonnevorhänge aufzuziehen und ein wenig frische Luft ins Zimmer zu lassen. Dabei fiel ihm ein Briefkuvert aus der Manteltasche und flatterte zu Boden. Er bückte sich, um den Umschlag aufzunehmen, und entsann sich des eigentlichen Grunds für den Abbruch seines Kuraufenthalts.
Was sein Bruder wohl von ihm wollte? Hatte er womöglich wieder einmal Spielschulden gemacht?
Fichtner wendete das aufgerissene Kuvert, überflog die krakelige Handschrift, die seine Meraner Hoteladresse wohl in aller Hast oder zumindest in geistiger Aufgelöstheit geschrieben haben musste, und er überlegte ernsthaft, gleich jetzt noch, zu solch nachtschlafender Stunde, Wilhelm aufzusuchen. Er verwarf den Gedanken, da ihn ein anderes Vorhaben gepackt hatte. Schleichend war dieses aufgetaucht, hatte sich in seinem Hinterkopf festgekrallt und plötzlich den Weg in sein Inneres gefunden. Die Entschlossenheit aber, bis zur letzten Konsequenz zu gehen, fehlte noch. Unwirsch schritt er auf und ab, warf den schwereren seiner Reisekoffer auf den Tisch, ließ die Schlösser aufschnappen und wühlte in seinen Kleidern, bis er das Bündel gefunden hatte, das seinem Khatpäcklein ähnelte. Er riss die Verpackung weg, die er umsichtig mit Rosmarinwasser besprüht hatte, und entnahm die Pilze, die ihm in Meran ein Kurgast anempfohlen hatte. Sie waren dünn, mit leicht gebogenem Stil und mit Lamellen an der Außenseite des Hutes. Ein rettich- bis grasartiger Geruch entströmte ihnen und Fichtner, der sich nun mit überzeugter Gewissheit ans Werk machte, ließ den Salon hinter sich und begab sich ins Schlafzimmer. Der Sektionsrat musterte den Raum und erkannte mit dem geübtem Blick des Polizeibeamten die Gefahren, die es zu meiden galt. Er räumte den Nachttisch auf, warf alles, was lose war und als Waffe missbraucht werden konnte, in den Kleiderschrank und schloss diesen ab. Den Schlüssel selbst deponierte er im Salon, wo er ihn zwischen zwei Polster steckte. Er entledigte sich seiner Kleider, kam danach ins Schlafzimmer zurück, legte sich aufs Bett und griff nach den Pilzen.
Auch nach ungefähr zehn Minuten war noch immer nichts geschehen. Nichts hatte sich verändert, nichts war eingetreten, das irgendwie von Belang gewesen wäre. Alles war wie zuvor. Robert spürte plötzlich das Bällchen aus Khat, das ausgesaugt und spröde in seinem Mund lag, und spuckte es in seine Handfläche. Teile der zerkauten Lamellenhüte der Pilze waren zu erkennen, als er sein Sputum betrachtete.
Er stand auf, um in den Salon zu gehen, wo seine Kleider lagen. Zuvor suchte er das Badezimmer auf, um sich die Hände zu waschen, und kam dann zurück. Als er angezogen im Zimmer stand, fand er die ganze Angelegenheit lächerlich, wenn nicht gar idiotisch und absurd. Pilze! Pah! Robert lachte auf, als er sich seiner Naivität bewusst wurde. Wiederum machte er kehrt, ging ins Bad und trat an den Konsoltisch mit seinen Toilettenartikeln, wo er sich vor dem Trumeau in Aufstellung brachte. Stolz aufgerichtet stand er da. Er warf seinen Kopf zurück und betrachtete mit verächtlicher Neugier sein Spiegelbild. Doch sein Doppelgänger sah wider Erwarten gesund aus. Ein kräftiger Bursche, dachte Robert genügsam und zufrieden. Du bist nicht mehr malade wie auch schon … Er hob bedächtig die Linke und sein Ebenbild imitierte ihn so perfekt, als wolle Robert von ihm Rechenschaft verlangen. Der Sektionsrat war zufrieden. Vergnügt öffnete er die Tischlade und holte eine Trabucco hervor. Als er kein Feuerzeug fand, legte er ein weiteres Mal den Weg in den Salon zurück. Er stöberte umher, hob Kissen und Platzdeckchen auf, bis er auf der Wachsdecke eines Kommodentischchens eine Packung Streichhölzer fand. Diese Zigarrenart schmeckte ihm; er fand sie angenehm, liebte ihren Duft, ihr Aroma. Sie war klein, hell und leicht, und sie kostete 16 Heller das Stück. Er inhalierte den Rauch, der sich in seinem Mund mit den grasigen und pilzigen Überresten zu einer obskuren, extravaganten Melange verband, und blies ihn durch die Nase.
Ein Klingeln an seiner Wohnungstür riss ihn aus den Gedanken. Robert Fichtner warf einen Blick auf seine Taschenuhr: 1:27 Uhr. Wer mochte das wohl sein? Mit der Macht der Gewohnheit richtete er sich den Hemdkragen her, blickte kurz an sich hinunter, um sich von der Vollendung seines Erscheinungsbildes zu überzeugen, und nickte zufriedengestellt. Es klingelte just in dem Moment ein zweites Mal, als Robert bereits die Tür entriegelt hatte. Er öffnete.
Vor ihm stand sein Bruder.
»Na, bittest du mich nicht herein?«
Robert trat beiseite. Als Wilhelm eingetreten war, steuerte er die Ecke des Raumes an, wo einer der Polstersessel stand. Er setzte sich wortlos, legte die Hände auf die Knie und verharrte für geraume Zeit, in welcher er den Sektionsrat musterte. »Du siehst elend aus, richtig marode«, ging er dann sofort auf das nächstliegende Thema los, wie all die anderen Leute dieses Schlags, die Robert nicht ausstehen konnte.
Es folgte eine Minute beiderseitigen Schweigens, bis Wilhelm erneut zu einem Versuch ansetzte: »Du hast meine Nachricht bekommen?« Fichtner nickte. Ihm fiel auf, dass sein Bruder sich verändert hatte. Irgendetwas an ihm war anders geworden, er war nicht mehr so, wie er ihn in Erinnerung behalten hatte, doch ihm fiel nicht ein, was es war. Vielleicht die funkelnden Augen? Als Wilhelm plötzlich wie ein Getriebener aus seinem Sessel hochfuhr, schrak Robert zurück. Beim Zurückweichen fiel sein Blick zufällig auf den Boden und er erkannte mit wachsender Erregung, dass die Musterung der Holzdielen furchtbar nah war und sich wie Kraterlinien ausnahmen, in die man versinken konnte. Der Salon schien ihm kleiner und enger zu werden. Eine panische Beklemmung kroch in ihm hoch und er wollte Wilhelm um Hilfe bitten, doch der Bruder war verschwunden. Stattdessen lag eine geräumige altmodische Saffianbrieftasche auf der Sitzfläche des Sessels. Das schwarze Portefeuille war künstlich genarbt und mit einem Klemmöffner versehen. Ein abgestandener, modriger Geruch entströmte ihm und der Sektionsrat blickte sich verwundert nach seinem Bruder um. Weder hatte er ein Öffnen der Tür noch sonstige Geräusche gehört. Er gab sich einen Ruck. Mit tippelnden Schritten näherte er sich der Tasche. Ein wütendes Lächeln verzerrte auf einmal sein Gesicht, als er nach ihr griff.
Er zog den Verschluss auf, spürte dabei, wie sich das feine, weiche Ziegenleder an seine Handflächen schmiegte. Robert fuhr mit den Fingern in den Beutel hinein, tastete mit den Fingerspitzen die Innenseite ab, bemerkte die Stellen, an denen das Leder nur fahrlässig appretiert worden war, und erschauderte voller Ekel. Als er die Hand wieder aus der Tiefe der Tasche zog, hatte sich die Schere eines Skorpions daran verfangen. Der Sektionsrat betrachtete das Tier mit einer Mischung aus Verblüffung und Unbehagen. Nur undeutlich konnte er den Ansatz des Vorderkörpers erkennen, während der zweigeteilte Hinterleib mit seiner schwanzartigen Verlängerung ihm offenkundig vor Augen trat. Robert hielt sich die Hand vor das Gesicht, beugte sich zu dem Tier vor, um es besser betrachten zu können, und sah die Kieferklauen in grotesker Vergrößerung vor sich.
Der Skorpion fixierte ihn mit seinem Augenpaar und der Sektionsrat fühlte immer stärker den Druck, den die Scheren an seinem Handballen verübten, bis ihm das Blut über die Handfläche rann und zu Boden tropfte. Ein schauerlicher Aufschrei, bar alles Menschlichen, entrang sich seiner Brust, als über den Kopf des Ungeheuers hinweg der Stachel zum Einsatz kam und sich in sein Fleisch bohrte. Alle entsetzlichen Eindrücke dieses Augenblicks durchwühlten Fichtners Geist, ließen ihn erstarren und geradewegs auf die Diele fallen. Es war ihm, als täte sich für einige Sekunden etwas vor ihm auf, ein Licht oder zumindest ein kleiner Funke, der seine Seele erhellte, doch dann herrschte nur noch eine tiefe und dunkle Finsternis um ihn herum. Ab und zu öffnete er noch die Augen und konnte beobachten, wie der muskulöse Schlund des Vieches wie eine Pumpe den breiigen Fetzen, der eben noch Haut, Sehnen und Fleisch an seinen Fingerknochen gewesen war, in den Magen saugte.
Als Robert Fichtner langsam erwachte, kam er noch ziemlich lange nicht zu vollem Bewusstsein. Erst nach zwei Stunden begann der Sektionsrat allmählich zu verstehen, dass er in seiner Wohnung nackt hingestreckt auf dem Boden lag, neben ihm eine Lache Erbrochenes, deren säuerlicher Geruch ihm in die Nase fuhr. Er hustete, kam mühsam auf die Beine, zog sich an und schleppte sich zum nächstbesten Sessel, in den er sich erschöpft fallen ließ.
Fichtners Blick schweifte durch den Salon. Keine Spur von einem Skorpion, auch keine Saffianbrieftasche. Einzig umgekippte Möbel und der Gestank von Tabak, Galle und halbverdauten Nahrungsresten. Durch die geöffneten Vorhänge drang die Helligkeit des neuen Tages, und das hereinfallende Licht ließ warm und belebend die Staubpartikel in der Luft tanzen.
Er hielt sich den Schädel, da dieser pochte, als ob man ihm mit einem Hammer gegen die Stirn geschlagen hätte, und verfluchte in einem geheiligten Zorn den Meraner Kurgast, der ihm die Pilze angedreht hatte. Darauf trottete er ins Badezimmer, wo er Wasser ins Lavabo einlaufen ließ und sich das Gesicht wusch. Als er sich gerade daranmachen wollte, den Unrat der vergangenen Nacht wegzukehren, vernahm Fichtner erneut ein Klingeln an der Haustür.
Erfüllt von melancholischen Gedanken schlurfte er zum Eingang.
»Robert?«, klang es dumpf durch das dicke Holz der Tür. »Robert Fichtner? Bist du da? Hier ist von Warnstedt. Mach auf, Robert, es ist wichtig!«
Wilhelms Blick hatte sich getrübt, seine Augen brannten. Ein heiseres Husten schüttelte ihn schmerzhaft und rief ein unangenehmes Stechen hervor. Seine Mitspieler erkannte er nur noch vage durch den rauchgeschwängerten Raum, der Alkohol hatte sich in seinem Kopf festgesetzt und den Körper in dichten Nebel gehüllt. Er rieb sich über die Stirn, betrachtete das Blatt, das er in der Hand hielt, und seufzte tief. Eine kleine Chance hatte er, eine winzig kleine – seine letzte.
Die Nacht war schon längst hereingebrochen. Die Petroleumlampe, an einer Kette über dem Tisch hängend, verströmte trübes Licht, die Schatten in den Ecken erschienen tief und unergründlich. Sie saßen alle schon seit Stunden in diesem engen, kleinen Zimmer, spielten, rauchten, tranken und sprachen wenig.
»Na, Wilhelm? Was ist? Setzt du was?«
Die Stimme klang wie aus weiter Ferne an sein Ohr. Er musste mitgehen, musste das bisschen Geld, das ihm noch übrig geblieben war, in die Mitte des dunklen, mit Flecken übersäten Tisches legen. Langsam hob er seinen Blick und sah Otto Schlözer, der ihm gegenübersaß, ins Gesicht. Es ekelte ihn vor der Feistigkeit, der Schwammigkeit, die er an diesem Menschen wahrnahm. Kleine, stechende Augen fixierten ihn, ein amüsiertes Lächeln umspielte dünne, von einem mächtigen gezwirbelten Schnauz verunstaltete Lippen, über die sich selten ein freundliches Wort verirrte.
Wilhelm Fichtners Hand zitterte, als er die letzten zerkratzten Kronen und einen stattlichen Wechsel nach vorn schob. Er nahm einen kräftigen Schluck aus seinem halb leeren Weinglas und spürte, wie die Flüssigkeit warm die Kehle hinunterrann und die Mattigkeit in seinen Gliedern verstärkte. Er wollte nach Hause, sehnte sich nach seinem Bett, nach Schlaf, nach Vergessen. Er wünschte sich das Ende des Spiels herbei, egal, wie es ausgehen mochte.
Gustav Wissel neben ihm, ein dünner, nervöser Mann mit einer kreisrunden Glatze, kicherte. »Wilhelm, Wilhelm, du lernst es nie! Gegen mich kannst du nicht gewinnen«, schnarrte er mit schriller Stimme und setzte einen für ihn beträchtlichen Betrag. Die Haarlosigkeit des Gesichtes von Gustav verstärkte den Eindruck der weichen Konturlosigkeit seines Körpers. Wilhelm spürte, wie sich kalter Schweiß auf seiner Stirn bildete. Unvermittelt fröstelte ihn, obwohl die Luft im Raum stickig und heiß war.
Die Tür hinter Fichtner öffnete sich knarzend und eine junge Frau, die Tochter ihres Gastgebers Schlözer, trat zu ihnen an den Tisch, um die Gläser nachzufüllen und nach weiteren Wünschen der Männer zu fragen. Ihre strähnigen Haare streiften kurz Wilhelms Schulter, als sie sich über ihn beugte, um ihm Wein einzuschenken. Er roch ihr aufdringliches Parfum, war sich ihrer schweren, ungewaschenen Brüste im Rücken bewusst und verspürte plötzlich den unbändigen Drang aufzustehen und aus dem Zimmer zu rennen. Übelkeit kroch in ihm hoch, sein Kopf pochte unerträglich. Er sagte sich, dass er unter keinen Umständen noch mehr Alkohol trinken durfte.
Otto Schlözer räusperte sich laut, legte seine Karten mit triumphierendem Grinsen vor sich hin und verschränkte siegesgewiss die Arme. Gustav kicherte erneut, diesmal völlig unkontrolliert und leicht hysterisch. Er zeigte sein Blatt und hob kurz die Schultern, wie um sich dafür zu entschuldigen, dass er nicht mithalten konnte. Der vierte Spieler, Kurt Leyser, ein besonnen wirkender, freundlicher Zeitgenosse, warf seine Spielkarten enttäuscht auf den Tisch.
Alle sahen zu Wilhelm, der mit großen Augen die Karten der anderen betrachtete, sein eigenes Blatt noch einmal studierte und dann langsam die Hand sinken ließ. In seinen Ohren begann es zu rauschen, er erhob sich und langte mit unsicherem Griff nach der Stuhllehne, um sich darauf abzustützen. Ohne ein Wort zu sagen, nahm er seinen Mantel, schlüpfte hinein und knöpfte ihn zu. Den Hut setzte er nicht auf, sondern drehte ihn erst ein paar Mal in den Händen, hob ihn dann kurz zum Gruß und verließ mit weichen Knien den Raum.
Wilhelm Fichtner hatte verloren; er war verloren.
Die Treppe zum Ausgang kam ihm unendlich lang und gefährlich steil vor. Er hangelte sich am Geländer nach unten und versuchte, die schwankende Umgebung gedanklich zum Stillstand zu bringen, doch es gelang ihm nicht. Oben öffnete sich nochmals die Tür zum Zimmer, das er soeben verlassen hatte, und Schlözer füllte mit seiner massigen Gestalt den Rahmen aus. Fichtner konnte nur dessen schwarze Silhouette erkennen, da das Licht von hinten an Otto vorbei in das dunkle Stiegenhaus drang.
»Wilhelm, vergiss deine Schulden nicht! Meine Geduld lässt sich nicht allzu lange strapazieren, hörst du?«
Der Verlierer reagierte nicht. Er hatte den Ausgang erreicht und trat ins Freie.
Wilhelm Fichtner fühlte sich wieder etwas nüchterner, als er an seinem Haus angekommen war und die wenigen Stufen zur Terrasse erklomm. Vielleicht würde er sogar imstande sein, einigermaßen würdevoll seiner Frau gegenüberzutreten, doch er vermutete, dass sich Lina sowieso schon längst zu Bett begeben hatte. Die Turmuhr schlug eins und Wilhelm hoffte, noch ein paar Stunden schlafen zu können. Mit gerunzelter Stirn nahm er wahr, dass die Farbe an der massiven Eingangstür abblätterte, und er fragte sich, warum ihm dieser Umstand gerade jetzt auffiel. Er strich mit der Fingerspitze über die raue Stelle und zuckte kurz zusammen, als ein Splitter in sein Fleisch drang. Seine andere Hand lag auf der Türklinke, doch er brachte es noch nicht über sich, sie hinunterzudrücken. Er dachte an seinen Bruder Robert, der den Brief inzwischen erhalten haben musste. Konnte dieser ihm helfen? War er überhaupt bereit dazu, nach allem, was geschehen war?
Wilhelm sog die kühle Nachtluft tief ein und öffnete die Tür. Stille und Dunkelheit empfingen ihn; von Lina war nichts zu hören. Er wollte kein Licht machen und tappte daher mit ausgestreckten Armen in Richtung Treppe, die in den oberen Stock führte. Endlich erreichte er das Geländer, das leicht wackelte, als er es berührte. Fichtner folgte der geschwungenen Linie und schritt Stufe für Stufe vorsichtig in die Höhe. Als die vorletzte erwartungsgemäß ihr lautes, hallendes Geräusch von sich gab, als er auf sie trat, hielt er inne und horchte. Doch nichts rührte sich in dem weitläufigen Haus. Wilhelm erschien es, als sei es leer, ganz ohne Leben, ohne Körper, ohne Seele. Ohne Lina. Er schüttelte das Gefühl ab, betrat den Korridor und folgte ihm bis zu seinem Schlafzimmer, das er schon seit Monaten nicht mehr mit seiner Frau teilte.
Nachdem Fichtner ein Licht entzündet hatte, öffnete er eines der hohen Fenster, ließ sich in einen Sessel fallen, in dem er augenblicklich tief versank, und starrte an die gegenüberliegende Wand. Auch hier waren die Spuren der Zeit zu sehen; die Bahn einer Tapete löste sich unterhalb der Decke, ein Fetzen fiel schräg ins Zimmer und warf einen Schatten über Linas Porträt, das sie in jungen Jahren zeigte. Ihr Gesicht, ihre ganze Gestalt strahlte auf dem Bild, ihr Lächeln zog jeden in seinen Bann und ließ die Augen sekundenlang auf ihrem Leib verharren, der Gesundheit und Lebensfreude verkörperte. Wilhelm stand auf, zog den losen Teil der Tapete noch mehr herunter und bedeckte damit seine Frau, deren Anblick er nicht mehr ertrug, obwohl er sie abgöttisch liebte.
Kalter Wind fuhr ins Zimmer, bauschte die Vorhänge und ließ die Läden klappern. Wilhelm schloss das Fenster und setzte sich auf den Stuhl hinter seinem Schreibtisch. Eigentlich hatte er schlafen wollen, doch die Müdigkeit war verflogen und er wusste, dass er sich nach dem Hinlegen nur stundenlang unruhig im Bett wälzen würde. Er nahm ein Blatt Papier und dachte nach.
Das knarrende Geräusch der vorletzten Stufe ließ ihn auffahren. War seine Frau aufgestanden? Konnte auch sie keinen Schlaf finden?
»Lina?« Wilhelms Stimme klang heiser; das lange Sitzen im Rauch hatte ihr die Kraft genommen. Die Stille, die folgte, war schon fast körperlich spürbar. Nichts. Keine Antwort, keine hörbaren Bewegungen drangen an sein Ohr. Er zuckte die Schultern und schaute wieder auf das leere Blatt vor sich.
Nach einigen Minuten vernahm er leise Schritte vor seiner Tür. »Lina?«, rief er erneut, diesmal lauter und kräftiger. Wilhelm wollte gerade aufstehen und nachsehen, als sich die Türklinke langsam senkte. Er hielt den Atem an und flüsterte noch einmal hoffnungsvoll den Namen seiner Frau. Eine Gestalt wurde in der Zimmeröffnung sichtbar. Langsam hob diese den Arm, und mit Entsetzen nahm Wilhelm die Waffe wahr, die auf ihn zielte und deren Metall im Licht blitzte. Im nächsten Moment durchbrach der Knall eines Schusses die Ruhe des Hauses.
Eine Stunde später betrachtete Lina Fichtner den toten Körper ihres Ehemannes. Sie kniete sich neben der Leiche nieder, deren Kopf auf die Tischplatte gesunken war. Mit den Fingerspitzen berührte sie sachte das weich wirkende Gesicht, das ihr eigentlich so vertraut, nun jedoch auch völlig fremd vorkam. Nur langsam konnte sie die Augen wieder von dem Toten lösen und sich von der Blutlache am Boden und dem starren, leblosen Blick entfernen, vor dem sie sich plötzlich zu fürchten begann.
Mit zitternder Hand griff sie schließlich zum Telefon und verlangte die Nummer der Polizei.
Die Wolken am Himmel hatten sich kurzfristig gelichtet, und das blasse Licht des Mondes erhellte zaghaft den Baum mit den ausladenden und blätterlosen Ästen vor dem Fenster der k. k. Gendarmerie Wien. Cyprian von Warnstedt lehnte sich im Stuhl zurück und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. Missmutig dachte er an Katharina, seine Verlobte, die vor drei Monaten am Münchner Konservatorium eine Stelle angenommen hatte. Er vermisste ihre burschikose Art und ihr Lächeln, das ihn vor vier Jahren noch so um den Finger gewickelt hatte, dass sie gemeinsam öffentlich bekannt gegeben hatten, den Bund fürs Leben eingehen zu wollen. Seither war jedoch viel Wasser die Donau hinabgeflossen und Warnstedt war noch immer nicht getraut. Um auf andere Gedanken zu kommen, hatte er angefangen, die Nachtschichten zu übernehmen, war mal hier für einen Kollegen eingesprungen, hatte mal dort ein paar Stunden abgetauscht. Doch die Arbeit machte ihn ausgesprochen schläfrig.
Seine Augen drohten gerade zuzufallen, als im Nebenzimmer wütend ein Mann aufschrie und den Beamten, der sich mit ihm befasste, mit wüsten Beschimpfungen überhäufte. Seit vor wenigen Wochen an der Elisabethpromenade mit dem längst überfälligen Bau des neuen Polizeigebäudes begonnen worden war, gestaltete sich der Arbeitsalltag mühsamer als sonst. Das alte Hauptquartier platzte längst aus allen Nähten und die beengten Platzverhältnisse ließen in dieser Zeit des Umbruchs alles drunter und drüber gehen. Durch eine bürokratische Fehlplanung hatten sich bereits andere Ministerien provisorisch bei ihnen eingenistet. Daher teilten sich Sicherheitswache und Kriminalpolizei einige Räumlichkeiten, und Erkennungsdienst und Fahndung wetteiferten um die bestmögliche Flächenzuordnung. Seufzend stand der Inspektor auf, streckte seine Glieder, die dabei bedrohlich knackten, und begab sich in den angrenzenden Raum.
Dass man das Morddezernat mit der gewöhnlichen Zivilfahndung in ein und dieselbe Abteilung gepfercht hatte, ärgerte ihn ungemein. Warnstedt gab sich der Hoffnung hin, dass die horrende Summe von drei Millionen Kronen, die der Steuerzahler für die neue Einrichtung zu berappen hatte, wohl ihr Geld wert sein würde. Von diesen Gedanken erfüllt, bekam er eben noch mit, wie ein kürzlich gefasster Einbrecher sich äußerst renitent verhielt. Der Mann war außer sich, brüllte und verwarf wild gestikulierend die Arme. »Fassen Sie mich nicht an, hören Sie? Sie greifen mir nicht ans Ohr! Nicht ans Ohr!« Der Beamte, der Cyprians Anwesenheit bemerkt hatte, schaute ihn Hilfe suchend an und zuckte entschuldigend mit den Achseln. In der einen Hand hielt er einen phrenologischen Messschieber, mit der anderen versuchte er, beruhigend auf den Langfinger einzuwirken, der sich inzwischen sogar erhoben hatte. »Sie Rabenbratel«, fluchte der Aufsässige, »hängen sollte man Sie!«
Warnstedt platzte der Kragen. Immer dieses Gesindel, dieses Lumpenpack, das ihn bei der Arbeit störte. Er schritt auf den Mann zu, packte ihn am Arm und drückte ihn zurück auf den Stuhl. Mit eisernem Griff umklammerte der Inspektor die Schultern des Diebes und zischte: »So, und jetzt zum letzten Mal: Wir müssen Ihre Maße nehmen, ob es Ihnen passt oder nicht.«
Der andere Polizist, mittlerweile wieder etwas selbstbewusster, fügte hinzu: »Etwa die Hälfte haben wir ja schon; es geht nur noch um Länge und Breite Ihres Ohrs und um die Länge des Fußes, zweier Finger und des Unterarmes. Meinen Sie, Sie schaffen das, ohne erneut auszurasten? Ansonsten sehen wir uns gezwungen, Sie festzubinden.«
Cyprian fixierte die Augen des schmächtigen Mannes, dessen Schulterknochen sich in seine Handflächen bohrten. Der Einbrecher senkte den Blick, spuckte aus, wobei er nur knapp einen weiteren Beamten verfehlte, der am Schreibtisch das Protokoll verfasste, und nickte kurz.
»Gut.«
Warnstedt lockerte seinen Griff und richtete sich auf. »Ich brauche einen Kaffee. Wer möchte ebenfalls einen?« Die zwei Mitarbeiter bejahten erfreut und machten sich wieder daran, die anthropometrischen Daten des Verbrechers zu erfassen.
Der Inspektor zog sich in sein Büro zurück, in dem die Kanne mit dem stärkenden Getränk stand, und füllte drei Tassen. Das Klingeln des Telefons unterbrach ihn dabei. Er hob den Hörer von der Gabel und meldete sich.
»Es tut mir leid, Sie zu so später Stunde noch zu stören«, hörte er die nur mühsam beherrschte, jedoch trotzdem erstaunlich klare Stimme einer Frau, »aber mein Mann … Es geht um meinen Mann.«
»Was ist mit Ihrem Mann? Ist ihm etwas passiert?« Warnstedt dachte gerade noch, dass die Anruferin hoffentlich nicht in Tränen ausbrechen werde, als es auch schon geschah und ein hemmungsloses Schluchzen an sein Ohr drang. Trotz seiner vielen Jahre bei der Gendarmerie fühlte er sich immer noch hilflos und unsicher im Umgang mit weinenden Damen.
»Er – er hat sich umgebracht. Er ist tot! Bitte kommen Sie. Schnell.«
Der Inspektor räusperte sich und erkundigte sich nach ihrem Namen.
»Lina Fichtner.«
Sie gab ihm ihre Adresse an, und Cyprian versicherte ihr, in wenigen Minuten dort zu sein.
Schnellen Schrittes und in Begleitung von zwei Beamten näherte sich der Inspektor dem dunklen Herrenhaus, dessen hohe, schmale Türmchen wie Stacheln in die Höhe ragten und die Wolken, die sich wieder zu einer schwarzen Decke zusammengeballt hatten, anzukratzen schienen. Lediglich aus einem Fenster im ersten Stock drang ein Streifen Licht nach draußen, ansonsten lag das Anwesen in Stille und Finsternis gehüllt da. Die drei Polizisten öffneten das schmiedeeiserne quietschende Tor, das in die mit Efeu und Clematis überwucherte Mauer eingelassen war, überquerten den Kiesweg und stiegen die Stufen zur Terrasse hinauf. Warnstedt zuckte kurz zusammen, als ein Igel wie ein kleines Kind zu fiepen begann und von raschelnden Geräuschen begleitet unter einem Busch hervortapste. Der Inspektor betrachtete das Tier, wandte sich jedoch wieder ab, als ihn Oskar Werlhoff, einer der Beamten, auf die Schulter tippte, und zog ruckartig an der Klingel. Ein heller Klang ertönte, der sich im Innern des Hauses hundertfach zu wiederholen schien und schließlich hallend verstummte.
Nach geraumer Zeit sahen die Polizisten das Licht im Erdgeschoss angehen. Sie vernahmen leise Schritte, die sich der Tür näherten, deren Klinke schließlich heruntergedrückt wurde. Eine hübsche Frau mit verquollenen Augen stand vor ihnen.